Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15.

In einem großen, hallenartigen, rings auf Pfeilern ruhenden Schuppen kam ich wieder zu mir. Irgend Jemand gab mir Wein und Wasser zu trinken, was ich sehr gut fand. Als ich die Augen aufschlug, erblickte ich einen alten Soldaten mit grauem Schnurrbart, der mir den Kopf aufhob und mir das Trinkgeschirr an die Lippen hielt.

»Nun?« sagte er gutmüthig ... »es geht besser?«

Ich lächelte ihm bei dem Gedanken, daß ich noch am Leben wäre, unwillkürlich zu. Brust und linke Schulter lagen in einem festen Verbande. Ich spürte wohl ein Brennen an jenen Stellen, aber das war mir gleichgültig – ich lebte.

Zunächst begann ich die dicken Balken zu betrachten, die sich oben mit einander kreuzten, und die Dachziegel, die an mehr als einer Stelle das Tageslicht hindurchließen. Nach einigen Minuten wandte ich dann den Kopf und erkannte, daß ich in einem jener geräumigen Schuppen lag, in denen die Brauer jener Gegend ihre Bottiche und Wagen unterzubringen pflegen. Rings herum auf Matratzen und Stroh lag eine große Menge von Verwundeten, und ungefähr im Mittelpunkte des Ganzen war ein Stabsarzt mit zwei Gehilfen, Alle mit zurückgestreiften Hemdsärmeln, beschäftigt, Jemandem auf einem großen Küchentische ein Bein abzunehmen. Der Verwundete stöhnte. Hinter ihnen lag ein Haufen abgeschnittener Arme und Beine – man mag sich nun vorstellen, was für Gedanken mir bei diesem Anblick durch den Kopf fuhren.

Fünf oder sechs Infanterie-Soldaten gaben den Verwundeten zu trinken und hatten zu diesem Zwecke Krüge und Becher.

Am meisten Eindruck aber machte der Stabsarzt auf mich mit seinen aufgestreiften Hemdsärmeln, der, ohne auf die Klagelaute zu achten, drauf los schnitt. Er hatte eine große Nase und eingefallene Backen und ereiferte sich alle Augenblicke gegen seine Gehilfen, die ihm nicht schnell genug die Messer, Pincetten, Charpie und Leinenstücke hinreichten oder nicht sofort mit dem Schwamme das Blut aufwischten. Dessenungeachtet ging es nicht übel, denn in weniger als einer Viertelstunde hatten sie bereits zwei Beine abgeschnitten.

Draußen an den Pfeilern hielt ein großer Wagen voll Stroh.

Als man eben einen russischen Carabinier von mindestens sechs Fuß Länge, dem hinter dem Ohr eine Kugel in den Kopf gefahren war, auf den Tisch gelegt hatte und der Chirurg die kleinen Messer verlangte, um irgend eine Operation an ihm vorzunehmen, ging vor dem Schuppen ein Anderer, ein Stabsarzt von der Kavallerie, ein kurzer, dicker, blatternarbiger Mann vorüber. Er hielt eine Brieftasche unter dem Arm und stand in der Nähe des Wagens still.

»He! Forel!« rief er in heiterm Tone.

»Sieh da, Sie sind's, Duchene,« antwortete unser Arzt, indem er sich umdrehte. – »Wieviel Verwundete?«

»Siebzehn bis achtzehn Tausend.«

»Alle Wetter! – Nun, geht's gut heute Morgen?«

»Allerdings. Ich bin gerade dabei, eine Schenke zu suchen.«

Unser Stabsarzt trat nun aus dem Schuppen, um seinem Kollegen die Hand zu drücken, und beide begannen ruhig zu plaudern, während die Assistenz-Aerzte einen Schluck Wein tranken und der Russe verzweiflungsvoll die Augen rollte.

»Da, Duchene, Sie brauchen nur die Straße hinunterzugehen ... dem Brunnen gegenüber ... sehen Sie?«

»Ganz wohl!«

»Gerade gegenüber werden Sie die Schenke finden.«

»Ah! Gut ... Danke schön! ... Ich mache mich davon!« Der andere Stabsarzt ging darauf weg, und der unsere rief ihm nach:

»Guten Appetit, Duchene!«

Dann kehrte er zu seinem Russen zurück, der auf ihn wartete, und begann damit, daß er ihm den Hals vom Nacken herum bis zur Schulter aufschnitt. Er operirte mit dem Ausdruck schlechter Laune im Gesichte, indem er zu den beiden Assistenten sagte:

»Schnell doch, meine Herrn, schnell!«

Wie man sich vorstellen kann, stöhnte der Russe. Aber der Arzt achtete nicht darauf, legte ihm zum Schlusse, während er eine Kugel auf den Boden warf, einen Verband an und rief:

»Schafft ihn fort!«

Der Russe wurde vom Tisch heruntergehoben, die Soldaten betteten ihn auf eine Schütte Stroh neben die Uebrigen, und der Nächste kam an die Reihe.

