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Asbjörn Krag mußte zugeben, daß die Zweifel des Generalkonsuls berechtigt waren. Das Fenster lag etwa zehn Meter über dem Erdboden. Der Felsen, worauf das Haus stand, und die Außenmauern desselben waren eben und glatt; es war auch nicht das geringste zu entdecken, was den Dieben als Hilfsmittel hätte dienen können. Keine Leiter, keine Dachrinne. Der Detektiv wandte sich mit den Worten an Evensen: »Wissen Sie ganz genau, daß das Fenster geschlossen war, als Sie den Raum verließen?«
Evensen nickte bejahend.
»Da aber der Generalkonsul das Fenster nicht geöffnet hat, kann es nur der Dieb getan haben. Der Dieb muß hier hereingekommen sein.«
»Das ist unmöglich,« beteuerte der Generalkonsul, »die Mauer ist ja ganz glatt.«
Asbjörn Krag beschäftigte sich nun damit, die Fensterbank und den Fensterrahmen gründlich zu untersuchen; mit Hilfe seiner Blendlaterne leuchtete er auch die Mauer unterhalb des Fensters ab, fand jedoch keine Spur, die seine Annahme rechtfertigen konnte.
Der Generalkonsul und Evensen folgten jeder seiner Bewegungen mit dem größten Interesse; und als es schien, daß die Untersuchungen erfolglos blieben, lächelte Spade. – Das ironische Lächeln verriet seine Zufriedenheit darüber, daß er seine mit großer Sicherheit gemachte Behauptung bestätigt fand.
Vom Schreibtisch nahm Asbjörn Krag nun einige Zeitungen, legte sie auf die Fensterbank, kletterte hinauf und lehnte sich aus dem Fenster. Mit der einen Hand hielt er sich fest und in der anderen hielt er die Blendlaterne. Zoll um Zoll untersuchte er die Mauer über dem Fenster, als plötzlich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht huschte. Eben oberhalb des Fensters hatte er in der Mauer eine kleine abgestoßene Stelle entdeckt. Diese kleine, weiße Stelle in der Mauer ließ vermuten, daß sie erst kurz vorher durch die Berührung mit einem harten Gegenstand entstanden war.
Vorsichtig kletterte der Detektiv wieder von der Fensterbank herunter und legte die Zeitungen auf ihren Platz zurück.
»Na, haben Sie etwas gefunden?« fragte der Generalkonsul.
Der Detektiv nickte nur und wandte sich wieder dem Fenster zu. Weil er nun wußte, daß der Dieb wirklich durchs Fenster hereingekommen war, fand er bei einer zweiten Untersuchung eine Spur, die ihm beim erstenmal entgangen war. Eben oberhalb des oberen Fensterhakens fand er im Rahmen eine Vertiefung, die von einem schmalen Instrument, das hineingestemmt war, herrühren konnte.
Asbjörn Krag blieb am Fenster stehen und sah in die Dunkelheit hinaus. Vor ihm lag der ausgedehnte Garten des Generalkonsuls, wo die entlaubten Bäume in langen geraden Reihen standen. Gerade vor dem Hause lag ein großer Rasen, von schmalen Kieswegen durchzogen. Eine Fahne wehte noch zu Ehren der heutigen Gesellschaft.
Der Detektiv wandte sich an den Generalkonsul: »Lassen Sie uns in den Garten hinuntergehen,« sagte er.
Die drei Herren zogen ihre Ueberzieher an und gingen hinunter. Draußen empfing sie eiskalter Wind und Regen; die ersten Schneeflocken wirbelten schon vom Himmel. – Sie hüllten sich fest in ihre Mäntel und schlugen die Kragen hoch. Der Detektiv führte sie die in den Felsen gehauene Treppe hinunter und dann rechts in den Garten hinein.
