Georg Engel
Hann Klüth
Georg Engel

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II

Inzwischen zog der Sommer ins Land.

Der Konsul war mit seiner Tochter und ihrem Verlobten in das vornehme belgische Seebad gereist und die Geschäfte ruhten fast ausschließlich in den Händen mehrerer alter erprobter Prokuristen, sowie des unternehmenden Bruno. Und die Zeit forderte gerade in diesem Sommer die Unternehmungslust der Reedereien heraus.

Jenseits des Ozeans, vor Kuba, waren eines Morgens die amerikanischen Kanonen von selbst losgegangen und hatten mit ihrem Donner auch die deutschen Philister aus den Betten gejagt, die kleinen Rentner, die einen Teil ihres Ersparten in spanischen Werten angelegt hatten.

Aber noch lag ein spanisches Geschwader unversehrt in einem Küstenwinkel der Neuen Welt – man wußte nur nicht genau, wo. – Diese Flotte konnte hervorbrechen, konnte den Admiral Dewey überraschen, konnte – – – – die Spekulanten fieberten, die Depeschen flogen. – –

Für Bruno war dies eine gute Zeit. So angespannt, erregt und voll froher Laune hatte er sich noch nie befunden.

Ja, ja, Herzdame war für ihn eine gute Karte. Sie schlug.

Sie schlug wirklich. Er hatte jetzt stets das Portemonnaie voller Goldstücke und die Brieftasche gefüllt mit Scheinen. Zu Mittag, in der vornehmen Weinhandlung von Kroll, trank er jetzt beständig eine halbe Flasche Champagner, und für Line ersann er die zierlichsten Überraschungen.

Ach, was war doch Line für ein reizendes Liebchen. Wie wild, wie selbstvergessen hing sie an ihm, wie unberechenbar und wechselnd waren ihre Launen, die sie doch in seinen Augen nur begehrenswerter erscheinen ließen. Und dann – er merkte es deutlich – in der letzten Zeit war dieses kratzende Kätzchen bereits zahmer geworden, fügsamer; ihr Trotz schwand. Denn nur so konnte er es sich auslegen, daß sie häufig in den knappen Augenblicken, wo sie sich beide unbelauscht zusammenfinden konnten, kaum die Augen erhob, so schweigsam war und zu dem meisten Beifall nickte.

Nur, wenn er, was er so gerne tat, von der Zukunft sprach, dann konnte sie ihn mit dem feinen Gesicht, das jetzt manchmal so blaß aussah, so dringend, so fordernd ansehen, daß er oft ganz betreten wurde.

Was konnte das bedeuten?

Ja, ja –sie wünschte wohl das Ende, ihre Gedanken hatten sich gewiß in dem langen, wehenden Brautschleier verfangen; und der sollte auch bald um ihr Haupt fließen – aber ihre kleinen Füße mußten dann in goldenen Schuhen wandern, denn in solch kleine Beamtenexistenz würde sich ja dieses lebenshungrige Geschöpf nicht fügen; dazu hatte er ihr die Zukunft schon zu herrlich ausgemalt – und auch er ertrug solche Beschränkung nicht, er sicher nicht; das durfte nicht das Ende sein.

Schließlich gehörte ja nur ein einziger harter Entschluß dazu, den mußte er eben fassen. Alle kleinen Versuche waren ja bereits geglückt!

Und doch!

Wenn er so des Morgens durch die alten Bureaus ging und den leeren Platz des Konsuls mit dem durchgedrückten Lederkissen sah, die abgeschabten verbrauchten Pulte, den erblindeten alten Koloß von Geldschrank, dann befiel ihn Zaghaftigkeit, dann starrte er vor sich hin und seine Kollegen mußten mehrmals fragen, bevor er Antwort erteilte.

Und eines Morgens erhielt er doch in diesem Schwanken eine Nachricht, die ihn hätte alarmieren müssen.

Ein jüngerer Beamter trat vor ihn.

»Wissen Sie schon?«

Keine Antwort.

