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8.

Am selben Tage gelangten wir bis Witsch, am folgenden nach Hornbach, nach Kaiserslautern u. s. w. Es hatte inzwischen wieder zu schneien begonnen.

Wie oftmals sehnte ich mich während dieses langen Marsches nach Herrn Gouldens dickem Mantel und nach den Schuhen mit den Doppelsohlen.

Wir kamen, bald im Gebirge, bald in der Ebene, durch zahllose Dörfer. Am Eingange jedes Fleckens nahmen die Tamboure ihre Trommeln und schlugen einen Marsch. Dann richteten wir den Kopf in die Höhe und markirten den Tritt, um uns das Ansehn alter Soldaten zu geben. Die Leute kamen dann an die kleinen Fenster oder traten in die Hausthür und sagten: »Es sind Rekruten!«

Abends, am Rastorte, waren wir überglücklich, unsere müden Füße ausruhen zu können, namentlich ich. Ich kann nicht sagen, daß mein Bein schmerzte, aber die Füße, die Füße ... Ach! ich hatte noch nie so große Müdigkeit empfunden! Unser Quartierbillet gab uns das Recht auf einen Platz am Herde, die Leute gaben uns aber auch einen Platz an ihrem Tische. Beinahe immer hatten wir geronnene Milch und Kartoffeln, zuweilen auch frischen Speck und eine Schüssel Sauerkraut. Die Kinder näherten sich uns, um uns zu betrachten; die Alten fragten, aus welcher Gegend wir wären und was für ein Handwerk wir früher getrieben hätten; die jungen Mädchen schauten uns mit trauriger Miene an und dachten dabei an ihre Geliebten, die fünf, sechs oder sieben Monate vorher ausmarschirt waren. Dann führte man uns zum Bett des Sohnes vom Hause. Mit welchem Entzücken streckte ich mich darin aus! wie gern hätte ich meine zwölf Stunden schlafen mögen! Aber schon in aller Frühe, beim ersten Morgengrauen, weckte mich der Klang der Trommel. Ich starrte die gebräunten Balken an der Decke, die kleinen, reifbedeckten Fensterscheiben au und fragte mich: »Wo bin ich?« Dann plötzlich preßte sich mir das Herz zusammen, und ich sagte mir: »Du bist in Witsch, in Kaiserslauterns ... du bist Rekrut!« Und dann mußte ich mich schleunigst ankleiden, das Ränzel wieder auf den Rücken nehmen und zum Appell eilen.

»Glückliche Reise!« sagte die Hausfrau, die schon frühzeitig erwacht war.

»Schönen Dank!« entgegnete der Rekrut.

Und man eilte davon.

Ja ... ja ... glückliche Reise! Man wird dich nicht wiedersehen, armer Teufel ... Wieviel Andere sind denselben Weg gegangen!

Nie werde ich vergessen, wie ich am zweiten Tage nach unserm Abmarsche in Kaiserslautern, nachdem ich mein Ränzel aufgeschnallt hatte, um ein frisches Hemd anzuziehen, unter den Hemden ein kleines, ziemlich schweres Päckchen entdeckte, worin ich, nachdem ich es geöffnet hatte, vierundfünfzig Francs in Sechslivres-Stücken und auf dem Papier folgende Zeilen von Herrn Goulden fand:

»Sei immer gut und ehrenhaft im Kriege. Denke an deine Verwandten, an Alle die, für welche du dem Leben hingeben möchtest, und handle menschlich gegen die Fremden, damit sie eben so gegen die Unsern handeln. Der Himmel führe dich zu uns zurück ... er errette dich aus den Gefahren! Hier ist etwas Geld, Joseph. Es ist gut, fern von den Seinen immer etwas Geld in Händen zu haben. Schreib uns, so oft du kannst. Ich küsse dich, mein Kind, und drücke dich an mein Herz.«

Ich vergoß Thränen beim Lesen dieser Zeilen und dachte:

»Du bist doch nicht ganz verlassen auf Erden ... Brave Leute gedenken deiner! Du darfst ihre guten Rathschläge nie vergessen.«

