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Neunzehntes Kapitel. Das geheimnisvolle Wesen

Einige Minuten später hatte es sich der Detektiv in einem von des Rittmeisters kleinen Zimmern bequem gemacht. Krag hatte zwar seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen, aber er empfand kein Bedürfnis nach Nahrung und ließ sich auch nichts geben.

Des Rittmeisters Diener kam lautlos auf Filzschuhen herein und bediente ihn mit Kaffee. Wenn Asbjörn Krag erst einmal anfing, Kaffee zu trinken, um einen klaren Kopf zum Denken zu bekommen, mußte er eine Tasse Kaffee nach der andern haben. Um nicht durch das Auf- und Zumachen der Tür gestört zu werden, hatte er dem Diener die Erlaubnis gegeben, im Zimmer zu bleiben: dieser ging nunmehr lautlos zwischen Krag und dem kupfernen Kessel hin und her, in dem der Kaffee warmgehalten wurde.

Asbjörn Krag lag auf einem Diwan, und neben sich hatte er eine Tasse dampfenden Kaffees und eine Schale mit Zigaretten. Im Zimmer herrschte Halbdunkel. Nun fing er an, gewaltige Rauchwolken von sich zu blasen.

Er mußte sich selbst gestehen, daß dies der sonderbarste Fall war, mit dem er jemals zu tun gehabt hatte, und zugleich war es einer von den unheimlichsten. Vorläufig hatte er ein Menschenleben gekostet und ein zweites schwer geschädigt, und Krag war nicht sicher, ob es dabei bleiben würde. Es schien ihm, als ob noch immer Unheimliches in der Luft liege.

Nun hatte er die Briefe sorgfältig gelesen. In dem blauen Umschlag hatte er sie gefunden, die beide im März vor vielen Jahren mit wenigen Tagen Zwischenraum geschrieben waren. Oberst Holger hatte sie an einen andern Offizier gerichtet, und sie handelten beide von des Obersten Tochter Dagny. Sie entschleierten ein entsetzliches Geheimnis. Wie diese Briefe in den Besitz des Rechtsanwalts gekommen sein konnten, ahnte Krag nicht, aber wahrscheinlich hatte er sie auf irgendeine ungesetzliche Art und Weise in die Finger bekommen. Asbjörn Krag war es sehr begreiflich, daß das Auftauchen dieser Briefe Dagnys Verlobung mit dem Rittmeister über den Haufen werfen konnte.

Nun verstand er des jungen Mädchens Handlungsweise, ihre Geheimniskrämerei, ihr Entsetzen, und jetzt tat es ihm leid, daß er ihr gegenüber vielleicht zu aufdringlich, zu sehr Polizeimann gewesen war. Sie kämpfte nicht allein für sich, sie kämpfte auch für ihres Vaters Ehre. – Nun begriff er auch, wie sie zu dem verzweifelten Schritt gekommen war, die Briefe stehlen zu wollen, als sie entdeckte, daß der Rechtsanwalt nicht zu Hause war. Aber sie fand sie nicht, denn der Rechtsanwalt trug sie in seiner Brieftasche bei sich. Nun verstand Krag auch, warum sie die Sache vor ihm, dem Detektiv, geheimhalten mußte, der doch gekommen war, um ihr zu helfen. Den wahren Zusammenhang konnte sie keinem lebenden Menschen offenbaren. Nicht einmal ihrem Verlobten hatte sie das Geheimnis mitteilen wollen. Er wußte nichts von der Existenz dieser Briefe, das hatte Krag aus dem verwunderten Ausruf entnehmen können, den der Rittmeister ausgestoßen hatte, als Krag sagte: Ich habe die Briefe in dem blauen Umschlag! Er wußte nichts davon.

Asbjörn Krag war nun nicht mehr im Zweifel über den Grund, aus dem die Verlobung aufgehoben worden war. Dabei hatte der Rechtsanwalt die Hände im Spiel gehabt, das war deutlich zu merken, da er die Briefe im Besitz hatte und den beinahe drohenden Brief an den Oberst geschrieben hatte, an dem Tage, an dem dieser überfallen worden war.

Wer konnte Oberst Holger überfallen haben? Rechtsanwalt Bomann konnte es nicht gewesen sein, das widersprach aller Wahrscheinlichkeit; der Rittmeister war es auch nicht gewesen. Noch weniger war begreiflich, wer Bomanns Mörder sein könnte. Der Rechtsanwalt war allerdings ein Schuft, ein gewissenloser Kerl gewesen, aber wer sollte den tödlichen Streich gegen ihn geführt haben? Und in welcher Verbindung standen die beiden Ueberfälle, Dagnys Verlobung und die Briefe in dem blauen Umschlag.

