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Oben auf einem hohen und freien Berge liegt das Adelsstädtchen San Gemignano mit den schönen Türmen, ungefähr dort, wo die Gebiete von Florenz und Siena einander berührten. Hier ragten innerhalb der Stadtmauern, welche etwa dreitausend Menschen umfassen mochten, siebzig graue viereckige Türme, aus schweren Quadern erbaut, an den Giebeln fester Ritterhäuser mit spitzigen Dächern in den leuchtenden Himmel, mit zackigen Zinnen alle, und viele mit einem schweren Wehrgang, der auf gemauerten Halbbogen oben weit auslud über die senkrechten, unerschütterlichen, wie zu einem Stück gegossenen Mauern. Die mit schweren und großen Steinplatten gepflasterten Straßen waren eng, so daß ein Knecht mit quergehaltenem Speer die gegenüberliegenden Häuser ober Türme berühren konnte. Viele, viele Meilen weit sah man auf dem Gipfel des Berges die schweren himmeltrotzenden Türme aufsteigen und weit ins Land hinein blickte man von diesen wuchtigen Zinnen und felsenhaften Wehrgängen, die auf so engem Raume beieinander in der freien Luft waren, daß Leute, auf den entferntesten stehend, sich mit der Stimme erreichen konnten, auf vielen sich in gewöhnlichem Ton zu besprechen vermochten, wenn sie anders sich freundlich gesinnt waren, und nicht an Armbrustschüsse zwischen nahe gesehene Augenbrauen dachten, und an brennende Fackeln, auf Dächer geschleudert, die wenige Schritte entfernt unter ihnen abfielen.
Vor langen Zeiten hatten die Geschlechter, denen das Land gehörte, hier oben diese Stadtmauer gebaut für alle, und Brunnen gegraben, die Befreundeten zusammen, und die festen Häuser erhoben mit den rechtwinkligen starken Türmen, ein jedes für sich; und um den Trotz nicht in den Himmel wachsen zu lassen, hatten sie am Haus der Gemeinde einen Turm errichtet, welcher das höchste Maß sein sollte, das kein anderer übertreffen durfte. Und in den Häusern lebten die Geschlechter; da waren eisengepanzerte Herren, deren Rosse Funken schlugen auf den Steinplatten der engen Straßen und einen lauten Widerhall erweckten, und die von diesen Türmen ausschauten nach ihrem Landhaus in der Mitte ihrer Besitzungen, wo fleißige und treue Bauern für sie ernteten und kelterten, zarte Damen, welche in kühlen Zimmern saßen innerhalb der dicken Mauern hinter dem Webstuhl, Mägden befahlen und von Turnieren träumten, und wackeres Gefolge, welches an warmen Sommerabenden auf den Straßen stand oder in den Loggien oder auf dem Marktplatz, schwatzend, lachend, und mit den Waffen klirrend und sich gegenseitig höhnend.
Denn auch hier war es so gekommen, daß sich zwei Parteien gebildet hatten, welche sich auf den Tod bekämpften und seit mehr als einem Jahrhundert in nicht unterbrochener Blutfehde lebten. Das Haupt der einen Partei waren die Salvucci, die andern wurden von den Ardinghelli angeführt. Viele offene und geheime Mordtaten waren schon geschehen, Brandstiftungen und Plünderungen, und ein Haß war zwischen den beiden Familien und ihrem Anhang, wie die Menschen ihn nur zu diesen Zeiten in ihrer Seele gebildet haben.