»Die amerikanischen Schiffe sollen durch feindliche Minen total vernichtet sein –«

»Was? – was sagen Sie?«

»Hier – Depesche aus London.«

Bruno taumelte auf.

Da war es! – Da war der Moment, der ergriffen werden mußte.

Aber er stand und sah mit zitternden Händen auf die Gesichter der Beamten, sah auf die alte verräucherte Tapete, hörte auf das Knarren der Drehböcke und richtete seinen Blick verwundert auf den Verschlag, hinter dem der Kassierer, ein gebücktes, zitterndes Männchen mit blauer Brille, seit Jahrzehnten die Häufchen der Kassenscheine schichtete und den Abgang mit Kreide auf den Zähltisch schrieb.

Langsam sanken ihm die erhobenen Hände, die Depesche flatterte zu Boden, ein leises Stöhnen entrang sich der gequälten Brust.

Das um ihn herum, das Alte, Solide hatte noch einmal seine Macht geübt. Der Brauch, die Gewohnheit erwies sich noch einmal als der Stärkere.

Er stand und lauschte ängstlich auf das Kritzeln der Federn, das Rauschen der Folioseiten und das Ächzen des alten Geldschrankes, als sollten ihm alle diese etwas Tröstliches sagen. Und von dem Platz des Konsuls schien eine spöttische Stimme zu dringen: »Na, Klüthchen, wieder mal so tief in Gedanken?«


»Lining,« sagte Fräulein Dewitz an demselben Nachmittag, »du gehst so viel hin und her, mein Kind, ohne recht eine Arbeit anzufassen; die Strümpfe zum Beispiel, die du für mich stricken sollst, liegen nun schon seit ein paar Tagen unberührt auf dem Nähtisch; was ist dir denn? – Du siehst auch so bleich aus und lachst gar nicht mehr, wie früher.« – Sie rückte sich ihre Brille zurecht und blickte das Mädchen forschend an: »Fehlt dir etwas?«

Die Gefragte blieb stehen und verzog den Mund zu ihrem alten Lächeln: »Nichts,« erwiderte sie gleichgültig, und doch ballten sich ihre Hände fast krampfhaft und öffneten sich wieder, ohne daß sie es selbst fühlte.

Die Handarbeitslehrerin, die auf dem Tritt am Fenster saß, um beim Kaffeetrinken durch den Fensterspiegel die Vorübergehenden zu beobachten, setzte ihre Tasse nieder und wollte ihre Pflegebefohlene auf andere Gedanken bringen.

»Was ich dir noch sagen wollte, Lining,« sprach sie, »heute Vormittag, als du auf dem Markt warst, da war dieser alte schnurrige Lotse aus Moorluke wieder hier, der sollte uns nämlich einen Gruß von deiner Mutter bestellen und erzählte, daß es deinem Bruder Hann schon seit langem wieder besser ginge. Darüber freute ich mich sehr, und da behauptete der Lotse, er werde Hann die Rettungsmedaille verschaffen, denn, wie er sagte, wäre er ein genauer Freund von unserem Landrat, worüber ich wieder herzlich lachen mußte. Aber –« die alte Dame schob sich die Brille auf die Stirn, »Lining, was ist denn das? du hörst ja gar nicht zu?«

Line stand vor ihr und wurde bald blaß, bald rot.

»Ich weiß auch nicht,« stieß sie plötzlich entschlossen hervor, »ich möchte ein bißchen an die Luft.«

Die gute alte Dame wurde wirklich besorgt.

»Ja, ja, Lining, tu das und bringe mir gleich etwas aus der Bibliothek mit. Am liebsten wieder einen historischen Roman. Etwas, was unterhaltend und belehrend zugleich ist. Weißt du, wie neulich diese Christenverfolgungen. Daran habe ich mich sehr erbaut. Nun sput dich aber, mein Kind, daß du zum Abendbrot wieder zurück bist.« – –

Kurz nach Bureauschluß stieg Bruno die engen Treppen des Hinterhauses hinauf, in dem er, sowie einige höhere Beamte Hollanders wohnten.