»Hören Sie mal, Herr Krag,« sagte der Generalkonsul, »sind Sie noch der Ansicht, daß die Diebe durchs Fenster ins Bureau hineingekommen sind?«
»Gewiß, Herr Generalkonsul,« erwiderte Krag, »und ich hoffe, meine Behauptung bestätigen zu können.«
Sie bogen um die Ecke und gelangten ins Dunkle, wo das elektrische Licht, das sich über dem Hauseingang befand, nicht hinleuchten konnte. Krag knipste daher die Blendlaterne an. Sie befanden sich auf dem Rasen unterhalb der Bureaufenster. Hier bat Krag die beiden Herren, zu warten und begab sich, indem er anhaltend den Erdboden beleuchtete, direkt unter das Fenster. Ganz ungeduldig standen der Generalkonsul und Evensen und warteten, während er sich mit seinen Untersuchungen beschäftigte. Sie sahen, wie er den hellen Lichtschein langsam über das schwarze Erdreich unter dem Fenster dahingleiten ließ. – Endlich sahen sie Krag wieder auf sich zukommen. Der Generalkonsul bemerkte, daß sein Gesicht Enttäuschung und zugleich Verwunderung ausdrückte.
»Haben Sie eine Spur entdeckt?« fragte Spade
»Nein, es war nichts zu entdecken; weder Fußspuren, noch andere Zeichen.«
»Das habe ich mir ja gedacht,« war Spades triumphierende Antwort. »Es wäre auch gänzlich unmöglich gewesen.« Indem er mit der Laterne des Detektivs das Haus ableuchtete, fuhr er fort: »Kein Mensch vermag da hinaufzuklettern, selbst wenn es ihm gelingen sollte, mit Hilfe der Spalten und Vorsprünge die drei bis vier Meter hohe Felsenwand zu erklimmen; die glatte Mauer von etwa sechs Meter Höhe zu ersteigen ist ganz unmöglich. Mit Ausnahme der Feuerleiter sind auch gar keine so hohen Leitern hier in der Nähe; und die Feuerleiter steht fest.«
Krag gab ihm lächelnd recht, wobei er sich eine Zigarre anzündete. »Ja, man sollte es nicht für möglich halten,« entgegnete er, »aber der Dieb hat doch den Weg durchs Fenster genommen.«
Lange stand er schweigend da; in unregelmäßigen, schnellen Zwischenräumen flackerte das Feuer seiner Zigarre auf und wurde wieder dunkel. In der nächtlichen Stille hörten sie, wie der Wind einige welke Blätter von den Zweigen riß, die raschelnd zur Erde niederfielen. Aus der Ferne drangen die Geräusche der Elektrischen zu ihnen hinüber und über ihnen flatterte die Fahne hin und her im Winde.
Auf letzteres Geräusch lenkte sich plötzlich Krags Aufmerksamkeit; er blickte hin und gleich entfuhr ihm das Wort: »Aber natürlich!« – »Wie?« fragte der in seinem Gedankengang gestörte Generalkonsul. »Was sagten Sie da eben?«
»Ach, ich habe nur laut gedacht. Kommen Sie mit, wir wollen uns die Flaggenstange näher betrachten.«
Der Generalkonsul reichte ihm die Laterne und alle drei begaben sich dahin. Die Flaggenstange stand mitten in einem Kreise, der nicht mit Gras bewachsen war. Wiederum leuchtete Krag den Erdboden ab und untersuchte die nächste Umgebung der Flaggenstange. Plötzlich hielt er inne und winkte dem Generalkonsul und Evensen zu, näher zu kommen.