Am fünften Tage endlich kamen wir gegen zehn Uhr Abends in Mainz an. So lange ich lebe, wird diese Erinnerung mir im Gedächtniß bleiben. Es war fürchterlich kalt. Wir waren am frühen Morgen aufgebrochen und lange, ehe wir in die Stadt gelangten, durch Dörfer marschirt, die überfüllt waren mit Soldaten: Kavallerie und Infanterie, Dragoner in kurzen Jacken mit strohgefüllten Holzschuhen, die das Eis auf einem Mühlbache zerschlugen, um ihre Pferde zu tränken, während andere Heu- und Strohbündel nach den Stallthüren schafften; Pulver- und Kugel-Transporte, die sich reifbedeckt auf der Straße fortbewegten; Estafetten, Artillerie-Abtheilungen, Pontonniere, die auf dem schneebedeckten Felde hin und her eilten und uns so wenig beachteten, als ob wir gar nicht existirt hätten.

Hauptmann Vidal war, um sich zu erwärmen, vom Pferde gestiegen und marschirte tüchtig drauf los. Die Officiere und Sergeanten drängten, da wir uns verspätet hatten, zur Eile. Fünf oder sechs Italiener, die nicht mehr fortkonnten, waren in den Dörfern zurückgeblieben. Mir selbst brannten in Folge meines Gebrechens die Fußsohlen; ich hatte mich am letzten Rastorte kaum wieder erheben können. Die übrigen Pfalzburger marschirten tüchtig.

Es war Nacht geworden. Am Himmel blitzten unzählige Sterne. Jeder schaute auf und sagte sich: »Wir sind bald da!«, denn eine dunkle Linie, schwarze Punkte und glänzende Fünkchen am Rande des Horizontes verkündeten die Nähe einer großen Stadt.

Endlich gelangten wir durch im Zickzack laufende Erdwälle hindurch zu den Vorwachen. Man ließ uns nun die Glieder schließen und besser Schritt halten, wie das bei der Annäherung an einen festen Platz Sitte ist. Jeder schwieg. Als wir um die Ecke einer Art von Halbmond bogen, erblickten wir den beeisten Stadtgraben vor uns, dahinter die Mauer-Wälle aus Ziegelstein und uns gerade gegenüber ein altes, düsteres Thor mit aufgezogener Brücke. Eine Schildwache mit angeschlagenem Gewehr rief uns von oben herab an:

»Wer da?«

Der Hauptmann, der ganz allein vorn stand, antwortete:

»Frankreich.«

»Welches Regiment?«

»Rekruten vom sechsten Linien-Regimente.«

Nun entstand eine tiefe Stille. Die Zugbrücke senkte sich, die Wache recognoscirte uns. Einer von ihnen trug eine große Stocklaterne. Hauptmann Vidal trat einige Schritte vor, um mit dem Wachofficier zu reden, dann rief man uns zu:

»Passirt!«

Unsere Tamboure begannen zu trommeln, aber der Hauptmann befahl ihnen, die Trommel wieder auf den Rücken zu nehmen. Wir rückten ein, wobei wir eine lange Brücke und dann ein zweites Thor passirten, das dem ersten in allen Stücken glich. Nun befanden wir uns in der Stadt, die mit großen, glänzenden Steinen gepflastert war. Jeder that sein Möglichstes, um nicht zu hinken, denn trotz der Nachtzeit waren alle Wirthshäuser und alle Läden offen; ihre großen Fenster blitzten und strahlten, und wie am hellen Tage eilten Hunderte von Leuten hin und her.

Wir bogen um fünf oder sechs Straßenecken und gelangten bald auf einen kleinen Platz vor einer hohen Kaserne. Hier wurde »Halt!« commandirt.

An der Ecke der Kaserne befand sich eine Nische, und in dieser Nische hockte hinter einem kleinen Tischchen eine Marketenderin unter einem großen, dreifarbigen Regenschirm, an dem zwei Laternen hingen.