Ich hätte nie geglaubt, daß dergleichen in der Welt geschehen könne, aber ich sah noch ganz andere Dinge, an die ich ewig denken werde.

Fünf oder sechs Strohsäcke von dem meinen saß ein alter Korporal mit bandagirtem Fuße. Er blinzelte mit den Augen und sagte zu seinem Nachbar, dem man eben den Arm abgenommen hatte:

»Rekrut, schau ein wenig auf den Haufen da – ich wette, du erkennst deinen Arm nicht wieder.«

Der Andere, der todtenblaß war, aber doch den größten Muth gezeigt hatte, sah hin und verlor fast im selben Augenblicke die Besinnung.

Der Korporal brach darauf in ein Gelächter aus und bemerkte:

»Er hat ihn schließlich doch erkannt ... Es ist der da hinten mit dein kleinen, blauen Mal ... Das bringt immer dieselbe Wirkung hervor.« Er bewunderte sich selbst, daß er diese Entdeckung gemacht habe, aber Niemand lachte mit.

Alle Augenblicke riefen die Verwundeten:

»Zu trinken!«

Wenn einer anfing, folgten alle andern seinem Beispiel. Der alte Soldat hatte ohne Zweifel Zuneigung zu mir gefaßt, denn beim Vorübergehen hielt er mir jedes Mal den Becher hin.

Ich blieb nicht länger als eine Stunde in dem Schuppen. Hinter dem ersten Wagen hatten sich ein Dutzend andere mit breiten Leitern aufgestellt. Landleute aus der Gegend mit Sammtkitteln und breiten, schwarzen Filzhüten warteten, die Peitsche auf der Schulter und ihre Pferde am Zügel haltend, auf die Abfahrt. Bald traf ein Piquet Husaren ein, der Unterofficier sprang vom Pferde, trat in den Schuppen und sagte:

»Entschuldigen Sie, Herr Stabsarzt, aber hier ist eine Ordre, zwölf Wagen mit Verwundeten nach Lützen zu escortiren – werden sie hier beladen?«

»Ja, das ist hier,« erwiderte der Arzt.

Und unverzüglich begann man die erste Reihe auf die Wagen zu packen.

Bevor aber die Bauern und Krankenträger uns aufhoben, ließen sie uns noch einen tüchtigen Schluck trinken.

Sobald ein Wagen voll war, rückte er weiter, und der nächste fuhr vor. Ich saß auf dem dritten in der ersten Reihe auf dem Stroh neben einem Rekruten von den Siebenundzwanzigern, dem die rechte Hand fehlte. Hinter uns fehlte einem Andern ein Bein, einem Dritten war der Kopf gespalten, einem Vierten die Kinnlade zerschmettert und so weiter fort bis zum Ende des Wagens.

Man hatte uns unsere großen Mäntel gegeben, aber trotzdem die Sonne schien, fror uns doch dermaßen, daß nur die Nase, die Feldmütze oder der Verband aus dem Mantelkragen hervorsahen. Niemand sprach – man hatte genug an sich selbst zu denken.

Zuweilen fühlte ich einen fürchterlichen Frost und dann plötzlich wieder eine brennende Hitze, die mir bis in die Augen drang: das war der Anfang des Wundfiebers. Aber bei der Abfahrt von Kaja befand ich mich noch ganz gut, ich sah alle Gegenstände noch klar und deutlich, und erst später, in der Nähe von Leipzig, fühlte ich mich vollständig krank.

Man brachte uns also in der Weise unter, daß die, welche sich noch aufrecht halten konnten, in den ersten Wagen saßen, die Uebrigen dagegen in den hintern ausgestreckt lagen, und so fuhren wir ab. Die Husaren, die nebenher ritten, rauchten, lachten und schwatzten von der Schlacht, ohne auf uns zu achten.

Während unserer Fahrt durch Kaja traten mir alle Schrecken des Krieges klar vor Augen. Das Dorf war nur noch ein Trümmerhaufen. Die Dächer waren eingestürzt, nur die Giebel standen hier und da noch aufrecht; die Balken und Latten waren zerbrochen, und durch die Löcher blickte man in die kleinen Stuben mit ihren Alkoven, Thüren und Treppen. Arme Leute, Frauen, Kinder und Greise, liefen trostlos im Innern hin und her wie in Käfigen, die unter freiem Himmel stehen. Zuweilen deutete ein Ofen in einem engen Stübchen oben unter dem Dache, ein kleiner Spiegel und Buchsbaumzweige darüber darauf hin, daß dort in Friedenszeiten ein junges Mädchen gehaust hatte.

Ach! wer konnte ahnen, daß all dies Glück eines Tages zerstört werden würde, und nicht durch die Gewalt des Sturmes oder den Zorn des Himmels, sondern durch die Wuth der Menschen, die noch weit schrecklicher ist!

Alles, selbst die armen Hausthiere, hatte ein verwaistes Aussehen in diesen Ruinen. Die Tauben suchten ihren Schlag, die Rinder und Ziegen ihren Stall: mit klagender Stimme brüllend und meckernd, liefen sie verwirrt durch die Gassen. Auf den Bäumen hockten Hühner, und überall, überall sah man die Spuren der Kanonenkugeln.

