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Der stellvertretende Amtsrichter hatte alles scharf beobachtet. Er trat nun zu Krag heran, erklärte ihm mit wenigen Worten, daß er das Verhör auf morgen vertage, und verabschiedete sich.
Dagny, die dem Detektiv nicht geantwortet hatte, schritt langsam ins Haus.
Krag folgte ihr schweigend.
Vor einer verschlossenen Tür blieb Dagny stehen. Sie deutete auf die Türe und sagte:
»Wollen Sie ihn sehen?«
Asbjörn Krag schüttelte den Kopf.
»Vorläufig nicht. Es ist am besten, wenn der Kranke in Ruhe gelassen wird. Meine Unterredung mit Ihnen ist wichtiger, gnädiges Fräulein.«
Gleich darauf saßen die beiden einander gegenüber in der großen Wohnstube.
Mit Absicht setzte sich Dagny in die Ecke des Sofas, wo das Licht ihr Gesicht nicht treffen konnte. Sie wußte, daß ihr Gesichtsausdruck leicht ihre Gefühle verriet, und das wollte sie vermeiden.
Asbjörn Krag war sehr ernst geworden, aber er sprach gelassen, beinahe väterlich zu der jungen Dame.
»Sie kennen mich vermutlich dem Namen nach«, sagte er. »Vielleicht hat auch Rittmeister Ivar Rye gelegentlich von mir gesprochen.«
Dagny Holger nickte.
»Ja, er hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind ja sein bester Freund.«
»Gut. Und nun möchte ich Sie fragen, ob auch Sie Vertrauen in mich setzen wollen.«
»Selbstverständlich!« rief sie. »Selbstverständlich vertraue ich Ihnen.«
Asbjörn Krag zuckte die Achseln.
»So war es nicht gemeint«, murmelte er. »Nun ja, ich will mich Ihnen nicht aufdrängen. Ich sage Ihnen nur so viel, ich arbeite in dieser Sache nicht nur für Recht und Wahrheit, sondern auch für meinen unglücklichen Freund.«
»Das begreife ich.«
»Er befindet sich in einer sehr schlimmen Lage. Fräulein Holger, wissen Sie, daß er jetzt vermutlich verhaftet wäre, wenn ich nicht eingegriffen hätte?«
»Weshalb verhaftet?« fragte Dagny mit beinahe versagender Stimme.
»Es ist Ihnen doch sicherlich klar, daß Ihr Herr Vater einem Mordversuch ausgesetzt gewesen ist?«
»Das ist ja entsetzlich!«
»Und Ivar Rye ist der Tat verdächtig.«
Dagny rang lange nach Fassung.
»Und ich kann Ihnen sagen, daß seine Sache schlecht steht, schlechter noch, als es im ersten Augenblick schien«, fuhr der Detektiv fort. »Sind Sie überzeugt, daß er unschuldig ist, Fräulein Holger?«
»Wie können Sie das überhaupt noch fragen!« rief sie beinahe entrüstet.
»Wir wollen die Sache einmal mit ganz kaltem Blute betrachten. Es darf als erwiesen betrachtet werden, daß Ihr Vater um vier Uhr etwa überfallen worden ist. Gerade um diese Zeit war Ivar Rye von zu Hause abwesend. Kann er sein Alibi nicht beweisen, so ist er verloren, denn er hat zugestanden, daß er Ihrem Vater, in der Absicht, ihn aus dem Hause zu locken, einen Brief geschrieben hat. Ist Ihnen das bekannt? Wissen Sie etwas von diesem Briefe?«
»Ich habe davon gehört.«
»War es dieser Brief?« fragte Krag und überreichte ihr den Brief, der von dem Amtsrichter dem Gericht vorgelegt worden war.
Sie warf einen Blick auf den Brief und fuhr heftig zusammen.
Asbjörn Krag betrachtete sie aufmerksam. Ein Ausdruck der Befriedigung glitt über sein Gesicht.
»Das ist nicht des Rittmeisters Handschrift«, sagte Dagny.
»Kennen Sie diese Handschrift?«
»Nein!«
Das »Nein« klang hart und bestimmt. Dagny zog sich noch tiefer in die Dunkelheit ihrer Sofaecke zurück. Es entstand eine kleine Pause.
Asbjörn Krag knipste mit den Fingern. Dann stand er plötzlich auf.
»Gut«, sagt er. »Sie haben also kein Vertrauen zu mir.«
»Doch!« rief das junge Mädchen beinahe weinend. »Aber ich kenne doch diese Handschrift nicht!«
»Liebes Fräulein Holger, das glaube ich Ihnen nicht. Dieser Brief ist von einem Dritten geschrieben, und diesen Dritten müssen wir zu fassen kriegen, sonst wird es schlimm. Sonst schwebt der Rittmeister in der allergrößten Gefahr.«
»Sie glauben also, daß ich lüge?«
»Ja, Fräulein Holger, das glaube ich«, gab Asbjörn Krag ganz gelassen zur Antwort.
Nun stand Dagny Holger ebenfalls auf.