Bei solchen Umständen erwuchs im Hause der Salvucci eine Tochter, namens Lionora, zu der Blüte von dreizehn Jahren. Zu dieser faßte ein reisiger Knecht ihres Geschlechtes eine heftige Zuneigung. Da er aber ein ehrenhafter Mann war und wohl wußte, daß es sich für ihn nicht ziemte, seine Augen zu der Tochter seiner Herren zu erheben, so verschloß er diese Leidenschaft lange in sich. Indessen konnte er sich doch nicht so bezwingen, daß die junge Herrin den Zustand seiner Seele nicht verspürt hätte. Deshalb wurde sie eine lange Zeit nachdenklich, faßte sich am Ende ein Herz, und sprach zu ihm folgendermaßen:
»Du hast zwar tapfern Herzens versucht, dich zu verstellen, damit ich die Gesinnung nicht spüren sollte, welche du gegen mich hast; trotzdem aber habe ich wohl bemerkt, welche Gedanken du in dir bewegst. Zuerst war ich darüber verstört und gekränkt, denn ich bin, wie du wohl weißt, vornehmen Blutes, und Adelig und Gemein paaren sich nicht. Aber dann bedachte ich, daß wir nicht Herrn unseres Herzens sind, sondern wohin unser Herz will, dahin müssen wir uns wenden mit Liebe oder Haß; aber wir sind Herrn unseres Willens. Deshalb könnte ich dir wohl einen Vorwurf machen, wenn du einen unziemlichen Willen gehabt hättest und etwa der Meinung gewesen wärest, mich zum Weibe zu gewinnen; da das aber nicht war, du vielmehr dich redlich bemühtest, deine Liebe zu unterdrücken und zu verbergen, so kann ich dir gerechter Weise nicht zürnen. Ja, indem ich weiter nachdachte, fand ich, daß ich mich deiner Liebe sogar freuen kann. Denn ich weiß wohl, daß du ein edles und stolzes Herz hast; und nun haben wir zwar unsere Geburt ohne unser Zutun und können uns deren nicht rühmen; unsere Sinn aber schaffen wir uns selbst, und deshalb ist ein edles und stolzes Herz ein großer Ruhm. Ich aber, wenn mich ein solcher Mann liebt und wohl weiß, daß meine vornehme Herkunft mich zu hoch stellt für ihn, muß doch, auch ohne diese Herkunft eine Würdigkeit haben, durch welche ich solche Liebe verdiene; an welcher Würdigkeit ich oftmals gezweifelt habe, wenn ich von dem Heldenmut und der Größe meiner Vorfahren hörte, welche mir alles Gegenwärtige weit zu übertreffen schienen. Aus solcher Überlegung heraus sage ich dir, daß ich deine Liebe annehmen will, wenn sie weiterhin in ihrer Bescheidenheit verbleibt, und ich hingegen will dich lieben und vertrauen, wie einem leiblichen Bruder; will auch kein Geheimnis vor dir haben: und wenn es Gott fügen sollte, daß mein Herz sich in Liebe einem vornehmen Jüngling zuwendet, welcher meines Standes ist und gleichfalls seine Liebe auf mich richtet, so will ich das niemandem früher sagen als dir, auch nicht meinen Eltern und Blutsfreunden; denn solches verdienst du durch deine Ehrbarkeit und Treue.« Hierauf kniete der Knecht vor ihr nieder und dankte für ihre Huld, versprach auch, daß er sich immer so führen werde, daß er derselben würdig verbleibe.
Nun wuchs zu dieser Zeit im Geschlecht der Ardinghelli ein Jüngling auf, welcher mit allen ritterlichen Tugenden geziert war, und dazu hatte er eine große und zärtliche Schönheit. Dieser erblickte am Feste des heiligen Patrons der Stadt im Dom Lionora zwischen ihren Verwandten, ihr Antlitz war in der gleichen Höhe wie das starre Gesicht der Madonna auf der großen Tafel von Meister Lorenzetti, welche so schmerzvoll süße Augen unter breiten Wimpern hat und einen so tief heimlichen Zug des Leidens um den kaum bewegten Mund. Und auch Lionora spürte den Pfeil des Liebesgottes in ihrem Herzen, denn Amor wollte, daß sich ihr rascher Blick kreuzte mit dem sehnsüchtigen Anschauen des Jacopo. Als aber die Feier beendet war und die Frommen den Dom verlassen hatten, sah Jacopo neben dem Bild der Madonna eine der weißen Blumen liegen auf dem Marmorboden, deren einen Kranz die holdselig lächelnde Lionora getragen.
Die Türme der Häuser Lionoras und Jacopos waren von der gleichen Höhe, und die höchsten nach dem Turm des Gemeindehauses, dem sie nur um einen halben Schuh nachstanden; das hatte die Eifersucht der beiden Familien so gewollt. Sie erhoben sich in rechter Entfernung voneinander, durch die Breite des Marktplatzes geschieden. Zu dieser Zeit nun hatte Lionora die Gewohnheit angenommen, des Abends in der Kühle oben neben dem alten Knecht zu sitzen, der hier Wache hielt, in dem engen viereckigen, felsenumzogenen Raum, über welchem die stille Mondkugel schwebte. Jacopo hatte von seinem Turm aus ihr helles Haar neben einem der alten Steinblöcke gesehen, welche den Zinnenkranz bildeten. Deshalb, da er keinen andern Weg sah, ihr eine Mitteilung zu machen, stellte er jeden Abend einen großen Strauß jener weißen Blumen in eine Lücke seines Mauerkranzes, wo sie ihn erblicken mußte, wenn sie hinübersah. So tat er viele Wochen; und geduldig harrte er auf der engen Höhe des Turmes unter dem dunkelblauen Himmel und dem langsamen Umkreisen der Sterne. Am Ende aber erblickte er eines Abends auf Lionoras Turm an der entsprechenden Stelle zwei oder drei derselben Blümchen liegend; und jeden Abend wurden die erneuert, und oft sah er ihr zartes Gesicht von der Seite, mit gesenkten Wimpern und langfließendem Blondhaar, wie sie die Blümchen an ihren Ort legte.