»Sehen Sie, diese lose Erde hat der Dieb betreten müssen; aber vorsichtshalber hat er seine Spuren wieder verwischt. Weil er aber im Dunkeln hat arbeiten müssen, ist es ihm nicht gelungen, alle Spuren zu löschen. Hier sehen Sie ganz deutlich eine Spur, da auch« – Krag ging ein wenig zur Seite – »und hier haben Sie die deutlichen Spuren einer schmalen Stiefelspitze.«
Er zog ein Maß hervor, um die Spuren zu messen; die Maße notierte er sich. Leider war es ihm unmöglich, noch mehr Spuren zu entdecken. Nach Untersuchung des Erdbodens ließ er einen Augenblick das Licht auf die Fahnenstange fallen. Dann wandte sich Asbjörn Krag an den Generalkonsul: »Wie Ihnen bekannt sein dürfte, mißt Ihre Flaggenstange etwa zwölf Meter und ist auf zwei Pfählen von etwa zwei Meter Höhe angebracht. Diese Pfähle haben nicht nur den Zweck, die Stange zu stützen, sondern sie dienen auch dazu, die Stange in bequemer Weise niederzulegen und wieder aufzurichten, wenn sie gestrichen werden soll. Entfernt man den eisernen Bolzen, der zu unterst durch die Pfähle und die Stange geht, dann wird die Stange, wenn man ihr einen kleinen Stoß versetzt, entweder nach der einen oder der andern Seite hinüberfallen, indem sie sich um den Bolzen dreht, der weiter oben angebracht ist. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, wozu aber diese lange Erklärung?« fragte der Generalkonsul ganz verstört.
»Mit Hilfe der Flaggenstange hat der Dieb das Bureaufenster erreichen können.«
Der Generalkonsul antwortete nicht, machte aber ein sehr verblüfftes Gesicht.
»Derjenige, der Sie bestohlen hat,« fuhr der Detektiv fort, »hat den unteren Bolzen entfernt; dann hat er die Flaggenstange sich langsam Ihrem Hause zuneigen lassen. Die Spitze der Stange ist dann eben oberhalb Ihres Bureaufensters gegen die Mauer gestoßen. An der Flaggenstange ist der Dieb dann emporgeklettert, hat mit Hilfe irgendeines Instrumentes das Fenster geöffnet, ist dann ins Zimmer hineingeklettert, hat mit einem falschen Schlüssel den Tresor geöffnet, das Gold an sich genommen und ist in derselben Weise wieder herausgekommen. – Dann hat er nur noch nötig gehabt, die Flaggenstange aufzurichten und seine Spuren zu verwischen.«
»Ja,« fügte der Generalkonsul hinzu, »und meine fünfzigtausend Kronen hat er mitgenommen.«
Krag antwortete nicht. Mit dem Fuß hatte er an einen Gegenstand gestoßen, nach dem er sich bückte, um ihn aufzuheben. Er betrachtete ihn einen Augenblick und steckte ihn dann in die Tasche seines Ueberziehers.
Der Gegenstand war eine kleine goldene Platte, die mit drei Diamanten besetzt war; an der Rückseite war noch das Ende einer abgerissenen Kette zu sehen. Anscheinend war es ein Manschettenknopf, dessen Kette auf irgendeine Art durchgerissen war. Krag suchte noch eine Zeitlang nach der andern Hälfte, aber ohne Erfolg.
Er gab den beiden Herren ein Zeichen, alle drei begaben sich wieder zum Hause zurück. An der Haustür reichte Krag dem Generalkonsul die Hand mit den Worten: »Auf Wiedersehen, Herr Generalkonsul. Ich denke in kürzester Frist herausgefunden zu haben, wer der Dieb ist.« –
Spade drückte ihm herzlich die Hand. Dabei bemerkte er, daß Krag bei dieser Gelegenheit aufmerksam seine Manschettenknöpfe beobachtete. Die Knöpfe des Generalkonsuls waren jedoch von anderem Aussehen, als der Knopf, den der Detektiv in der Tasche trug.
»Sind Sie denn schon auf der rechten Spur?« fragte der Generalkonsul erstaunt.
»Ja,« entgegnete Krag, »soviel weiß ich, daß der Dieb den besseren Kreisen angehört. Es muß ein Mann sein, der im Besitz großer Körperkraft und wagemütiger Schlauheit ist.«
Eine Stunde später wußte Asbjörn Krag, daß der Dieb den Versuch gemacht hatte, den verlorenen Manschettenknopf wiederzuerlangen.