»Ehe ich gehe, möchte ich Sie auf eines aufmerksam machen«, sagte Krag. »Der Fall kann sehr rasch eintreten, daß Rittmeister Ryes Rettung einzig und allein davon abhängt, ob Sie reden oder nicht. Ivar selber spricht nicht, davon können Sie vollständig überzeugt sein. Erlauben Sie mir eine Frage: Wann haben Sie Ivar Rye zum letztenmal gesehen?«
»Gestern gegen vier Uhr.«
»War er zu Pferde?«
»Nein, er war nicht zu Pferde und ich auch nicht. Wir redeten zusammen an der Wegkreuzung, nördlich von unserem Hofe.«
»Trafen Sie zufällig zusammen?«
»Nein, wir hatten abgemacht, uns da zu treffen.«
»Und Ihr Herr Vater war mit einem solchen Zusammentreffen nicht einverstanden?«
»Nein.«
»Hatte er Ihnen verboten, auszugehen?«
»Ja.«
»Der Rittmeister schrieb also den Brief an Ihren Vater, um Gelegenheit zu haben, mit Ihnen zusammenzutreffen?«
»Nicht diesen Brief da«, antwortete Dagny und deutete auf das geheimnisvolle Schriftstück des Dritten. »Einen andern.«
Asbjörn Krag nickte.
»Es ist eine merkwürdige Übereinstimmung, daß diese beiden Briefe dieselbe Stunde für eine Zusammenkunft bestimmen«, sagte er. »Nun gehe ich gleich, gnädiges Fräulein, aber ehe ich gehe, möchte ich noch eines sagen: Falls der Rittmeister der Täter sein sollte ...«
Der Detektiv bemerkte, daß Dagny unwillkürlich zusammenfuhr.
» ... Ich sage falls«, fuhr er fort. »Ich persönlich bin überzeugt, daß er es nicht ist. Aber angenommen, er wäre es, so müßte er unmittelbar von der Zusammenkunft mit Ihnen hingeritten sein und den Oberst zu Boden geschlagen haben. Worüber hat er mit Ihnen gesprochen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist auch unwesentlich für die Sache.«
»Haben Sie verabredet, später wieder zusammenzutreffen?«
»Nein«, sagte Dagny leise. »Das haben wir nicht verabredet.«
»So haben Sie also Abschied von einander genommen?«
»Ja.«
»Dann kann ich mir denken, daß mein Freund sehr niedergeschlagen gewesen sein muß, als er von Ihnen ging, niedergeschlagen fast bis zur Verzweiflung. Und in solch einem Zustand kann selbst der beste und kaltblütigste Mensch ...«
»Sprechen Sie nicht weiter!« rief Dagny entsetzt. »Aber ich weiß nichts und ich kann nichts sagen.«
»Gut, so gehe ich jetzt, aber in zwei Stunden komme ich wieder. Entweder haben Sie sich bis dorthin entschlossen zu reden oder auch ...«
»Ich verstehe durchaus nicht, was Sie meinen. Oder ...«
»Oder werde ich dann reden«, sagte der Detektiv und verließ das Zimmer.
Fünf Minuten später sah der Rittmeister den Detektiv gelassen vom Hofe des Obersten her aus sein Haus zuspazieren. Er kam über die Felder. Der Rittmeister hatte erwartet, der Detektiv werde sofort zu ihm herauskommen, aber Krag schritt statt dessen auf den Stall zu.
Der Verwalter machte ihm die Stalltüre auf; Krag trat in den Stall und blieb eine Viertelstunde drinnen.
Als er wieder herauskam, fiel es dem Rittmeister auf, wie außerordentlich ernst er aussah.
»Hast du etwas zu essen?« fragte der Detektiv, als er zu Rye ins Zimmer trat. »Ich bin allmählich entsetzlich hungrig.«
»Der Tisch ist gedeckt.«
Asbjörn Krag ging zuerst und wusch sich die Hände, denen es deutlich anzusehen war, daß er damit in der Erde gewühlt hatte.
Der Rittmeister fragte, ob es etwas Neues gebe.
»Eine Menge Neues«, antwortete der Detektiv.
»Steht meine Sache besser?«
»Sie steht viel schlechter, lieber Freund. Wenn ich nicht so fest und unerschütterlich an dich glaubte, so wäre ich jetzt davon überzeugt, daß du der Verbrecher bist.«
»Was hast du entdeckt?«
»Beantworte mir zuerst eine Frage! Nicht wahr, um vier Uhr warst du zu Pferde?«
»Ja.«
»Und du hast ›Eva‹ geritten?«
»Ja.«
»Und du bleibst dabei, daß du den ganzen Tag nicht in der Nähe des Ortes gewesen, bist, wo der Oberst gefunden wurde?«
»Ja, dabei bleibe ich.«
»Lieber Freund, hast du bemerkt, daß eines von ›Eva‹ Hufeisen zerbrochen ist?«
»Nein.«
»Das Hufeisen des linken Vorderbeines ist zerbrochen.«
»Das wußte ich nicht. Aber was hat denn das mit der Sache zu tun?«
»Ich war soeben drunten im Stall«, fuhr Krag fort.
»Das habe ich gesehen. Was wolltest hu dort?«
»Ich wollte mir ›Eva‹ Hufeisen ansehen, und da fand ich den Schaden.«
»Ich verstehe immer noch nicht ...«
»Dann will ich dir den Zusammenhang erklären. Als der Oberst gefunden wurde, lag er unter einigen Bäumen am Rande der Wiese. Es scheint wenig wahrscheinlich, daß er dorthin gelockt worden ist: man könnte eher denken, er sei dorthin gejagt worden. Die Spuren deuten darauf hin, daß der Oberst gelaufen ist, als gelte es sein Leben. Er ist von einem Mann zu Pferde dorthin gejagt worden.
Und nun kommt das interessante:
Die Spuren zeigen deutlich, daß das Hufeisen des linken Vorderbeines des Pferdes zerbrochen war, gerade wie das deiner ›Eva‹.«
Erschrocken fuhr der Rittmeister zusammen.
»Du siehst also, daß deine Sache sehr schlecht steht«, fuhr Krag gelassen fort.