Georg Engel
Hann Klüth
Georg Engel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII

Es war früh am Sonntag morgen, als Bruno mit der Bitte zu Fräulein Dewitz ins Zimmer trat, ob Line ihn nicht zu einem Besuch bei den Eltern in Moorluke begleiten dürfe. Sein Bruder Paul, an den er ebenfalls gedacht, wäre in der Kirche.

»Ja, ja,« schob Fräulein Dewitz beifällig dazwischen, »den Gottesdienst versäumt Ihr Herr Bruder nie.«

Und unten vor dem Hause, berichtete der junge Kaufmann weiter, warte bereits des Konsuls Schlitten, den ihm sein Chef, damit sich die Pferde einmal auslaufen könnten, zur Verfügung gestellt.

Im selben Augenblick hörte man wie zur Bekräftigung lautes Schellengeläute.

Line stand wie erstarrt.

Die Hände preßte sie gegen ihre Brust, wie wenn sie sich selbst zurückhalten, bezähmen wolle, damit sie dem hübschen, frischen Menschen nicht um den Hals falle.

In einem Schlitten – aus der Stadt heraus – entzogen der ewigen Obhut der Lehrerin, sich austummeln können, und zwar mit ihm, den sie so gern hatte!

Oh, vergessen, wie weggeweht war die Vernachlässigung, die er ihr so lange hatte angedeihen lassen – und wenn es auch nur ein Tag war – ein einziger – nur einmal fort aus dieser Unterordnung und Verstellung.

Unter ihrem hübschen, blauen Kleide klopfte ihr das Herz vor Aufregung. Abwechselnd rot und blaß erwartete sie die Entscheidung ihrer Herrin. Wenn die nun »nein« sagte? –

Fräulein Dewitz hatte inzwischen nachgerechnet. Aber sie vermochte trotz aller Regeln des kleinstädtischen Anstandes keinen Grund zur Weigerung zu finden. Es handelte sich ja am letzten Ende um Bruder und Schwester, und der Ausflug währte nur wenige Stunden, führte zudem in das Elternhaus, und vor allen Dingen: der Schlitten war extra von dem Konsul gestellt. Das entschied.

Einen Moment schoß es ihr zwar noch durch den Kopf, warum der wohlerzogene junge Mann nicht auch sie selbst zu dieser Fahrt invitiere, aber dann kam ihr der schmeichelhafte Gedanke, daß er wohl nur nicht wage, sie, das Fräulein Dewitz, in sein Elternhaus zu führen.

»Schön–schön.«

Mit gutmütigem Kopfnicken erteilte sie die Erlaubnis, reichte dem galanten jungen Herrn würdevoll die Finger zum Handkuß, freute sich an seiner tiefen Verbeugung, und nachdem sie ihn noch gebeten, ja nicht ihre Grüße an seine Mutter zu vergessen, schärfte sie ihm besonders ein, daß Line Punkt neun Uhr zu Hause sein müßte.

»Nicht später – nicht wahr, Sie verstehen mich, mein lieber Herr Klüth?«

»Gewiß, vollkommen, gnädiges Fräulein.«


So saßen denn die Geschwister, dicht nebeneinander, wohlverpackt in dem leichten, eleganten Schlitten.

Strahlender Sonnenschein, blauer, heller Frost war dem Unwetter von gestern gefolgt.

Die beiden Rappen wieherten laut in die leuchtende Weiße hinein, pfeilschnell, schnurgerade schoß der Schlitten über die funkelnde Bahn der Chaussee, die auf einem Umweg über das Klosterdorf führte.

Da fiel es Bruno, über dem gleichfalls die ganze Glückseligkeit dieses Wintertages lag, auf, daß seine Begleiterin so mäuschenstill neben ihm verharre.

Verwundert blickte er auf sie hin.

Das war doch seltsam. Da saß sie, als wenn sie ihn, den Kutscher, den Schlitten, die beiden schnaubenden Rosse, alles Leben überhaupt ganz vergessen hätte. Den Kopf hielt sie vorgebeugt, die Lippen waren leicht geöffnet, als schlürfe sie die pfeifende Luft wonnetrunken ein, die Augen blitzten immer geradeaus auf die glitzernde Strecke, starr, erwartungsvoll, ein unerhörtes Wunder heischend.

Bruno wurde von dem Bild gefangen. Was konnte das bedeuten?

Er wußte nicht, daß diese sieben Jahre der Knechtschaft plötzlich von ihr abfielen, daß hier auf den stillen, freien Feldern ein freigewordenes, sich auf sich selbst besinnendes Weib neben ihm sitze.

»Line,« murmelte er erstaunt, da ihr Schweigen ihn immer mehr befremdete.

Da lächelte sie beinah unwillig und schüttelte den Kopf, wie wenn der Traum noch weiter klingen solle.

Seltsam.

Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, und dabei fiel ihm ein, daß dieses schlanke, so ganz eigenartige Geschöpf viele Jahre aus seinen Gedanken entschwunden gewesen, verdrängt von den sich jagenden Eindrücken der großen Stadt.

