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Die unerwartete Begegnung mit Nelson kam Krag so überraschend, daß er für einen Moment die ihm eigene Sicherheit verlor. Während er im Schutze der Palmen Nelson beobachtete, der dem Portier hinsichtlich seines Gepäcks Anweisungen gab, durchjagten tausend Gedanken das Gehirn des Detektivs. Es war doch ein merkwürdiger Zufall, daß ihm nach so vielen Jahren Lizzie und Nelson an demselben Ort begegnen sollten. Für Sekunden regte sich in ihm der Verdacht, dies Zusammentreffen könne verabredet sein. »Arbeiten« sie vielleicht noch zusammen? Handelt es sich um den jungen Herbert? Krag wies diesen Gedanken jedoch von sich; er ließ sich psychologisch nicht rechtfertigen. Ganz gewiß war Lizzie ehemals eine bedeutende Schauspielerin gewesen, eine gefeierte Schönheit des Piccadilly-Theaters, die traurigen Augen aber und das kummervolle Gesicht, das sie jetzt zur Schau trug, das alles war keine Verstellung. Ja, bei längerem Nachdenken schien ihm dies Zusammentreffen doch nicht so wunderlich zu sein. In Ostende war Hochsaison, und sowohl Nelson als auch Lizzie waren fahrende Leute, die dort zu finden waren, wo das Leben pulsiert, Schwärmern gleich, die das Licht heranlockt.
Krag begnügte sich mit der Feststellung, daß Nelson soeben in Ostende angelangt sei und im Grandhotel wohnte. So wußte er doch, wo er zu finden war. Zufällig bemerkte er noch, daß Nelson an der Hotelkasse amerikanisches Geld einwechselte; aus den an seinen Koffern angebrachten Zetteln ging auch hervor, daß er im Kongreßhotel in Chicago gewohnt hatte. Vermutlich war er lange nicht in Europa gewesen; vielleicht hatte er einen Southamptondampfer benutzt, und da Ostende für seine weitere Fahrt durch Europa am gelegensten war, hatte er hier Aufenthalt genommen.
Ehe er Lizzie abholte, begab sich Krag nach dem ›Roten Truthahn‹. Ein Goldstück, das er dem Oberkellner in die Hand drückte, bewirkte, daß er selbst einen Tisch aussuchen konnte, der ihm reserviert wurde.
Durch vorsichtiges Ausfragen erfuhr er auch, an welchem Tisch der »Engel« soupieren würde. Man hatte für sechs Personen decken lassen.
»Baron Sixten hat das Souper bestellt,« sagte der Ober. »Kennen Sie den Herrn?«
Krag schüttelte den Kopf. Der forschende Blick des Obers ließ ihn jedoch vermuten, daß dessen Neugier begründet war. Ein Gast, der die Neugier des Oberkellners herausfordert, hat selten einwandfreie Papiere.
Dann begab sich Krag zu Lizzie.
Freundlich lächelnd trat sie ihm entgegen, als sie den überraschten und bewundernden Blick des Detektivs gewahr wurde. Mit außerordentlicher Sorgfalt hatte sie heute Toilette gemacht. Ihrer Erscheinung sah man die letzten schweren Jahre nicht an; sie war wieder Lady Holmes, wie Krag sie in Kristiania kennengelernt hatte. Ihr ganzes Wesen und ihre Erscheinung zeugten von auserlesenem Geschmack, wie es nur die Dame von Kultur besitzt. Sie ging dorthin, wo alle vergnügt waren, und doch war ihre Kleidung einfach und vornehm. Krag dachte bei sich: So wie sie jetzt ist, ist sie die typische englische Mutter.
Noch vor einer Viertelstunde war das Restaurant fast menschenleer gewesen, als aber Krag mit Frau Lizzie am Arm den Saal betrat, war es schon schwierig, sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Eine Zigeunerkapelle spielte die neuesten und beliebtesten Tänze.
Der Oberkellner führte das Paar an den reservierten Tisch; Lizzie saß so versteckt, daß das Publikum sie kaum sehen konnte. Krag konnte dagegen das ganze Lokal überblicken. Der rote »Engel« war noch nicht gekommen, konnte Krag Lizzie mitteilen.