In seiner Hand hielt er die Morgenausgabe der »Stralsundischen Zeitung«, in der ebenfalls die Gerüchte über den großen spanischen Seesieg genau verzeichnet standen.

»Wenn man das sicher wüßte,« dachte er, während die Stufen unter ihm ächzten, »aber die Gefahr, diese fürchterliche Gefahr.«

Und ihm fiel das kleine Lotsenhaus in Moorluke ein, und die Angst senkte sich wieder auf seinen Nacken, als hätte er eine überschwere Last die Treppen hinaufgetragen.

»Wer da einen Weg wüßte?«

Schwerfällig wie nie, zerrüttet von seinen eigenen Gedanken, betrat er sein kleines Zimmer, das noch in Dunkelheit lag.

Er schritt an den Tisch und wollte nach Zündhölzern suchen; da knisterte etwas.

Bruno hielt inne.

Von dem Stuhl am Fenster erhob sich eine Gestalt, die rasch auf ihn zueilte, um ihm die Hand auf den Arm zu legen, als wolle sie ihn hindern, den Raum zu erleuchten.

Die Hand zitterte.

»Bruno.«

»Herrgott, Line. Wie kannst du hierher kommen? Wenn dich jemand gesehen hätte?«

»Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Du mußt mich anhören.«

»Lining; was hast du denn? – Soll ich nicht Licht machen?«

»Nein.«

Und dann trat sie ihm noch näher, ihre Finger umspannten seinen Arm fester und fester, und mit heiserem Flüstern teilte sie ihm ihr Geheimnis mit.

Allmählich erstarb das Raunen, Ruhe trat ein; es waren zwei schreckensbleiche Gesichter, die sich jetzt in der Dunkelheit ratlos anstarrten.

Aber dann – sie hatte sich nicht geirrt. Erschüttert, wie er war, fiel er vor ihr nieder, umklammerte sie in der Dunkelheit, und unter hervorbrechenden Tränen, zerschmettert in seiner nachgiebigen Natur, küßte er ihre Füße, ihre Hände, und zwischen tausend Schwüren und Bitten suchte er ihr ihre Angst auszureden, während sein eigenes Herz zitterte.

Zukunftsbilder, rosig, leuchtend, bestrahlt von seiner augenblicklichen Erregung, kamen ihm wieder wie von selbst in den Mund; aber sie ließ sich nicht mehr irre machen: »Also acht Tage noch,« drängte sie »dann kommst du zu Fräulein Dewitz?«

»Gewiß – gewiß – wie kannst du nur fragen?«

»Und auch zu den Unseren nach Moorluke.«

Auch das beteuerte er, und tief aufatmend, erleichtert, bot sie ihm den Mund.

»Weißt du,« sagte sie, wie zu sich selbst, »ich glaube, wenn du schlecht gewesen wärst, ich hätt' mit einem Messer nach dir gestochen.«

»Line,« stammelte er.

»Nein, nein.«

Und wieder reichte sie ihm die Lippen und war im nächsten Moment die Treppen hinuntergehuscht.

Er blieb allein und blickte auf die Stelle, wo sie gestanden. Dabei wunderte er sich, daß vor dem Ereignis die Qual seiner Gedanken plötzlich von ihm genommen war, er konnte überhaupt nicht mehr nachsinnen, sondern stand und horchte halb teilnahmlos auf das Klopfen seines eigenen Herzens.

Wie das hämmerte!

Ob das Angst war?

Angst? Wovor?

Wovor?

Und plötzlich war das jagende Entsetzen wieder da. Unheimlich sausende Bilder blitzten an seinem geistigen Auge vorbei, immer schneller und folgerichtiger, der Atem in seiner Brust schien stillzustehen.

Was nun?

Nun kam eben die Arbeit, die Arbeit für Weib und Kind, die ewig gleiche Mühe eines kleinen Beamten. Morgens – mittags – abends, immer würde der Drehbock vor seinem Pulte knarren, immer fühlbarer das Abhängigkeitsverhältnis werden, immer mehr die Freuden schwinden, nach denen er gehungert. Denn ein kleiner Beamter spart.

Kein Vergnügen, kein Luxus, keine Reisen mehr. Sparen–sparen.