Lionora aber erinnerte sich ihres Versprechens, erstieg an einem Abend mit ihrem treuen Knecht den Turm, und nachdem sie den Wärter hinabgeschickt, begann sie zu ihm folgendermaßen:
»Ich habe dir aus freiem Willen versprochen, zum Lohn für deine keusche und bescheidene Liebe, dir als erstem anzuvertrauen, wenn das erwünschte Glück sich mir nahte, daß ich Liebe faßte zu einem Mann, welcher mich als Gattin heimführte in sein Haus. Deshalb will ich dir auch so mein Geheimgehaltenes sagen, wiewohl zu meinem großen Unglück und Leiden der Liebesgott an mein Herz gerührt hat. Denn meine Gedanken haben sich zu Jacopo gewendet, welcher doch ein Feind unseres Hauses ist und nach Billigkeit von mir gehaßt werden müßte. Auch habe ich ihm geantwortet auf ein Zeichen seiner Liebe, jedoch mit großer Bekümmernis und Pein, denn ich weiß gewiß, daß unser beider Liebe nie zu ihrem erwünschten Ende kommen wird, vielmehr viel Blut und Jammer erzeugen.«
Der fromme Knecht erschrak, als er diese Rede hörte, und erwiderte:
»Wollte Gott, das blinde Schicksal hätte eurem Herzen eine Neigung eingegeben, der ihr folgen könntet, und ich dachte, mich von eurem Vater, meinem Herrn, loszubitten, daß ich dann eurem Manne diente. Nun aber sehe ich keinen Ausweg, denn ich weiß wohl, daß die schreckliche Macht der Liebe unüberwindlich ist und ein heftigeres Wüten zeigt in den Herzen der Vornehmen, welche gewohnt sind, nach ihrem Willen zu befehlen, denn eines Knechtes, der gelernt hat zu gehorchen und seinen Willen in eines andern Hand zu ergeben.«
Hierauf sprach Lionora, und Tränen erfüllten ihre klaren leuchtenden Augen: »Ich gedenke nicht in Zügellosigkeit zu verfallen, denn nur die gemeinen Seelen streben nach Glück, sondern will in ein Kloster frommer Nonnen gehen und da meine Tage beschließen, weil ich meinen Jacopo nie werde ehelichen können und nicht mag eines andern Weib sein. Aber ich habe noch nie seine Stimme gehört, sondern nur sein stummes Bild gesehen vom weiten im Dom und unter dem Himmel. Deshalb will ich einmal mit ihm zusammen sein, damit ich weiß, welchen Klang seine Stimme hat; denn ich kenne seine Gestalt und seine Haare, und die Farbe seiner Augen und sein ganzes Gesicht, und seine Haltung, Gang und Tritt, und alles steht mir lebendig vor Augen, und wenn ich den süßen Ton seiner Stimme gehört habe, so werde ich den im Herzen behalten, und so wird er in meiner Erinnerung mir immer nahe sein, und wenn ich will, kann ich in meiner Phantasie mit ihm sprechen und Rede und Antwort führen. Zu dieser Zusammenkunft aber sollst du mir helfen.« Indem beugte sich der Knecht vor und wies mit dem Finger auf ein Paar, welches aus dem Hause der Ardinghelli dem Dome zuschritt; und siehe, es war Jacopo mit einer Verwandten, einer schönen und berühmten Dame; und die beiden schienen in einem sehr eifrigen und nahen Gespräch zu sein; ja, der Ritter nahm zärtlich die Hand der Dame und führte sie an die Lippen.
Da wurde das Herz Lionoras von einem ganz plötzlichen Schmerz durchbohrt. Sie kniete in der Lücke, wo ihre Blumen lagen, und verfolgte mit angstvollen Augen die beiden; als aber Jacopo die Hand der Dame ergriff zum Küssen, schrie sie mit durchdringender Stimme: »Jacopo, lieber Jacopo« und warf sich von dem himmelhohen Turm herab, ihm entgegen. Ihr helles Haar flog wie ein langer Streifen hinter ihr, wie sie fiel. Jacopo hatte den Schrei in der hohen Luft nicht gehört; vor ihm nieder stürzte plötzlich Lionora; eben wendete er sich von der Dame, denn er hatte sich von ihr verabschiedet. Der treue Knecht erwog bei sich, was er denen, welche ihn befragten, antworten solle über die Ursache von Lionoras Sturz. Wenn er ihren Leuten alles der Wahrheit gemäß erzählte, so würde er sie in ein übles Gerücht bringen, daß sie die Liebe machte mit einem Feinde ihres Geschlechtes; aber er wünschte doch auch, daß ihr Tod gerächt werde an Jacopo, welcher ihn verschuldet hatte, wiewohl er in Wirklichkeit kein Treuloser war. Am Ende faßte er den Entschluß, seine Kenntnis zu verschweigen und hoffte bei sich, daß dann die Rache ihm verbleiben werde.