Was mochte wohl aus ihr geworden sein?

Er hatte sich nicht einmal Mühe gegeben, sich danach bei seinem älteren Bruder zu erkundigen. Allerdings, so sagte er sich, wie konnte sie sich auch sonderlich entwickelt haben? In ihrer abhängigen, fast dienenden Stellung bei einer alten Handarbeitslehrerin? Nein!

Aber elegant sah sie aus. Sehr vornehm. Und das schmeichelte seinem auf das Äußerliche stark gerichteten Sinn.

Wie voll und dabei doch schlank sie dies graue, weiche Pelzjäckchen erscheinen ließ.

Vorsichtig prüfend strichen seine behandschuhten Finger an dem Rauchwerke hinunter und fuhren zurück, als sie den runden, festen Frauenarm spürten.

Seine Nachbarin sah ihn im selben Moment an. Ein rascher Blick streifte sein Gesicht, dann rückte sie näher zu ihm und schaute wieder zu ihm auf.

Bruno stutzte.

Ihre roten Lippen schienen ihn verspotten zu wollen. Im nächsten Augenblick aber brauste plötzlich der ganze glückselige Rausch der Jugend in ihm empor.

Alle Bedenken, daß dies seine Pflegeschwester wäre, die sich ihm anvertraut, übersprang er.

Zuversichtlich zwirbelte er sich den Schnurrbart und legte, wie zufällig, seinen Arm um ihre Schultern.

»Nein,« sagte sie spöttisch und schob kräftig seine Hand zurück.

Das brachte Bruno zur Besinnung. Siedendheiß stieg es ihm in die Schläfe. Zur rechten Zeit fiel ihm ein, was er eben beinahe gewagt, und wie seltsam sich die Kleine dabei benommen hätte. Abwehrend, und doch – – –

Mein Gott, was mochte sich nur hinter dieser weißen, von schwarzen Haaren umringten Stirn abspielen?

Da schreckte sie ihn von neuem auf.

»Hast du Geld?«

»Ja, wozu?«

»Sieh – den Leierkastenmann da auf dem Prellstein – mit dem Stelzfuß – gib was.«

Er schüttelte sein Portemonnaie über ihrem Schoß aus.

Es waren lauter Talerstücke darin.

»Schenkst du mir was davon?« flüsterte sie in höchster Eile.

Er vermochte nur noch ein »Ja« zu stammeln.

Da hatte sie auch schon mit einem erstickten Jauchzen drei, vier der Münzen in den Händen, schüttelte sie, ließ sie klingen, und plötzlich hochaufgerichtet, schleuderte sie mit einer kräftigen Bewegung ein Silberstück nach dem Veteranen hin.

Die Leier kreischte auf.

»Danke,« scholl es herüber.

Und noch eins – und noch eins.

Der Stelzfuß schwenkte seine Mütze. – »Hurra,« verklang es.

»Ah – das war schön – das war schön!« sank Line in ihren Sitz zurück.

»Line,« stotterte Bruno. Aber seine Augen blitzten, die wilde Tollheit des Mädchens hatte ihn angesteckt. Krampfhaft drückte er ihr beide Hände unter der Decke. »Ah – das war schön – das war schön,« wiederholte sie wie berauscht und schloß die Augen. Gleich darauf entzog sie ihm hastig ihre Finger. »Laß das,« verbot sie ihm herb, und zwischen ihren Augenbrauen erschien eine Falte. »Wozu soll das?«

Da hielt der Schlitten.

Mehrere Gefährte, die auf der Landstraße vor einem schmucken Krug hielten, sperrten den Weg.

»Wollen wir auch einen Augenblick da hinein. Kleine?« fragte Bruno, wie wenn er sich auf andere Gedanken bringen wollte, »denn Vater Siebenbrod wird uns doch gewiß vor dem Mittag nichts Warmes vorsetzen,« und als Line erfreut mit einem Ruck hochsprang, half er ihr aus dem Gefährt herab.

Er nahm noch wahr, wie fein und schmal ihr Fuß sei, als sie die Röcke ein wenig schürzte.

»Ein prachtvolles Mädel,« dachte er, »um einen toll zu machen. Aber sachte, sachte.«

Bald saßen sie in dem Krugzimmer an einem Tisch am Fenster.

Es war ein kahler, lichtblauer Raum. Nicht ein Bild hing an den Wänden, nur im Sonnenschein konnte man eine Herde Winterfliegen bemerken, die unbeweglich ihren langen Schlaf hielten.

Aus der Ecke feuerte ein eiserner Ofen rotglühende Hitze. Aus dem Nebensaal drang das Gemurmel zechender Menschen.