Vor dem letzten Hause saß ein Greis mit weißen Haaren auf der Schwelle seiner zerstörten Wohnung und hielt ein kleines Kind zwischen den Knieen. In düsteres Brüten versunken, starrte er unsern Zug an. Sah er uns? Ich weiß es nicht. Aber auf seiner tiefgefurchten Stirn und in seinen glanzlosen Augen prägte sich die Verzweiflung aus. Wieviel Jahre der Arbeit, der Sparsamkeit und des Leidens waren nöthig gewesen, um ihm für seine alten Tage einige Ruhe zu sichern! Und jetzt war Alles vernichtet – er und das Kind hatten keine Stelle mehr, wo sie das Haupt hinlegen konnten! ...

Und jene großen, viertelmeilenlangen Gruben, an denen die Leute aus der Gegend hastig schaufelten, damit nicht etwa die Pest das Menschengeschlecht vollends vernichte – auch sie sah ich von der Höhe des Hügels bei Kaja aus und wandte entsetzt die Augen ab. Ja, ich sah diese Massengräber, in welche man die Todten hineinwirft: Russen, Franzosen und Preußen, Alle durcheinander – wie Gott sie geschaffen hatte, einander zu lieben, vor der Erfindung der Federbüsche und der Uniformen, die sie zu Gunsten ihrer Herrscher von einander trennen und scheiden. Dort liegen sie und umarmen sich ... und wenn sie, was man doch hoffen darf, wieder zum Leben erwachen, werden sie sich lieben und sich verzeihen, indem sie den Frevel verfluchen, der sie seit langen Jahrhunderten daran hindert, auch vor dem Tode Brüder zu sein.

Noch weit trauriger aber war der Anblick der langen Reihe von Wagen, welche die Verwundeten fortführten, die Verwundeten, jene Unglücklichen, die man in den Siegesberichten nur erwähnt, um ihre Zahl herabzusetzen, und die in den Hospitälern, fern von ihren Lieben, wie die Fliegen hinsterben, während man Kanonenschüsse abfeuert und in den Kirchen betet aus Freude darüber, daß man soviel Menschen getödtet hat!

Als wir nach Lützen kamen, war die Stadt so mit Verwundeten überfüllt, daß unser Zug Befehl erhielt, nach Leipzig weiterzufahren. Auf den Straßen sah man nur Unglückliche, die, bereits drei Viertel todt, die Häuser entlang auf Stroh gebettet lagen. Wir brauchten mehr als eine Stunde, um zu einer Kirche zu gelangen, wo man fünfzehn oder zwanzig von uns, die den Transport nicht mehr ertragen konnten, ablud.

Der Unteroffizier und seine Leute stiegen, nachdem sie sich in einer Schenke an der Ecke des Kirchplatzes erfrischt hatten, wieder zu Pferde, und wir setzten unsere Fahrt nach Leipzig fort.

Ich sah und hörte jetzt nicht mehr. Der Kopf wirbelte mir, meine Ohren summten, und ich hielt die Bäume für Menschen. Dabei empfand ich einen Durst, von dem man sich keinen Begriff machen kann.

Auf den verschiedenen Wagen hatten schon seit langer Zeit einige Andere zu schreien und fieberhaft zu träumen angefangen: sie sprachen von ihren Müttern und wollten mit aller Gewalt aufstehen und auf die Straße springen. Ich weiß nicht, ob auch ich dergleichen that, aber ich erwachte erst wie aus einem bösen Traum in dem Momente, wo zwei Männer, nachdem sie den Arm um mein Rückgrat gelegt hatten, mich jeder bei einem Beine nahmen und über einen düstern Platz trugen. Der Himmel blitzte von Sternen, und auf der Stirnseite eines großen Gebäudes, das sich tiefschwarz inmitten des nächtlichen Dunkels abzeichnete, glänzten unzählige Lichter: das war das Hospital der nach Halle zu liegenden Vorstadt von Leipzig.

Die beiden Männer stiegen mit mir eine Wendeltreppe hinauf. Ganz oben traten sie in einen Saal, in welchem dicht gedrängt drei Reihen Betten standen, und legten mich auf eins derselben nieder. Das Geschrei, die Flüche und Klagen, die man dort vernahm, sind nicht zu beschreiben: diese Hunderte von Verwundeten lagen alle im Fieber. Die Fenster standen offen, und die kleinen Laternen zitterten im Luftzuge. Lazarethgehilfen, Aerzte und Assistenten gingen mit ihren unter dem Arme festgebundenen Schürzen ab und zu. Und das dumpfe Geräusch in den untern Sälen, die herauf- und heruntersteigenden Leute, die neuen Transporte, die auf dem Platze ankamen, das Geschrei der Fuhrleute, das Peitschengeknall, das Stampfen der Pferde: das Alles brachte einen um den Verstand.