Zornig warf er die Hand vor, als wollte er nach dem Worte schlagen, das ihm in seiner Jugend bereits so viel Pein verursacht, aber die Bewegung brachte ihn nur noch mehr in die Gegenwart zurück.

Lieber Gott im Himmel, es mußte ja sein, sofort, schnell, überstürzt, ehe die Katastrophe da war, – denn ein Zögern, ein Entrinnen gab es nicht mehr.

Oder doch? – Oder doch?

Mitten in der kleinen dunklen Stube wurzelte er plötzlich fest. Mit blendender Deutlichkeit, farbenprächtig, als ob er herrliche Lichtbilder sähe, flog es an ihm vorüber.

Was war das?

Wogende See, Schlachtflotten, Kanonendonner, und dann wieder das Drängen und Wogen erregter Menschen an der Hamburger Börse. An den schwarzen Kurstafeln erscheinen und schwinden die Zahlen– – Freudenrufe werden laut. – Nein, nein, nicht daran denken.

Nur diesem einen Gedanken nicht weiter folgen, der das Leben so leicht, so mühelos machen könnte, der – –

Rastlos auf dem Drehbock sitzen, schreiben, schreiben, bis die Finger krumm werden, einrosten und sich von Hollander höhnen und abkanzeln lassen – – und – und –

»Licht.«

Wer hatte ihm die kleine grüne Lampe entzündet? Er weiß es nicht.

Wer gab ihm die Worte, die er dort auf das Papier warf?

Als der letzte Buchstabe stand, überfiel ihn eine lähmende Ermattung.

Mit stumpfer Gleichgültigkeit steckte er das Papier zu sich, nahm seinen Hut und schritt in den Sommerabend hinab.

So verfolgte er seinen Weg, ohne den Kopf zu erheben, matt und seelenlos, bis er die große, neuerbaute Postanstalt am Markt erreicht hatte.

An einem Seiteneingang leuchtete hier ein rotes Transparent: »Telegraphenamt«.

Das war sein Ziel.

Er trat an den Schalter, der Beamte las und fragte: »Nach Hamburg?«

»Ja, nach Hamburg,« antwortete er gleichgültig, »Bankier Solmsen.«

Dann zahlte er und trat wieder in den Sommerabend hinaus.

Merkwürdig, der Platz war wie ausgestorben, auch die anstoßenden Straßen schienen leer. Bruno hatte plötzlich das Gefühl, als ob er gar nicht hierher gehöre, sondern ausgestoßen, an einem unbekannten Orte weile.

Dort die roten gotischen Häuser, um die die Abendschatten webten, er blickte zu ihnen hinüber, befremdet, als sähe er sie zum erstenmal.

Wohin nun?

Nach Haus – natürlich, nur zurück in das kleine Zimmer, und dann schlafen und alles vergessen.

Als er das Geschäftshaus wieder erreicht hatte, da stand ein Schreiber unter dem Torweg. Der trat dem Prokuristen ehrerbietig näher und teilte ihm mit, daß oben auf dem Zimmer des jungen Herrn ein Fremder auf Herrn Klüth warte.

Bruno stutzte einen Moment, dann stieg er teilnahmlos und ohne Neugierde die Stufen hinauf.

In dem Zimmer brannte noch die kleine grüne Lampe. Und als der junge Kaufmann öffnete, da sah er mitten in dem Stübchen einen schwarzgekleideten Mann, der ihm den Rücken kehrte und sich jetzt rasch wandte.

Es war sein Bruder Paul.

»Du?« fragte der Ankömmling enttäuscht und zugleich etwas erschreckt, denn das Erscheinen des Geistlichen versetzte ihn, seitdem er soviel vor dem Älteren zu verbergen hatte, stets in Angst und Unruhe.

Heute sollte ihm jedoch beides erspart bleiben.