»Ich habe Warten gelernt,« sagte sie. »Nur Geduld.«
»Sie sagt nicht die Wahrheit,« dachte Krag. »Ihr Herz zittert vor Sehnsucht und Ungeduld.«
Nach dem leichten Souper erhob Lizzie das Champagnerglas und trank einen Schluck daraus. Dann bat sie: »Fragen Sie mich, dann fällt mir's leichter.«
»Das ist nicht nötig. Ist es Ihnen peinlich, darüber zu sprechen, dann schweigen Sie. Ich werde das, was damals in Kristiania passierte, als nicht geschehen betrachten. Jetzt haben wir Wichtigeres zu unternehmen.«
»Ich will aber doch, daß Sie alles erfahren,« sagte sie. »Muß ich Ihnen erst sagen, daß wir uns liebten?«
»Nein.«
»Keine andere Frau ist von Nelson so geliebt worden wie ich. Ich habe Ursache, so zu sprechen, denn sein Tun und Handeln sagten es mir. Sie kennen die Szene im Gerichtssaal,« sagte sie mit bebender Stimme. »Sie erinnern sich wohl auch meines Bekenntnisses.«
»Die Minuten werde ich nie vergessen,« entgegnete Krag.
»Nun, zweifeln Sie noch daran, daß ich damals die Wahrheit sprach?«
»Nein.«
»Ich mußte doch von seiner Unschuld überzeugt sein. Darum zerriß ich den Schleier und bekannte alles. Als mein Mann den Gerichtssaal verließ, wußte ich, daß mir nichts anderes übrig blieb, als dem Manne zu folgen, den ich liebte.«
»Das taten Sie ja auch.«
»Ja, nach Paris. Hier verließ ich ihn.«
»Warum?«
Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Wundern Sie sich nicht darüber, wie ruhig und unangefochten ich jetzt über diese Dinge zu sprechen vermag. Damals wußte ich nicht, wie ich das Leben ertragen sollte. Schon am ersten Tage, den wir in Paris verbrachten, fiel es mir auf, daß Nelson mehrere geheimnisvolle Personen empfing. Sie wissen ja wohl, daß mein Mann ihn gefordert hatte. Eben bevor Nelson sich auf den Weg machte, um im Bois de Boulogne das Duell mit meinem Manne auszufechten, stießen wir ernstlich aneinander. Nelson gestand mir, daß er tatsächlich der Gentlemandieb sei. Der einzige ihm zur Last gelegte Einbruch, an dem er unschuldig war, war der in meinem Boudoir. Ich gebe Ihnen mein Wort, bis zu dem Augenblick seines Geständnisses habe ich felsenfest an ihn geglaubt. Ich konnte ja gar nicht anders. Ich wußte doch, daß er den Diebstahl einzig und allein nur zugegeben hatte, um mich zu decken. Es war ritterlich von ihm; aber ach, er war doch ein Verbrecher. Und er wird es jetzt noch sein; einer der geriebensten, der immer Helfershelfer zur Hand hat. Als ich die Wahrheit erfuhr, beschloß ich, ihn zu verlassen. Er beschwor mich zu bleiben und versprach, seine Lebensweise zu ändern und ein ehrlicher Mensch zu werden. Aber es war mir unmöglich. Ich verließ ihn und verbot ihm, mir zu folgen. Er versprach es mir, und ich wußte, er würde sein Wort halten; denn er liebte mich immer noch.«
Krag mußte an die Rückfahrt aus dem Bois de Boulogne denken. Nun wußte er, warum Nelson geweint hatte.
»Sie suchten Ihren Mann auf?« fragte er.
»Wissen Sie es?« sagte sie flüsternd.
Krag nickte.
»Was sollte ich machen? Ich war ja so unglücklich. Und ich hatte doch mein Kind. Er wies mich aber ab, trotz Bitten und Bettelns. Ich flehte ihn an, mich als seine Magd ins Haus zu nehmen. Er aber blieb hart.«
Krag legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm.
»Verlieren Sie sich nicht in Erinnerungen,« bat er. »Es regt Sie auf. Ich will gar nichts mehr wissen.«
Er ließ einen Blick durch den Saal schweifen.
»Gnädige Frau,« sagte er plötzlich, »Ihr Sohn ist angekommen. Ich höre sein fröhliches Lachen.«
Sie blickte auf. Ihre Augen suchten den Sohn voller Angst und Erwartung.
Krag flüsterte ihr jetzt zu: »Es ist noch jemand hier, den Sie kennen.«
»Mein Mann?« fragte sie erbebend.
»Nein, Nelson.«