Dort empfand ich auch, während man mich entkleidete, zum ersten Male einen so fürchterlichen Schmerz in der Schulter, daß ich einen Schrei nicht unterdrücken konnte. Beinahe im selben Augenblicke trat auch ein Chirurg heran und machte den Leuten Vorwürfe, daß sie nicht Acht gäben. Das ist Alles, was mir von jener Nacht in der Erinnerung geblieben ist, denn ich war wie toll: ich rief Katherine, Herrn Goulden und Tante Gredel zu Hilfe, wie mir später mein Nachbar erzählte, ein alter Kanonier von der reitenden Artillerie, den meine Fieberträume am Schlafen hinderten.

Erst am andern Morgen gegen acht Uhr, beim ersten Umgang der Aerzte, sah ich den Saal genauer. Jetzt erfuhr ich auch, daß der linke Schulterknochen zerschmettert wäre.

Als ich erwachte, sah ich mich von einem Dutzend Aerzte umgeben. Einer von ihnen, den man »Herr Baron« nannte, öffnete den Verband meiner Wunde, ein Assistent am Fußende des Bettes hielt eine Schüssel mit warmem Wasser. Der Oberstabsarzt untersuchte meine Wunde, und die Andern beugten sich vor, um zu hören, was er dazu sagte. Er sprach einige Augenblicke mit ihnen, ich aber verstand von dem Allen nur, daß die Kugel von unten nach oben gegangen wäre, den Knochen zerschmettert hätte und hinten wieder herausgefahren wäre. Daraus ersah ich, daß er seine Sache verstand, denn die Preußen hatten von unten herauf über die Gartenmauer geschossen, die Kugel hatte also nach oben gehen müssen. Er wusch selbst die Wunde aus und legte im Handumdrehen den Verband wieder an, so daß ich die Schulter nicht mehr bewegen konnte und Alles in Ordnung war.

Ich fühlte mich bedeutend besser. Zehn Minuten später zog ein Lazarethgehilfe mir ein Hemd an, ohne mir, in Folge seiner Gewandtheit, wehe zu thun.

Der Oberstabsarzt hatte inzwischen vor dem nächsten Bette Halt gemacht und rief:

»He! da bist du ja wieder, Alter!«

»Ja, Herr Baron, ich bin's schon wieder einmal,« antwortete der Kanonier, ganz stolz darauf, daß der Arzt ihn wiedererkannte. »Das erste Mal war's bei Austerlitz wegen einer Kartätschenkugel, dann bei Jena und dann bei Smolensk wegen zweier Lanzenstiche.«

»Ja, ja,« sagte der Arzt gleichsam gerührt. »Und was haben wir denn jetzt?«

»Drei Säbelhiebe über den linken Arm, die ich bei der Verteidigung meines Geschützes gegen die preußischen Husaren empfing.«

Der Arzt trat darauf näher und nahm den Verband ab, und ich hörte ihn währenddem den Kanonier fragen:

»Hast du das Kreuz?«

»Nein, Herr Baron.«

»Du heißt?«

»Christian Zimmer, Unterofficier beim zweiten Regiment der reitenden Artillerie.«

»Schön! Schön!«

Er verband nun die Wunden und sagte endlich, indem er sich wieder in die Höhe richtete:

»Es wird sich Alles machen!«

Dann wandte er sich um, plauderte mit den Andern und ging, nachdem er seinen Rundgang vollendet und den Lazarethgehilfen einige Befehle gegeben hatte, fort. Der alte Kanonier schien äußerst erfreut. Da ich aus seinem Namen entnommen hatte, er müsse aus dem Elsaß sein, begann ich in unserer Landessprache mit ihm zu plaudern, so daß er noch aufgeräumter wurde. Es war ein Bursche von sechs Fuß Höhe mit breiten Schultern, platter Stirn, dicker Nase und röthlich-blondem Schnurrbart, rauh und hart wie ein Fels, aber trotzdem ein braver Kerl. Er kniff die Augen ein und spitzte die Ohren, wenn man im elsasser Dialect mit ihm redete; ich hätte auf gut Elsaßisch Alles von ihm verlangen können: er würde mir Alles gegeben haben, wenn er etwas gehabt hätte. Er hatte aber nichts zu eigen als Händedrücke, bei denen einem die Knochen krachten. Wie es bei uns zu Hause Sitte ist, nannte er mich Josephel und sagte:

»Josephel, hüte dich nur und nimm nicht die Arzneien, die man dir giebt ... Nur was man kennt, darf man verschlucken ... Was nicht gut riecht, taugt nichts. Wenn man uns täglich eine Flasche Reichenweier zukommen ließe, würden wir bald geheilt sein. Aber es ist natürlich bequemer, uns mit einer Handvoll niederträchtigen, in Wasser abgekochten Krautes den Magen zu verderben, als uns guten elsasser Weißwein zu geben.«

Als ich Furcht vor dem Fieber und vor dem, was ich sah, äußerte, nahm er eine ärgerliche Miene an und sagte, indem er mich mit seinen großen, grauen Augen musterte:

»Josephel, bist du denn verrückt, daß du Furcht hast? Können Burschen wie wir im Lazarethe sterben? Nein, nein ... den Gedanken schlag' dir aus dem Sinn.«

Aber er hatte gut reden – die Aerzte fanden jeden Morgen bei ihrem Rundgange sieben oder acht Todte. Die Einen ergriff das Nervenfieber, die Andern eine Erkältung, und das Ende war immer die Bahre, die man auf den Schultern der Lazarethgehilfen vorüberkommen sah – so daß man niemals wußte, ob man Frost oder Hitze haben müsse, damit man gut fahre. Zimmer sagte:

»Das Alles kommt von den schlechten Arzneien, Josephel, die die Mediciner erfinden. Siehst du den langen Dürrländer da? Der kann sich rühmen, mehr Menschen getödtet zu haben als ein Feldgeschütz: er ist gewissermaßen mit Kartätschen geladen, und die Lunte immer in Brand. Und dieser kleine Braune hier? Ich an des Kaisers Stelle schickte ihn zu den Preußen und Russen: er würde ihnen mehr Menschen tödten, als ein ganzes Armee-Corps.«

Er würde mich wahrhaftig mit solchen Scherzen zum Lachen gebracht haben, hätte ich nicht immer die Bahren vorübertragen sehen.

Nach drei Wochen begann mein Schulterknochen wieder zu heilen, die beiden Wunden schlossen sich ganz allmählich, und ich empfand beinahe keine Schmerzen mehr. Die Säbelhiebe, die Zimmer auf dem Arm und auf der Schulter hatte, heilten ebenfalls gut. Man gab uns jeden Morgen gute Bouillon, die unsern Muth belebte, und Abends ein wenig Rindfleisch nebst einem halben Glase Wein, dessen bloßer Anblick uns schon erbaute und uns die Zukunft im rosigsten Lichte sehen ließ.

Um diese Zeit wurde uns auch gestattet, in einem großen Garten hinter dem Hospitale, in welchem viele alte Ulmen standen, spazieren zu gehen. Unter den Bäumen waren Bänke angebracht, und wir spazierten in unsern weiten, grauen Mänteln und Baumwollenmützen wie wahre Rentiers in den Alleen umher.

Die Jahreszeit war herrlich. Die Aussicht, die wir genossen, erstreckte sich auf die mit Pappeln umsäumte Parthe. Dieser Bach fällt zur Linken in die Pleiße, wobei er große, blaue Bogen bildet. In derselben Richtung liegt ein Buchenwald, und im Vordergrunde laufen drei weißschimmernde Heerstraßen hin, welche weite Flächen durchschneiden, die mit Gerste, Hafer, Weizen oder Roggen bestellt sind, kurz mit Allem, was einen reichen, angenehmen Anblick bietet, besonders wenn der Wind darüber hinstreift und alle die Fruchthalme im Sonnenscheine auf und nieder wogen.

Die Junihitze verkündete ein gutes Jahr. Beim Anblick dieser schönen Gegend dachte ich oft an Pfalzburg und begann zu weinen. Zimmer meinte:

»Ich möchte doch beim Teufel wissen, warum du weinst, Josephel?! Anstatt das Lazarethfieber erwischt oder einen Arm oder ein Bein zugesetzt zu haben, wie hundert Andere, sitzen wir ruhig im Schatten auf einer Bank, erhalten Bouillon, Fleisch und Wein und dürfen sogar rauchen, wenn wir Tabak haben – und du bist noch nicht zufrieden? Was fehlt dir denn?«

Nun erzählte ich ihm von meiner Liebe zu Katherine, von meinen Spaziergängen nach Vier-Winden, von unsern schönen Hoffnungen, unserm Heirathsversprechen, kurz von jener schönen Zeit, die nur noch ein Traum war. Er rauchte seine Pfeife und hörte mir zu.

»Ja, ja,« sagte er endlich, »das ist dieselbe traurige Geschichte. Vor der Aushebung von 1798 sollte ich mich auch mit einem Mädchen aus unserm Dorfe verheirathen. Sie hieß Margredel, und ich liebte sie wie meinen Augapfel. Wir hatten uns mit einander verlobt, und während des ganzen Züricher Feldzugs verging kein Tag, ohne daß ich an Margredel dachte.

»Aber als ich zum ersten Male auf Urlaub nach Hause komme, was höre ich da? Daß sie seit drei Monaten mit einem Schuster aus unserm Dorfe, Namens Paßauf, verheirathet ist!