Erst schauten die beiden schweigend eine Weile auf die schneeweiße Landstraße hinaus, wo ihre Schlittenpferde unter den Decken dampften, dann brachte eine halbwüchsige Wirtstochter Glühwein, und die beiden jungen Leute stießen miteinander an. Sie blickten sich dabei in die Augen, der junge Mann herausfordernd, als ob er auf des jungen Mädchens Gesundheit tränke, was sie nur schnippisch und mit einem Achselzucken aufnahm. Wohlig strömte das heiße Getränk ihnen durch die Glieder. Line reckte sich, ihre Wangen, auf denen im Sonnenlicht ein feiner Flaum zitterte, färbten sich dunkler. Mit einer raschen Bewegung zog sie den Handschuh von der einen Hand und klatschte ihrem Begleiter damit leicht auf die Finger.

»Du,« forderte sie, indem sie sich ein wenig über den Tisch bog, »eh' es langweilig wird, erzähl' was. Von dir.«

»Von mir?«

»Ja, weißt du noch, wie wir damals, bevor du zu Hollander gingst, zusammen auf der Mauer im Hain saßen, und was du mir da alles erzähltest? Sag' mal, ist davon schon etwas in Erfüllung gegangen? – Hast du Hoffnung, bald reich zu werden?«

Bruno warf sich in die Brust und drehte überlegen an seinen goldenen Ringen.

»Ich habe vorläufig viertausend Mark Gehalt,« warf er stolz hin, während er sich unternehmend durch sein Gelock fuhr.

»Das ist nicht viel,« äußerte sie bestimmt.

Er wurde eifrig.

»Aber in wenig Wochen schon werd' ich Prokurist.«

»Bekommst du dann mehr?«

»Viel mehr.«

»Gut – das ist recht – und dann –« sie lehnte sich hintenüber, hielt ihren Kopf mit beiden Händen und blinzelte ihn spöttisch an, »dann heiratest du Dina Hollander.«

Bestürzt fuhr er zurück, glühend rot vor Arger darüber, weil ihn dieses merkwürdige Wesen durchschauen wollte, und daneben schmeichelte es ihm doch nicht wenig, daß sein Name mit dem der Konsulstochter überhaupt in eine Verbindung gebracht werden konnte.

»Woher willst du das wissen?« fragte er nichtsdestoweniger von oben herab »Das werde ich doch nicht jedem auf die Nase binden!«

Sie maß ihn mit einem halb mitleidigen Lächeln.

»Du glaubst doch wohl nicht, Bruno, daß man dir das damals bei Hollanders nicht anmerken konnte? Dann, laß dir sagen, ich habe es auf den ersten Blick gesehen!«

»Du?«

»Ich – jawohl.«

»Donnerwetter,« entfuhr es ihm unwillkürlich, und er starrte auf die schwarze, kleine Hexe ganz fassungslos, die sich bedächtig auf ihrem Stuhl schaukelte, heimlich sich an seiner Verblüffung weidend.

Herrgott, Herrgott, was war nur aus ihr geworden.

»Mädel, wie alt bist du denn eigentlich?« stammelte er zuletzt.

»Einundzwanzig.«

»Dein Wohlsein,« fuhr sie fort, indem sie, wie im Hohn, das Glas gegen ihn hob und ihn durch die scharfgeschliffenen Ränder mit einem zugekniffenen Auge anblinzelte. »Ah, das macht warm.«

Damit dehnte sie ihre Glieder, erhob sich und schritt ein paarmal mit ihrem leicht wiegenden Gang im Zimmer umher.

Immer gefolgt von seinen Blicken, die sich an ihren Bewegungen entzündeten.

»Ein schönes – schönes Mädel,« dachte er wieder. –

Plötzlich klingelte Musik durch seine Gedanken. Klirrend und klimpernd begann der Musikautomat aus der Ecke eine Melodie abzuschnurren.

Mit vorgebeugtem Leib, den Kopf nach ihrem Gefährten gewendet und den Finger leicht gegen die roten Lippen gelehnt, während die andere Hand noch an der Öffnung weilte, durch die sie eben die kleine Münze geschoben, so sah Bruno das zierliche Mädchen lauschen.

»Line.«

»Pst – der Faustwalzer.«

Mit einer raschen Gebärde schürzte sie den Rock und machte ein paar Tanzschritte. Er sah die reizenden kleinen Füße sich drehen, da hielt er sich nicht länger. Mit einem lauten Freudenruf eilte er auf sie zu, wollte ihr als Tänzer seinen Arm um ihre Hüfte schlingen, – allein da stockte sie, wurzelte unbeweglich fest und schickte einen finsteren Blick zu ihm empor. »Du,« sprach sie scharf, »ich verbat mir das schon einmal.«

Und da steckte auch schon Friedrich, der Kutscher, seinen Kopf in die Stube hinein.

»Na?« fragte er wartend.

»Jawohl, wir kommen,« versetzte Line, und ihrem Begleiter die Bezahlung überlassend, schritt sie aufgerichtet auf die Landstraße hinaus, ohne auch nur den Kopf nach dem Verlassenen zurückzuwenden.


 << zurück weiter >>