In des Theologen eckigen Zügen arbeitete eine Verklärung, wie man sie sonst fast niemals an ihm wahrnehmen konnte, und als er jetzt auf den Jüngeren zuschritt, um dem Bruder, der sich vor Müdigkeit und Erschöpfung auf einen Stuhl niedergelassen, die Hand zu schütteln, da leuchtete soviel Freude aus seinen Augen, daß es dem Sitzenden trotz seiner Gebrochenheit auffiel.

»Paul, was ist dir?«

»Was Gutes.«

»Aber was?«

»Ich bin zum Pastor gewählt – zum Strandpastor auf dem Walsin, Junge.«

Die Stimme des Sprechenden zitterte vor Bewegung, und dann setzte er noch hinzu, jetzt wäre also das Ziel erreicht, das dem alten Lotsen Klüth während seines ganzen Lebens vorgeschwebt. Wenn der das noch gesehen hätte, »und dich, Bruno, der du doch auch auf dem Wege bist.«

Der neue Pastor stockte, denn er gab sich nicht gern solch weichen Erinnerungen hin, aber noch immer hielt er die Hand des anderen, und so merkte er wohl kaum, daß sich das Haupt des Sitzenden tiefer und immer tiefer neigte, bis die Stirn fast die Finger des Geistlichen berührte. Aber ehe Paul noch ein Wort des Befremdens hervorbringen konnte, sprang der Jüngere unvermittelt auf und riß den Strandpastor stürmisch an seine Brust. Paul mußte über das aufbrausende Temperament des jungen Kaufmanns lächeln. Und doch tat dem Harten eine solche Liebkosung wohl.

Dann folgten rasche, heftige Fragen.

»Wissen's die Unsrigen schon?«

»Ja, von Line komme ich eben.«

Bruno schlug die Augen nieder.

»Merkwürdig,« fuhr der Ältere fort, während er nachdenklich an der Lampe schraubte. »Als ich ihr's erzählte, tat sie etwas, was ich ihr gar nicht zugetraut hätte. Sie weinte und war gar nicht zu beruhigen. Ich glaube, die Stadt bekommt ihr nicht recht.«

Bruno rückte seinen Stuhl.

»Und unsre Mutter?« fragte er beklommen.

»Zu der fahre ich eben mit der Hafenbahn. Du solltest mich begleiten, Bruno; denke doch, wie sich Mudding freuen würde.«

Aber der Jüngere lehnte dies ab. Er hätte noch zu korrespondieren – die aufgeregte Zeit – und seine eigene Müdigkeit. – Und so kam es, daß nach einiger Weile Paul allein die Stufen hinabstieg.–

Als er über den Hof schritt, stand Bruno am Fenster und blickte auf die dunkle Gestalt hinab, die sich in ihrem schwarzen Rock kaum von der Nacht löste.

Laut und fest tönten ihre Tritte auf dem Pflaster, und dem Zurückbleibenden war es, als müßte er sich an diese weichende schwarze Gestalt klammern und sie zurückhalten, um jeden Preis. – Als er aufblickte, stieg der Mond gerade über das Gehöft. Alle Zacken und Spitzen ränderte er silbern, und langsam rollte sich ein Lichtteppich über den Hof. »Natürlich,« sprach Bruno zu sich selbst, »es muß ja wieder hell werden.« Und in dem Augenblick war er getröstet.


Das war ein Sonntag, den die Klüths nie vergaßen. Solange sie lebten.

Als längst alles zerschlagen war, kein Stück mehr auf dem anderen stand, Särge in den Gräbern schon morsch geworden, und nur der heulende Wind hinüber und herüber bangen, sehnsüchtigen Herzen Kunde trug, da dachten die einzelnen noch immer an diesen Tag und stückelten ihre Erinnerungen zusammen. – –

Die Sommersonne guckte so friedlich an jenem Morgen in das Altjungfernstübchen, als wollte sie selbst noch einmal jeden Lackstuhl besonders polieren.

»Blank – blank – blank,« summten ihre Strahlen. Und Fräulein Dewitz selbst sah so sauber aus, wie kaum jemals zuvor und niemals wieder nachher.

Sie las aus der Zeitung vor.