»Du kannst dir nun meine Wuth vorstellen, Josephel. Ich sah und hörte nicht mehr und wollte Alles kurz und klein schlagen. Und da man mir sagte, Paßauf säße eben in der Brauerei zum Großen Hirsch, so gehe ich hin, ohne rechts oder links zu blicken. Gleich beim Eintreten sehe ich ihn am Ende des Tisches, neben einem Fenster, das nach dem Hofe geht, gegen den Heber gelehnt sitzen. Er lachte mit drei oder vier andern boshaften Halunken, indem sie ihre Schoppen hinter die Binde gossen. Ich trete näher und da ruft er: »Sieh, sieh, da ist ja Christian Zimmer! Wie geht's Christian? Ich soll dich grüßen von Margredel.« Dabei blinzelte er mit den Augen. Ich aber packe in demselben Momente einen Krug und schlage ihn damit an den Kopf mit den Worten: »Da, bring ihr das von mir, Paßauf! Das ist mein Hochzeitsgeschenk!« Natürlich fallen nun die Andern über mich her, ich schlage noch zwei oder drei mit einer Schleifkanne zu Boden, springe auf einen Tisch, dann durch ein Fenster auf den Platz und mache mich davon.

»Kaum aber war ich wieder bei meiner Mutter angelangt, als schon Gendarmen kommen und mich auf höhern Befehl arretiren. Man packt mich gefesselt auf einen Karren und transportirt mich von Brigade zu Brigade bis zum Regiment, das gerade in Straßburg stand. Ich saß sechs Wochen in der Finckmatt Kaserne am Nordost-Ende des alten Straßburgs, jetzt vom Rhein.Inf.-Reg. Nr. 25 belegt. D. Uebers. und hätte vielleicht Galeerenstrafe bekommen, wären wir nicht gerade damals über den Rhein gegangen, um nach Hohenlinden zu kommen. Commandant Courtaud selbst sagte zu mir: »Du kannst von Glück sagen, daß du ein guter Schütze bist. Wenn es aber noch einmal vorkommt, daß du die Leute mit einem Bierkruge umbringst, nimmt die Sache eine üble Wendung, das sage ich dir vorher. Ist das eine Art und Weise, eine Sache auszufechten, du Unthier? Warum tragen wir denn einen Säbel, wenn nicht, um uns seiner zu bedienen und dem Vaterlande Ehre zu machen?« Ich wußte nichts darauf zu erwidern.

»Seit der Zeit ist mir die Lust zum Heirathen vergangen, Josephel. Rede mir nicht von einem Soldaten, der an Frau und Kinder denkt – das ist ein wahres Elend. Sieh einmal die Generäle, die sich verheirathet haben – schlagen sie sich noch wie früher? Nein, sie haben jetzt nur einen Gedanken: ihr Vermögen zu vergrößern, und besonders: es zu Lebzeiten mit ihren Herzoginnen und kleinen Herzögen tüchtig zu Hause zu genießen. Mein Großvater Veri, der Waldhüter, sagte immer, ein guter Jagdhund müsse mager sein – den Unterschied der Grade bei Seite gelassen, denke ich dasselbe von guten Generälen und guten Soldaten. Wir haben immer die vorschriftsmäßige Dicke, aber unsere Generäle werden zu fett, und das kommt von den guten Mahlzeiten, die man ihnen zu Hause anrichtet.«

So sprach Zimmer in der Aufrichtigkeit seines Herzens, und seine Worte waren nicht gerade geeignet, meine Traurigkeit zu bannen.

Sobald ich hatte aufstehen können, hatte ich mich beeilt, Herrn Goulden durch einen Brief zu benachrichtigen, daß ich mich wegen einer leichten Verwundung am Arm im Hallischen Hospitale in einer der Vorstädte von Leipzig befände, daß man sich aber meinetwegen nicht zu beunruhigen brauche, da es alle Tage besser mit mir gehe. Ich bat ihn auch, meinen Brief Katherine und Tante Gredel zu zeigen, um ihnen während dieses fürchterlichen Krieges Muth und Vertrauen einzuflößen. Auch schrieb ich ihm, ich würde der glücklichste Mensch sein, wenn ich Nachrichten aus der Heimat und über die Gesundheit aller meiner Lieben empfinge.

Von jenem Augenblicke ab hatte ich keine Ruhe mehr: jeden Morgen erwartete ich eine Antwort. Und wenn ich dann den Wagenmeister zwanzig, dreißig Briefe im ganzen Saale vertheilen sah, ohne etwas zu empfangen, fühlte ich einen Stich durchs Herz und ging schnell in den Garten hinunter, um mich auszuweinen. Es gab dort einen dunkeln Winkel, in den man das Geschirr warf, eine äußerst schattige Stelle, die mir am meisten gefiel, weil die Kranken nie dorthin kamen – dort brachte ich meine Zeit damit zu, auf einer alten, moosbewachsenen Bank meinen Gedanken nachzuhängen. Böse Gedanken schossen mir da durch den Kopf: ich ging soweit, daß ich Katherine für fähig hielt, sie könne ihr Versprechen vergessen, und schrie in meinem Herzen: »Ach! wenn man dich nur bei Kaja nicht aufgehoben hätte! Alles wäre jetzt zu Ende! ... Warum hat man dich nicht liegen lassen! Das wäre besser gewesen, als soviel ertragen zu müssen.

