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Lizzie hatte immer erregter gesprochen. Krag suchte sie, so gut er vermochte, zu beruhigen; aber vergebens. In überstürzender Weise erzählte sie, was vorgefallen war. Sie schien ihre Angst durch hysterische Hast betäuben zu wollen. Dem Detektiv gelang es aber dennoch, ein Bild der ganzen Sachlage zu gewinnen.
Nachdem Herbert das Hotel, wo er alles auf den Kopf gestellt hatte, in fassungslosem Zustande verlassen hatte, hatte Lizzie ihn sagen hören: Das muß der »Engel« gewesen sein; niemand anders kann es getan haben. Lizzie war ihm dann, ohne von ihm gesehen zu werden, gefolgt.
Am Eingang des Hotels Treviso hatte er geschellt. Von einem gegenüberliegenden Torweg aus hatte Lizzie mit angehört, daß er in heftiger Weise den »Engel« oder Madame Conneau, wie sie in Wirklichkeit hieß, zu sprechen verlangte. Der Portier, jene martialische Erscheinung, hatte ihm dasselbe gesagt, was er später Lizzie gegenüber wiederholte, nämlich, daß Madame um vier Uhr mit dem Pariser Zug abgereist sei, er wüßte aber nicht wohin. Möglicherweise nach Paris; vielleicht würde sie auch schon unterwegs aussteigen. Nähere Adresse hätte sie nicht hinterlassen.
Einigen ziemlich laut gesprochenen Bemerkungen hatte Lizzie entnommen, daß Herbert dort im Hotel übernachtet hatte.
»Der Herr schlief gegen ein Uhr auf seinem Stuhl ein,« hatte der Portier gesagt. »Es war nicht möglich, Sie zu wecken. Sie schienen ziemlich viel getrunken zu haben.«
Bei diesen Worten hatte Herbert aufgeschrien.
»Das ist nicht wahr. Ich war gar nicht betrunken. Man hat mir ein Schlafmittel in den Wein gemischt.«
Die Antwort bestand nur in einem überlegenen und infamen Lächeln.
Herbert hatte auch dem Portier gesagt, daß ihm etwas sehr Wichtiges abhanden gekommen wäre. Es schien Lizzie, er hätte von einem Schlüssel gesprochen. Daraufhin ließ ihn der Portier hereinkommen, damit er selbst in dem Zimmer nachsuchen konnte, wo er übernachtet hatte. Nach wenigen Minuten war Herbert aber ebenso verzweifelt wieder herausgekommen.
In einer gerade vorüberfahrenden Droschke, die er herbeigerufen hatte, war er zu seinem Hotel gefahren. Nun hatte Lizzie versucht, vom Portier Auskunft zu erhalten; als dieser sie jedoch mit kaltem Hohn zurückgewiesen hatte, war sie zu Asbjörn Krag geeilt, hatte aber doch noch erst das Telegramm an den Vater aufgegeben. Dies war der Inhalt ihrer Rede.
»Machen Sie mir noch Vorwürfe über die Absendung der Depesche?« fragte sie.
Krag überlegte einen Augenblick.
»Nein,« sagte er dann. »Was meinen Sie aber, das er ausrichten kann?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber vielleicht kommt er früh genug, um eine Katastrophe zu verhindern. Sie hätten Herbert sehen sollen. Noch niemals ist mir ein so verzweiflungsvolles Gesicht begegnet.«
»Die Uhr ist schon nach sieben,« sagte Krag, der nach der Uhr gesehen hatte. »Wenn Sir Cyrus sich in London aufhält, wird er jetzt im Besitz des Telegrammes sein.«
»Er mag nirgends anders als in London sein, wenn er sich nicht gerade auf einer Forschungsreise befindet, trennt er sich ungern von seinem Klub.«
»Gut, nehmen wir an, daß das Telegramm jetzt in seinen Händen ist. Aber glauben Sie wirklich, daß er einer anonymen Aufforderung Gewicht beilegt?«
»Das habe ich schon befürchtet,« entgegnete Lizzie. »Ich rechne aber damit, daß Cyrus von der geheimen und wichtigen Mission, die Herbert nach Ostende geführt hat, unterrichtet ist. Eine derartige telegraphische Aufforderung kann er doch unmöglich ignorieren, selbst wenn sie anonym ist. Ich kenne Cyrus; er ist impulsiv. Er handelt sofort.«
»Dann wird er kommen,« sagte Krag, »und wir können ihn noch vor Mitternacht erwarten. Nun müssen wir aber in Erfahrung bringen, was hier wieder gutzumachen ist. Wir werden wahrscheinlich das Rechte treffen, wenn wir annehmen, daß Ihrem Sohn wichtige Dokumente gestohlen worden sind. Uebrigens stimmen die Tatsachen nicht ganz. Herbert hat zwei Stunden im Hotel Treviso geschlafen. Der Portier behauptet, er sei betrunken gewesen. Herbert leugnet es ab und beschuldigt das Personal, ihm ein Schlafmittel in den Wein gemischt zu haben. Der Portier behauptet, um zwei Uhr habe er geschlafen. Zwischen eins und halb zwei verließ er den ›Roten Truthahn‹ in animierter Stimmung, aber doch nicht berauscht. Nun, er ist noch jung und unerfahren; möglicherweise hat er noch mehr getrunken. Das ist aber nebensächlich. Wichtiger ist es, daß er zunächst im eigenen Hotel Lärm schlug und Nachforschungen anstellte, und dann erst auf den Gedanken kam, daß der ›Engel‹ und das Hotel Treviso in Betracht kommen könnten. Das deutet darauf hin, daß die von ihm vermißten Sachen in seinem Hotel aufbewahrt gewesen sind; sein Auftreten vor dem Hotel Treviso deutet aber wiederum darauf hin, daß die ihm entwendeten Dokumente sich in seinem persönlichen Besitz befunden haben. Mir scheint, wir haben es mit einer sonderbaren Nichtübereinstimmung zu tun. Ich will mich nun ins Hotel begeben; liegt ein Diebstahl vor, dann muß die Sache der Polizei gemeldet worden sein. Da ich gerade der Ostender Kriminalpolizei gut bekannt bin, wird es mir nicht schwer fallen, den wirklichen Sachverhalt zu erfahren.«
Im Gehen empfahl er Lizzie, sich ruhig in ihrem Zimmer aufzuhalten. »Versuchen Sie, zu schlafen; Sie haben die ganze Nacht hindurch ja keine Ruhe bekommen.«
Sie lächelte nur, und Krag verstand dies Lächeln wohl. Sie kannte ja durchwachte Nächte mit Angst im Herzen. Unter diesen Verhältnissen vermochte sie wohl nicht zu schlafen. Sie versprach ihm aber bestimmt, sich ruhig verhalten zu wollen. Dies Versprechen hielt sie auch.