Und Line stand vor dem Spiegel und steckte sich eine rote Schleife an. Froh wie selten in den letzten Tagen. Sie beobachtete sich selbst mit Erstaunen. Sie wurde immer hübscher. Sie drehte und wandte sich.–

»Höre, Lining,« las die Handarbeitslehrerin kopfschüttelnd: »Ganz fett gedruckt steht es hier. Die Amerikaner haben dem spanischen Admiral Cervera alle Schiffe in den Grund gebohrt. Er selbst ist ins Wasser gesprungen, aber sein Sohn hat ihn gerettet. Das muß doch ein tugendhafter junger Mann sein. Aber wie gesagt, ich mag die Amerikaner einmal nicht leiden. Solche Republikaner halte ich für ein sehr wildes Volk.« Hier wurde sie unterbrochen, denn es klingelte.

Bruno trat ein.

Es war für die beiden Damen eine Freude, zu sehen, wie elegant und adrett der junge Mann sich wieder in seinem grauen Sommeranzug ausnahm. Er küßte dem alten Fräulein die Hand, sagte ihr allerlei Angenehmes über ihr Aussehen, erzählte, daß der Konsul gegen Mittag zurückerwartet werde, und schloß endlich mit der Bitte, ob ihn Line nicht nach Moorluke begleiten dürfe. Er möchte sich wieder einmal nach den Seinen umsehen.

Diese Erlaubnis konnte nun leider nicht erteilt werden, wenn auch Fräulein Dewitz die Familienanhänglichkeit der beiden jungen Leute nicht genug rühmen zu können glaubte, indessen das alte Fräulein schickte sich eben an, den Konsul und Dina von der Bahn abzuholen, und Line müsse sie begleiten. Dinas wegen. Das sei so in der Ordnung. Aber in den nächsten Tagen. Gern?–sehr gerne.

Bruno schien durch diese Abweisung etwas betreten zu werden, er plauderte noch ein Weilchen und wurde dann von Line hinausbegleitet.

Hinter der Glastür hielt sie ihn noch einen Augenblick fest.

Später blieb es ihr unbegreiflich, wie leicht und unauffällig sich alles abgewickelt hatte. Aber die großen Momente des Lebens pfeifen vorüber wie die kleinen, wie dieses selber! – Was bleibt?

Sie legte ihm leicht die Hand auf die Schulter und schmiegte sich an ihn.

»Bruno,« fragte sie, indem sie ihre schwarzen Augen drängend zu ihm erhob, »es bleibt doch bei unserer Verabredung?«

»Bei unserer?« – Er warf rasch ein »Ja – ja« hin und schien es sehr eilig zu haben.

»Übermorgen kommst du also zu Fräulein Dewitz – nicht so?« fuhr sie fort.

Er nickte, zeichnete mit dem Stock allerlei Figuren auf den Boden der Diele und griff dann fest nach ihrer Hand.

»Line, du sollst doch mit mir kommen.«

»Du hörst ja, ich darf wieder mal nicht. Außerdem bin ich auch noch nicht ordentlich angezogen.«

»Wie du hier stehst.«

»Wieso? – es ist doch nicht etwa was Schlimmes geschehen?«

Sie starrte ihn an.

Er erschrak. »Nein, nein, was denkst du? Durchaus nicht.«

Da lächelte sie wieder, und er war bereits die erste Stufe hinab, als sie die Lust anwandelte, mit dem Finger leicht nach seinem Nacken zu schnippen.

Da sprang er plötzlich zurück, zog die Überraschte an sich, und ein rascher, verstohlener Kuß brannte auf ihren Lippen.

Doch das Gescharr, das durch den feinen Streusand zu ihren Füßen erregt wurde, erschreckte Line.

Sie bog sich zurück.

»Du,« flüsterte sie warnend.

Da streichelte er noch einmal ihre Wange und glitt mit wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Line aber huschte zu Fräulein Dewitz zurück, und als sie wieder an dem Spiegel vorüber mußte, da schwellte sie das stolze Gefühl, wie unüberwindlich doch die Macht der Schönheit wäre, und sie huschte wieder hin und her und schnurrte vor sich hin, genau so, wie sie es als Kind getan hatte.