Es war soweit gekommen, daß ich wünschte, gar nicht wieder gesund zu werden, als der Wagenmeister eines Morgens unter andern Namen auch den meinen rief. Ich hob die Hand in die Höhe, ohne ein Wort sprechen zu können, und man reichte mir einen dicken, viereckigen Brief, der mit unzähligen Poststempeln bedeckt war. Ich erkannte Herrn Gouldens Handschrift und wurde vor Aufregung leichenblaß.

»Aha!« rief Zimmer lachend, »da kommt es am Ende doch.«

Ich antwortete ihm nicht, steckte den Brief, nachdem ich mich angekleidet hatte, in die Tasche und ging hinunter, um ihn hinten im Garten an meinem gewöhnlichen Platze ungestört zu lesen.

Beim Aufmachen erblickte ich zuerst zwei oder drei kleine Apfelblüten, die ich in die Hand nahm, und eine Postanweisung mit einigen begleitenden Worten Herrn Gouldens. Was mich aber am tiefsten ergriff und mich vom Kopf bis zu den Füßen durchschauerte, war der Anblick der Schrift Katherinens, die ich mit schwimmenden Augen anstarrte, ohne sie lesen zu können, denn mein Herz schlug mit außerordentlicher Heftigkeit.

Endlich jedoch beruhigte ich mich und las den Brief ganz langsam und von Zeit zu Zeit innehaltend, um mich zu versichern, daß ich mich nicht täusche, daß es wirklich meine theure Katherine sei, die da schrieb, und daß ich nicht träume.

Ich habe den Brief aufgehoben, weil er mich gewissermaßen ins Leben zurückrief. Ich setze ihn daher hierher, ganz so wie ich ihn am 8. Juni 1813 empfangen habe. »Lieber Joseph!

»Dieser Brief soll Dir von vorn herein sagen, daß ich Dich immer mehr liebe und immer nur Dich lieben will.

»Auch sollst Du wissen, daß es mein größter Kummer ist, daß Du verwundet in einem Hospitale liegst und ich Dich nicht pflegen kann. Das ist ein großer Schmerz für mich. Seit dem Abmarsch der Ausgehobenen haben wir keine ruhige Stunde mehr gehabt. Mutter war entrüstet und ärgerlich und behauptete, ich wäre toll mit meinem unaufhörlichen Weinen, weinte aber, wenn sie abends allein am Herde saß, eben so viel wie ich – ich habe es oben wohl gehört. Und ihr ganzer Zorn fiel dann auf Pinacle, der gar nicht mehr zu Markte zu gehen wagte, weil sie einen Hammer im Korbe trug.

»Unser größter Kummer, Joseph, aber war der, als das Gerücht umlief, man habe eine Schlacht geliefert, in der tausend und aber tausend Menschen getödtet worden wären. Wir lebten nicht mehr. Alle Morgen lief Mutter zur Post, und ich konnte gar nicht mehr aufstehen. Am letzten Ende aber kam doch Dein Brief. Jetzt geht es besser mit mir, da ich ungestört weinen kann, während ich dem Herrn danke, der Dich am Leben erhalten hat.

»Und wenn ich bedenke, wie glücklich wir waren, als Du alle Sonntage zu uns kamst, und wir so neben einander saßen, ohne uns zu regen, und an nichts dachten! Ach, wir kannten unser Glück nicht! Wir wußten nicht, was uns zustoßen könne ... doch der Wille Gottes geschehe. Wenn Du nur wieder gesund wirst und wir hoffen dürfen, noch einmal wie früher beisammen zu sein!

»Viele Leute reden jetzt von Frieden. Wir haben aber so viel Unglück gehabt, und der Kaiser Napoleon liebt den Krieg so sehr, daß man sich auf nichts verlassen kann.

»Meine einzige Freude ist, zu wissen, daß Deine Wunde nicht gefährlich ist, und daß Du mich noch liebst ... Ach, Joseph, ich werde dich ewig lieben, ich kann Dir nichts Anderes schreiben – es ist das Alles, was ich Dir aus tiefstem Herzensgrunde sagen kann. Und ich weiß auch, daß meine Mutter Dich recht lieb hat.

»Jetzt will Herr Goulden noch einige Worte an Dich schreiben, und ich küsse Dich viele tausend Mal. – Es ist recht schönes Wetter hier, wir werden ein gutes Jahr haben. Der große Apfelbaum im Garten ist ganz weiß von Blüten. Ich werde einige abpflücken und für Dich in den Brief legen, wenn Herr Goulden mit Schreiben fertig ist. Mit Gottes Hilfe essen wir vielleicht doch noch einmal zusammen einen von den großen Aepfeln. Küsse mich, wie ich Dich küsse, und lebe wohl, lebe wohl, Joseph!«

Beim Lesen dieser Zeilen brach ich in Thränen aus, und als Zimmer angekommen war, sagte ich zu ihm:

»Da, setz dich hin, ich will dir vorlesen, was mir meine Geliebte schreibt. Du wirst daraus ersehen, ob es eine Margredel ist.«

»Laß mich nur erst meine Pfeife anstecken,« erwiderte er.