Nach Verlauf einiger Stunden kehrte Krag zu ihr zurück.
Mit großer Spannung hatte sie ihn erwartet; aber seinem tiefernsten Gesicht sah sie an, daß der Trost, den er ihr bringen konnte, nur gering war.
»Sagen Sie es nur gleich,« rief sie ihm entgegen, während ihre Augen vor Angst und Schreck immer größer wurden. »Ist das Schlimmste geschehen?«
Krag ergriff ihre Hände.
»Nein,« sagte er ernst. »Aber ich bin doch froh darüber, daß Sie an Sir Cyrus telegraphiert haben. Hoffentlich kommt er. Die Sache ist sehr merkwürdig, und Herberts Auftreten macht sie nicht weniger sonderbar. Die Polizei beschäftigt sich schon mit dieser Angelegenheit; aber zur Verzweiflung der Polizei hüllt sich Herbert ganz in Schweigen.«
»Sind unsere Vermutungen sonst richtig?« fragte Lizzie.
»Leider ja,« entgegnete Krag. »Herbert sind in der vergangenen Nacht äußerst wichtige Dokumente entwendet worden, die ihm zu einem gewissen Zweck von dem britischen Ministerium des Aeußeren übergeben worden sind. Er hat jedoch abgelehnt, über diese Papiere nähere Aufschlüsse zu geben, auch hat er der Polizei nicht sagen wollen, warum er mit diesen Papieren gerade nach Ostende gereist ist. Der Beamte, der mit der Untersuchung beauftragt ist, heißt Stronger, und hat einen sehr guten Ruf unter den Kriminalisten Europas. Herbert bestreitet mit Bestimmtheit, im Hotel Treviso berauscht gewesen zu sein. Er behauptet, man habe ihm dort narkotische Mittel verabreicht, und daß er deswegen bewußtlos gewesen sei.«
»Trug er die Dokumente bei sich?« fragte Lizzie wieder.
»Nein,« sagte Krag. »Die Dokumente lagen in einem diebessicheren Tresor in der Wand seines Hotelzimmers. Den Schlüssel zu diesem Fach trug er indessen bei sich. Nach seinem Erwachen aus dem narkotischen Schlaf galt sein erster Gedanke dem Schlüssel. Er war sich nämlich sofort klar darüber, daß er einem Komplott zum Opfer gefallen war. Der Schlüssel war nicht da. Zu Tode erschrocken eilte er ins Hotel. So sahen Sie ihn zuerst, gnädige Frau. Nun begreifen Sie wohl, warum er so blaß war. Aber erst, nachdem er sein Zimmer betreten hatte, erkannte er die Größe seines Unglücks. Der Tresor war leer, die Dokumente gestohlen. Seinen Mißerfolg im Hotel Treviso haben Sie selbst miterlebt.«
»Man muß aber doch dem ›Engel‹ auf die Spur kommen,« wandte Lizzie ein.
Krag zuckte die Achseln.
»Der Portier behauptet bestimmt, daß der ›Engel‹ das Hotel nicht verlassen hat, nachdem sie nachts mit Herbert angekommen ist. Erst heute morgen um vier Uhr sei sie mit dem D-Zug abgereist. Der Hotelwagen brachte sie zum Bahnhof. Unterwegs ist nicht gehalten worden. Die Polizei hat in Erfahrung gebracht, daß sie in Lille ausgestiegen ist. Wo sie sich jetzt aufhält, weiß niemand.«
Verzweiflungsvoll rang Lizzie die Hände.
»Was tun wir nun?« schluchzte sie. »Du lieber Gott, was tun wir nun?«
»Sie haben vorläufig weiter nichts zu tun, als ruhig hier in Ihrem Zimmer zu bleiben. In wenigen Minuten werde ich mit Ihrem Sohn reden.«