Später erinnerten sich die in Moorluke ebenfalls ganz genau daran und wunderten sich, daß sie es erst so spät verstanden hätten.

Und es war doch so einfach.

An dem Sonntag Nachmittag, zu jener Tagesstunde, wo die Fischer in Gruppen am Bollwerk hocken, um sich etwas zu erzählen, und wo die Mädchen Arm in Arm vorüberwandern, da hatte auch Bruno nach seinem Besuch im Elternhause mit dem Philosophen Hann am Rick gestanden, hatte nachlässig ins Wasser gesehen und den Bruder so teilnehmend nach allem gefragt, wie noch nie.

Woher er die rote Narbe über der Stirn empfangen, und ob es wahr sei, was oll Kusemann ihm im Vorübergehen zugeraunt, daß Hann jetzt heiraten wolle – und wer denn die Erwählte wäre, und schließlich müsse sich Hann doch ein hübsches Sümmchen erspart haben, wenn er an einen eigenen Herd denke?

Aber Hann hatte nur zu allem bedächtig den Kopf geschüttelt und dann war herausgekommen, daß er bis jetzt nur für Siebenbrod geschafft habe, und daß er auch ferner bei dem Stiefvater in Wochenlohn bleiben wolle. Denn sicher sei sicher.

»Ja aber, Siebenbrod – der,« raunte oll Kusemann wieder im Vorbeiflitschen. »Auf der Sparkass' nennen sie ihn all ümmer Lütt-Rotschild.«

Später besann sich Siebenbrod, daß sich der feine Bruno, kurz bevor er die Rückfahrt in die Stadt angetreten, auch zu ihm gesellt hätte.

Der ehemalige Bootsmann saß gerade auf der Bank vor dem Teil des Häuschens, der gegen den Fluß gelegen war.

Siebenbrod hielt die Hände gefaltet und sonnte seine Hakennase.

Da entspann sich zwischen den beiden folgendes Gespräch:

»Wie hübsch bei Ihnen alles imstande ist, lieber Siebenbrod. Sie sind doch ein fleißiger Mann.«

Der Zesnerfischer drehte weiter an seinen Fingern: »Je, man hat weiter nichts gelernt.«

»Mir scheint, seit dem Tode meines Vaters müssen Sie unser Besitztum recht vermehrt haben.«

»Je,« sagte der Bootsmann und besah sich seine wollenen Strümpfe, die aus den Holzpantoffeln hervorguckten, »die Leute sind hier all so schlecht, sie sagen einen lauter solch dumm' Zeug nach.«

»Aber aus den zwei Kühen sind doch jetzt fünf geworden.«

»Je, das sag' ich man,« nickte Siebenbrod Beifall, »sie fressen mich rein auf. Wenn Ihre Mutter nich so viel frische Milch haben müßt', ich hält' die Küh' all längst wieder abgeschafft – aber Krankheit – Krankheit. Ja, ja, wie sagt noch's Sprichwort? Hast du 'ne kranke Frau im Haus – so trägt man bald den Tisch heraus – na, ja, das könnt keiner wissen.«

Damit erhob er sich und töffelte in den Flur.

Bruno starrte ihm nach.

Das war der letzte.

Und wieder stand er und wunderte sich, daß ihm weder leicht noch schwer war. Nur so furchtbar hohl, dumpf und öde, als wandle sein Geist nicht mehr mit seinem Körper zusammen.

Er verabschiedete sich kurz und fuhr mit den: nächsten Dampfer in die Stadt.


»Kusch, Sultan!« sagte der alte Johann zu dem Pudel des Konsuls, mit dem er zur Abendstunde auf dem Hofe des Geschäftshauses saß. »Kusch!«

Doch als sich der Lichtschein in einem der hinteren Kontore wieder zeigte, da knurrte der Pudel von neuem, und Johann stieg auf eine Kiste, um durch die Eisenstäbe in das Bureau zu sehen.

Gleich darauf kletterte er wieder hinunter.

»Kusching,« sagte er, »es is bloß Herr Klüth – das tut nichts.«


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