Er stülpte den Deckel über den brennenden Schwamm und fügte dann hinzu:

»Jetzt kannst du anfangen, Josephel. Ich sage dir aber im Voraus, ich bin ein Alter und glaube nicht Alles, was man schreibt – die Frauen sind schlauer als wir.«

Trotzdem las ich ihm Katherinens Brief langsam vor. Er sagte nichts, und als ich fertig war, nahm er ihn und musterte ihn lange mit nachdenklicher Miene. Dann gab er ihn mir zurück mit den Worten:

»Das ist ein gutes Mädchen, Josephel! ein Mädchen mit gesundem Verstande, die nie einen Andern als dich nehmen wird.«

»Du glaubst, daß sie mich wirklich liebt?«

»Ja, du kannst dich darauf verlassen; die wird nie einen Paßauf heirathen. Eher würde ich am Kaiser zweifeln als an einem solchen Mädchen.« Ich hätte Zimmer bei diesen Worten umarmen mögen und sagte ihm:

»Ich habe von Hause ein Hundertfrankenbillet empfangen, das wir auf der Post erheben werden. Das ist die Grundbedingung zu einer Flasche Weißwein. Nun laß uns zusehen, daß wir ausgehen dürfen.«

»Gut gesagt,« entgegnete er, indem er seinen dicken Schnurrbart drehte und die Pfeife in die Tasche steckte. »Ich verschimmele nicht gern in einem Garten, wenn es draußen Wirthshäuser giebt. Man muß eine Urlaubskarte zu erhalten suchen.«

Guter Laune standen wir auf und stiegen eben die Treppe im Lazareth hinauf, als der Wagenmeister, der eben herunterkam, Zimmer anhielt und ihn fragte:

»Sind Sie nicht Christian Zimmer, Kanonier im zweiten Regiment der reitenden Artillerie?«

»Entschuldigt, Wagenmeister, ich habe die Ehre.«

»Nun, da ist etwas für Sie,« sagte jener, indem er Zimmer ein kleines Paquet und ein dickes Schreiben überreichte.

Zimmer war verdutzt, da er nie, weder von Hause noch anderswoher, dergleichen erhalten hatte. Er öffnete das Paquet, in dem sich eine Schachtel befand, dann die Schachtel – und erblickte das Kreuz der Ehrenlegion. Er wurde nun ganz blaß, sein Blick trübte sich, und einen Moment lang stützte er sich mit der Hand auf das Geländer. Dann aber schrie er: »Es lebe der Kaiser!« mit so fürchterlicher Stimme, daß die drei Krankensäle wie eine Kirche donnernd von dem Rufe wiederhallten.

Der Wagenmeister sah ihn gut gelaunt an.

»Sind Sie zufrieden?« fragte er.

»Und ob, Wagenmeister! Es fehlt mir nur noch eins.«

»Und was?«

»Die Erlaubniß, einen Gang durch die Stadt machen zu dürfen.« »Da müssen Sie sich an Herrn Tardieu, den Generalstabsarzt, wenden.«

Lachend stieg er hinunter, und wir, da es die Zeit der Sprechstunde war, Arm in Arm hinauf, um den Arzt, einen alten Graukopf, um die Erlaubnis zu bitten. Er hatte das Hoch auf den Kaiser gehört und musterte uns mit ernster Miene.

»Was giebt es denn?« fragte er.

Zimmer zeigte ihm sein Kreuz und sagte:

»Verzeihen Sie, Herr Doctor, aber ich bin wie verzaubert.«

»Das glaube ich Ihnen,« entgegnete Herr Tardieu. »Sie wollen eine Urlaubskarte?«

»Wenn Sie so gut sein wollen – für mich und für meinen Kameraden Joseph Bertha.«

Der Arzt hatte am Tage vorher meine Wunde besichtigt. Er zog jetzt ein Portefeuille aus der Tasche und gab uns zwei Karten.

Wir gingen hinunter, stolz wie die Könige, Zimmer auf sein Kreuz, ich auf meinen Brief.

In der großen Vorhalle unten rief der Pförtner uns an:

»He! wohin wollen Sie denn?«

Zimmer zeigte ihm die Urlaubskarten, und wir gingen hinaus, überglücklich, daß wir frische Luft athmeten. Eine Schildwache zeigte uns das Postbüreau, wo wir die hundert Franken erhoben.

In ernsterer Stimmung, da unsere Freude mehr ins Innere zurückgetreten war, erreichten wir das Hallische Thor, das zwei Flintenschüsse weit nach links am Ende einer langen Lindenallee stand. Jede Vorstadt wird von den Stadtwällen durch eine solche Allee geschieden, und rings um ganz Leipzig läuft ein anderer, äußerst breiter Baumgang, der ebenfalls aus Linden besteht. Die Wälle sind alte Bauwerke, wie man solche in Sankt-Pölten im Departement Haut-Rhin sieht – uralte, baufällige Mauern, auf denen Gras wächst, zum wenigsten, wenn die Deutschen sie seit 1813 nicht reparirt haben.


 << zurück weiter >>