Das waren die Fragen, über die Krag nachdenken wollte. Mehrere Stunden blieb er liegen, und als er sich endlich erhob, war das Zimmer mit wahren Wolken von Tabaksrauch gefüllt, und er selbst war blaß und erregt.

Als Krag zu dem Rittmeister ins Zimmer trat, saß dieser immer noch da und schrieb an seinen Reiseerinnerungen. Geistesabwesend nickte er Krag zu.

»Wir haben längst gegessen«, sagte er. »Aber ich wollte dich nicht stören.«

»Ich brauche vorerst nichts zu essen«, erwiderte der Detektiv. »Nur eine Tasse Schokolade möchte ich gerne haben.«

Krag schritt einigemale im Zimmer auf und ab.

»Hast du die Sache überdacht?« fragte der Rittmeister.

»Ja.«

»Hast du herausgefunden, wer der Mörder ist?«

»Ich glaube ja.«

»War es ein und derselbe, der den Oberst und den Advokaten niederschlug?«

»Ein und derselbe.«

»Hält er sich noch immer hier in der Gegend auf?«

»Wenn der, den ich meine, der richtige ist, dann hält er sich noch immer hier in der Gegend auf.«

»Wo?«

»In unserer allernächsten Nähe.«

»Und er ist noch immer ebenso gefährlich?«

»Er ist immer noch ebenso gefährlich. Lieber Freund, hast du einen Revolver?«

Der Rittmeister zog eine der Schubladen seines Schreibtisches heraus. Drinnen blitzte ein Browning.

»Das ist gut«, meinte Krag. »Aber du tätest am besten, ihn bei dir zu tragen. Dann hat man ihn stets in der Nähe.«

Der Rittmeister lächelte überlegen.

»Was sollte mir denn in dieser friedlichen Gegend geschehen? Ich habe mich in Indien nicht gefürchtet, und ich fürchte mich hier auch nicht.«

»Stecke den Revolver ein, das verlange ich«, sagte Krag. »Und wenn du die Gefahr kommen siehst, dann schieße, schieße sofort!«

»Man kann also die Gefahr sehen, ehe sie über einen kommt?« fragte der Rittmeister, während er den Revolver in die Tasche steckte.

»Das glaube ich bestimmt. Beide, der alte Oberst wie der Rechtsanwalt sind ja wie wilde Tiere dem Wald zugejagt worden, ehe ihnen das geheimnisvolle Wesen den Schlag versetzte. Findest du es nicht sonderbar, daß beide dem Walde zu geflohen sind, statt dem freien Feld oder den Häusern? Wenn jemand einem Mörder zu entrinnen trachtet, ist es nicht gerade das gewöhnliche, daß er in den tiefen, finsteren Wald läuft. Das ist mir gleich als ein sehr merkwürdiger Umstand aufgefallen, aber ich habe zuerst kein besonderes Gewicht darauf gelegt. Ich dachte, es könnte Zufall sein. Jetzt sehe ich, daß es keineswegs ein Zufall war. Im Gegenteil, gerade dieser Umstand macht mir die ganze Sache erklärlich, psychologisch erklärlich.«

»Was hast du zu tun im Sinn?« fragte der Rittmeister.

Asbjörn Krag lächelte auf sonderbare Weise.

»Heute bin ich es, der spazieren gehen will«, sagte er.

Er ging ans Fenster und blickte hinaus. Es fing bereits an zu dämmern, aber die Luft war vollkommen klar. Man konnte die Lichter in den Fenstern des Dorfes blinken sehen.

»Klares Wetter«, murmelte Krag, »ganz klares Wetter. Dennoch, lieber Freund, mußt du mir deinen gelben Gummimantel borgen. Ich habe draußen im Flur einen hängen sehen.«

»Was, zum Henker, willst du bei diesem Prachtwetter mit einem Regenmantel?«

»Gib ihn nur her. Die andern beiden sind auch im Regenmantel überfallen worden. Ich wünsche ebenfalls in einem gelben Gummimantel zu sterben.«

Als er den Regenmantel erhalten hatte, sagte er:

»Vielen Dank! Jetzt gehe ich.«

»Allein?«

»Ganz allein. Das geheimnisvolle Wesen greift nur einzelne Menschen an«, erwiderte Krag, indem er der Türe zuschritt.


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