So erzählte er eine schnell erfundene Geschichte, Lionora habe sich spielend auf die Zinne gesetzt und sich aus Neugierde zu weit nach vorn übergebeugt, wodurch sie den Halt verloren habe und gefallen sei. Dies wurde auch geglaubt, unter großem Jammern der Eltern und vielen Vorwürfen wider ihn, daß er zu nachlässig auf so kostbares Gut geachtet habe; ein Vetter bedrohte ihn selbst mit dem Tode; welches alles er jedoch ruhig und ohne Widerrede ertrug.
Nun hielt er seine Waffen bereit, um Herrn Jacopo zu erstechen, wenn er ihn bei günstiger Zeit treffen würde. Indessen änderte er seinen Plan über folgendes.
Herr Jacopo ließ ihm heimlich bestellen, er möchte zu einem verborgenen Zusammensein mit ihm kommen, weil er ihn um etwas fragen wolle, welches jedoch seine schuldige Treue wider seine Herren in nichts berühren werde. Bei dieser Zusammenkunft nun erschien Herr Jacopo derart blaß, abgemagert und jämmerlich, daß ihn auch sein Feind nicht wieder erkannt hätte. Er seufzte tief und fragte den Diener nach einer genauen Beschreibung des Unglücks. Da ward diesem klar, daß durch einen schnellen Tod dem Herrn nur gedient sei, und daß es viel besser wäre, ihn in seinem elenden Leben zu lassen, ja, ihm dasselbe noch elender zu machen durch Vorwürfe und Anklagen (durch welchen Plan er seine knechtische Gesinnung bewies); denn noch war Herrn Jacopo ja unbewußt, daß er selbst die Ursache für den schrecklichen Tod seiner vielgeliebten Lionora sei.
Deshalb begann der Knecht nun alles zu erzählen von Anfang an, rühmte die Tugend, Lieblichkeit und Stolz seiner Herrin und ihre große Güte, berichtete auch genau, was sie zu ihm selbst gesprochen, weil er sie liebte. Über diese Erzählung vergoß der Ritter viele heiße Tränen, drückte dem Knecht die Hand, und küßte ihn auf den Mund. Dann fuhr dieser fort, wie sie mit ihm auf den Turm gegangen und den alten Wärter fortgeschickt, weil sie ihm ihr Geheimnis anvertrauen wollte, und wie sie dann alles erzählt hatte, von der Begegnung im Dom, und von den weißen Blumen, und daß sie ihn, den Ritter Jacopo, über alles liebte in der Welt, und wie sie wohl einsah, daß sie sich nie vermählen konnten; aber sie wollte ihren Leib keinem andern geben, vielmehr in ein Kloster gehen; vorher aber in einer Nacht insgeheim mit ihm zusammenkommen, um seine Stimme zu hören als eine Erinnerung für ihre alten Jahre, wenn sie eine graue Nonne sein würde. Dies rührte den Ritter so ans Herz, daß er ohnmächtig umsank, und der Knappe richtete ihn auf, half ihm und brachte ihn wieder zu sich, daß er mit matter Stimme befehlen konnte, er solle weiter erzählen. Der Knecht fuhr fort, daß sie in dem Augenblick habe ihn aus dem Hause treten sehen und zärtlich sprechen mit einer fremden Dame; da habe ihr plötzlich ein großer Schmerz den Verstand verwirrt, und sie habe seinen Namen ausgerufen und sei hinabgesprungen. Diese Erzählung trug der Ritter so lange mit sich herum, bis er in eine gefährliche Krankheit verfiel, in welcher er ohne Bewußtsein viele verzweifelte und liebevolle Reden führte. Nach manchen Monaten genas er wieder, da hatte er aber bei seinen achtzehn Jahren ganz weiße Haare bekommen. Wohl war nun der heftige Schmerz von ihm gewichen, aber er konnte sich an nichts mehr freuen, vielmehr wunderte er sich über alle Menschen, daß sie doch gern lebten, und alles kam ihm sinnlos vor. Viele redeten ihm zu, bei solcher Gemütsbeschaffenheit solle er in ein Kloster gehen und dort für seine Freunde und Verwandten beten, aber dann machte er nur traurige Augen und schüttelte den Kopf. So lebte er in schwächlicher Körperbeschaffenheit noch wenige Jahre, bis er sich ganz aufgezehrt hatte, und da ist sein Leben ruhig erloschen.