Beinahe gleichzeitig mit uns kamen mehrere Officiere auf den Platz: es war der Commandant Gemeau mit einigen Andern, die ich seitdem ebenfalls kennen gelernt habe. Sie drückten dem Hauptmann lachend die Hand und musterten uns. Dann verlas man den Appell, und jeder von uns empfing ein Kommißbrod und sein Quartierbillet. Man kündigte uns an, daß am andern Morgen um acht Uhr der Appell Zwecks der Waffenvertheilung stattfinden würde und rief uns dann zu: »Abtreten!« – worauf die Officiere die Straße zur Linken hinaufgingen und zusammen in ein großes Café traten, zu welchem fünfzehn Stufen hinaufführten.

Aber wir Andern, und besonders die Italiener, die kein Wort Deutsch oder Französisch konnten – wohin sollten wir uns mit unserm Quartierbillet in einer solchen Stadt wenden?

Mein erster Gedanke war, die Marketenderin unter dem Regenschirme anzusprechen. Es war eine alte, dicke, pausbäckige Elsässerin, und als ich sie fragte, wo die Kapuzinerstraße läge, antwortete sie mir:

»Was bezahlst du?«

Ich war also genöthigt, einen kleinen Schnaps mit ihr zu trinken. Dann sagte sie:

»Schau, wenn du hier gerade gegenüber rechts um die Ecke biegst, wirst du die Kapuzinerstraße finden. Gute Nacht, Rekrut.«

Sie lachte.

Die Billets des langen Fürst und Zebede's lauteten ebenfalls auf die Kapuzinerstraße. Wir machten uns also auf den Weg, noch überglücklich, daß wir wenigstens zusammen durch die wildfremde Stadt hinken konnten.

Fürst fand sein Quartier zuerst, aber das Haus war verschlossen, und während er an die Thür pochte, fand auch ich das meinige, in welchem zwei Fenster zur Linken erleuchtet waren. Ich drückte gegen die Thür, sie öffnete sich, und ich trat in einen dunkeln Haus stur, in welchem es nach frischem Brote roch, was mich innerlich erquickte. Zebede ging weiter. Ich rief in den Flur hinein: »Ist niemand da?«

Und beinahe sogleich erschien oben auf einer hölzernen Treppe eine alte Frau, die die Hand vor eine brennende Kerze hielt.

»Was wünschen Sie?« fragte sie mich.

Ich sagte ihr, ich hätte ein Ouartierbillet auf sie erhalten. Sie kam herunter und sah das Billet an. Dann sagte sie auf Deutsch zu mir:

»Kommen Sie!«

Ich stieg also die Treppe hinauf. Im Vorübergehn bemerkte ich durch eine offen stehende Thür zwei mit Hosen bekleidete Männer, die bis zum Gürtel herab nackt und, vor zwei Backtrögen stehend, mit Teigkneten beschäftigt waren. Ich befand mich also bei einem Bäcker, und eben deshalb schlief auch die alte Frau noch nicht, denn zweifelsohne hatte sie ebenfalls zu thun. Sie trug eine Haube mit schwarzen Bändern und einen weiten Rock aus blauer Leinwand, der an Achselbändern hing. Ihre Arme waren bis zu den Ellbogen entblößt. Sie schien traurig zu sein. Oben führte sie mich in ein ziemlich großes Zimmer, in welchem ein Kachelofen und weiter hinten ein Bett stand.

»Sie kommen spät,« bemerkte die Frau.

»Ja, wir sind den ganzen Tag marschirt,« erwiderte ich, wobei ich kaum sprechen konnte. »Ich falle um vor Hunger und Ermüdung.«

Nun betrachtete sie mich, und ich hörte, wie sie vor sich hin murmelte:

»Armes Kind! Armes Kind!«

Dann ließ sie mich am Ofen niedersitzen und fragte mich:

»Sie haben wunde Füße?«

»Ja, seit drei Tagen.«

»Schön! Ziehen Sie Ihre Schuhe aus und diese Holzschuhe an,« entgegnete sie. »Ich komme gleich wieder.«

Sie ließ das Licht auf dem Tische stehen und ging hinunter. Ich legte den Tornister ab und zog die Schuhe aus. Ich hatte Blasen an den Füßen und dachte:

»Mein Gott ... mein Gott ... kann man soviel aushalten? Wär's nicht besser, man wäre todt?«

Diesen Gedanken hatte ich während des Marsches schon hundert Mal gehabt. Jetzt aber, hier am warmen Ofen, fühlte ich mich so müde, so unglücklich, daß ich trotz Katherine, trotz der Tante Gredel, Herrn Gouldens und Aller, die mir wohlwollten, für immer hätte einschlafen mögen. Ich befand mich zu miserabel!

Während ich an diese Dinge dachte, ging die Thür auf, und ein großer, starker Mann mit schon grauen Haaren trat ins Zimmer. Es war einer von den beiden, die ich unten bei der Arbeit gesehen hatte. Er hatte ein Hemd übergezogen und hielt einen Krug und zwei Gläser in der Hand.

»Guten Abend!« sagte er, indem er mich mit ernster Miene ansah.

Ich nickte mit dem Kopfe. Hinter dem Manne trat die Alte ein. Sie brachte einen hölzernen Kübel und stellte ihn vor meinem Sitze auf die Erde.

»Nehmen Sie ein Fußbad,« sagte sie, »das wird Ihnen wohlthun.«

Ich wurde gerührt bei diesem Anblick und dachte:

»Es giebt doch noch gute Menschen auf der Welt!«

Dann zog ich meine Strümpfe aus. Da die Blasen offen waren, bluteten sie, und die gute Alte wiederholte:

»Armes Kind! armes Kind!«

Der Mann fragte mich:

»Woher sind Sie?«

»Aus Pfalzburg in Lothringen.«

»Ah, schön!« sagte er.

Nach einigen Augenblicken wandte er sich dann an seine Frau:

»Hole doch einen von unsern Brotkuchen heraus. Der junge Mann wird ein Glas Wein trinken, und dann wollen wir ihn in Frieden schlafen lassen, denn er bedarf der Ruhe.«

Dabei rückte er den Tisch vor mich hin, so daß ich die Füße im wohlthuenden Bade und den Weinkrug vor mir hatte. Dann füllte er unsere Gläser mit gutem Weißwein und sagte:

»Auf Ihr Wohlsein!«

Die Hausmutter war hinausgegangen und kam jetzt mit einem großen, noch warmen Brotkuchen zurück, der ganz mit frischer, halb zerschmolzener Butter bedeckt war. Jetzt erst empfand ich, wie sehr mich hungerte: ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Es scheint, daß die guten Leute das bemerkten, denn die Frau sagte:

»Ehe Sie essen, mein Kind, müssen Sie die Beine aus dem Wasser nehmen.«

Und ehe ich begriffen hatte, was sie thun wollte, bückte sie sich und trocknete mir mit der Schürze die Füße ab.

»Mein Gott, Madame,« rief ich, »Sie behandeln mich, als ob ich Ihr Kind wäre!«

Nach einer kleinen Pause erwiderte sie:

»Wir haben auch einen Sohn bei der Armee.«

Ich hörte, wie ihre Stimme bei den Worten zitterte, und das Herz blutete mir: ich dachte an Katherine und Tante Gredel und konnte nichts mehr erwidern.

»Essen und trinken Sie,« sagte der Mann, indem er den Kuchen in Streifen schnitt.

Das that ich denn auch mit einem Wohlbehagen, das ich noch nie kennen gelernt hatte. Die Beiden sahen mir schweigend zu. Als ich fertig war, stand der Mann auf.

»Ja,« sagte er, »wir haben auch einen Sohn bei der Armee. Er ist im vergangenen Jahre mit nach Rußland gezogen, und wir haben keine Nachrichten von ihm erhalten ... Diese Kriege sind entsetzlich!«

Er sprach das zu sich selbst, indem er träumerisch mit auf dem Rücken gekreuzten Armen im Zimmer umherging. Ich fühlte, wie mir die Augen zufielen.

Plötzlich sagte der Mann:

»Nun, gute Nacht.«

Damit ging er hinaus. Seine Frau folgte ihm mit dem Wasserkübel.

»Tausend Dank!« rief ich ihnen nach. »Möge Gott Ihren Sohn zurückführen!«

Dann entkleidete ich mich, legte mich zu Bett und verfiel in einen tiefen Schlaf.


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