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Das Motto zu Kapitel 31 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 9):
How will you know the pitch of that great bell
Too large for you to stir? Let but a flute
Play 'neath the fine-mixed metal listen close
Till the right note flows forth, a silvery rill.
Then shall the huge bell tremble â€" then the mass
With myriad waves concurrent shall respond
In low soft unison.
Lydgate unterhielt sich an dem Abend dieses Tages mit Fräulein Vincy über Frau Casaubon und hob es mit einigem Nachdruck hervor, wie ängstlich besorgt sie für diesen etwas pedantischen, gelehrten Mann, der dreißig Jahre älter sei als sie, zu sein scheine.
»Natürlich ist sie ihrem Gatten treu ergeben,« sagte Rosamunde, indem sie eine Vorstellung von folgerichtigem Denken in einer Weise zu erkennen gab, welche dem wissenschaftlich gebildeten Manne als die für eine Frau anmuthigste erschien; bei sich aber dachte sie, daß es gar nicht so melancholisch sein müsse, Gebieterin in dem Herrenhause von Lowick zu sein und einen Mann zu haben, der wahrscheinlich bald sterben werde. »Finden Sie sie sehr schön?«
»Gewiß ist sie schön, aber ich habe noch gar nicht weiter darüber nachgedacht,« erwiderte Lydgate.
»Das würde sich wohl für einen Arzt nicht schicken,« sagte Rosamunde, indem sie ihre Grübchen zeigte. »Aber wie Ihre Praxis zunimmt. Erst kürzlich haben Chettam's Sie, glaube ich, als Arzt angenommen, und nun Casaubon's.«
»Ja,« sagte Lydgate im Tone eines abgezwungenen Zugeständnisses. »Aber in Wahrheit behandle ich solche Leute nicht so gern wie die Armen. Die Fälle sind gleichförmiger, und man hat so viel mit nicht zur Sache gehörigen Nebendingen zu kämpfen und muß so viel dummes Zeug ruhig mit anhören.«
»Doch nicht mehr, als wenn man in der Middlemarcher Gesellschaft lebt,« entgegnete Rosamunde. »Und dann können Sie doch wenigstens über weite Corridore gehen und überall den Duft von Rosenblättern einathmen.«
»Das ist vollkommen wahr, Mademoiselle de Montmorenci,« sagte Lydgate, indem er sich über den Tisch beugte und mit dem vierten Finger ihr feines Schnupftuch, welches aus ihrem Arbeitsbeutel hervorguckte ein wenig lüftete, wie wenn er sich des von demselben ausströmenden Parfums erfreuen wolle, während er sie lächelnd ansah.
Aber diese angenehme Feiertagsfreiheit, in welcher Lydgate die Blume von Middlemarch umtändelte, konnte nicht ewig dauern. Es war in dieser Stadt ebenso unmöglich wie anderswo, sich zu isoliren, und ein junger Mann und das Mädchen, welchem er die Cour machte, konnten auf keine Weise »den mannigfachen Verwickelungen, Lasten, Schlägen, Zusammenstößen und Bewegungen, durch welche die Dinge, ein jedes für sich, ihren Fortgang nehmen,« entgehen.
Fräulein Vincy konnte nichts mehr thun, ohne beobachtet zu werden, und war vielleicht den Blicken von Bewunderern und Kritikern gerade im gegenwärtigen Augenblicke um so mehr ausgesetzt, als sich Frau Vincy nach einigem Widerstreben entschlossen hatte, für kurze Zeit mit Fred nach Stone Court zu gehen, da es nur so möglich schien, zugleich dem alten Featherstone zu Willen zu sein und bei Mary Garth Wache zu stehen, die in dem Maaße, wie Fred's Besserung fortschritt, als eine immer weniger wünschenswerthe Schwiegertochter erschien.
So kam zum Beispiel jetzt, wo Rosamunde allein war, ihre Tante Bulstrode etwas öfter nach Lowick-Gate, um sie zu besuchen. Denn Frau Bulstrode hegte echt schwesterliche Gefühle für ihren Bruder; sie war zwar noch immer der Ansicht, er hätte sich besser verheirathen können, meinte es aber sehr gut mit den Kindern. Nun stand Frau Bulstrode seit langer Zeit auf vertrautem Fuße mit Frau Plymdale. Sie hatten ungefähr denselben Geschmack in Bezug auf Seidenstoffe, Muster für Unterzeug, Porzellan und Geistliche; sie vertrauten sich einander ihre kleinen Gesundheits- und Haushaltssorgen an und verschiedene kleine Punkte unbestrittener Ueberlegenheit auf Frau Bulstrode's Seite, wie ein entschiedenerer Ernst des Wesens, eine größere Bewunderung für geistige Vorzüge und der Besitz eines Hauses außerhalb der Stadt, gaben der Unterhaltung der beiden Frauen bisweilen etwas mehr Farbe, ohne sie darum zu veruneinigen; denn Beide waren wohlmeinende Frauen, die über die Beweggründe ihrer, eigenen Handlungen sehr im Unklaren waren.
Bei einem Morgenbesuche, den Frau Bulstrode Frau Plymdale machte, bemerkte sie zufällig, sie könne nicht länger bleiben, weil sie die arme Rosamunde besuchen müsse.
»Warum sagen Sie denn die arme Rosamunde,« fragte Frau Plymdale, eine rundäugige kleine Frau mit scharfen Zügen, die aussah wie ein gezähmter Falke.
»Sie ist so hübsch und ist in einer solchen Gedankenlosigkeit aufgewachsen. Die Mutter, wissen Sie, hatte immer einen etwas leichten Sinn, der mich für die Kinder besorgt macht.«
»Nun, Harriet, wenn ich aufrichtig sein soll,« erwiderte Frau Plymdale emphatisch, »so muß ich sagen, jeder Mensch müßte meinen, Sie und Bulstrode würden entzückt sein über das neueste Ereigniß, denn Sie haben ja Alles gethan, um Herrn Lydgate zu poussiren.«
»Wovon sprechen Sie, Selina,« fragte Frau Bulstrode mit ungeheucheltem Erstaunen.
»Wovon ich spreche? Von etwas, wofür ich um Ned's willen wahrhaft dankbar bin,« entgegnete Frau Plymdale. »Er wäre zwar besser als andere Leute im Stande, die Ansprüche einer solchen Frau zu befriedigen; aber es wäre mir doch lieber, wenn er sich nach einer Andern umsähe. Aber dennoch hat man als Mutter seine Besorgnisse und mancher junge Mann würde sich in einem solchen Fall einem unordentlichen Lebenswandel ergeben. Ueberdies muß ich gestehen, wenn ich gerade herausreden soll, ich bin keine Freundin von Fremden, die in eine Stadt kommen.«
»Das weiß ich doch nicht, Selina,« sagte Frau Bulstrode jetzt auch ihrerseits mit einer gewissen Emphase. »Bulstrode, war ein Fremde, als er hieherkam; Abraham und Moses waren Fremde im heiligen Lande und wir werden gelehrt, Fremde gut aufzunehmen, namentlich,« fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu, »wenn sich nichts gegen dieselben sagen läßt.«
»Ich habe nicht vom religiösen Standpunkte aus gesprochen, liebe Harriet, sondern als Mutter.«
»Selina, Sie haben mich gewiß nie etwas gegen die Verbindung meiner Nichte mit Ihrem Sohne sagen gehört.«
»O, es ist Stolz bei Fräulein Vincy – davon bin ich fest überzeugt, nichts anderes,« antwortete Frau Plymdale, die sich noch nie gegen ihre ›liebe Harriet‹ ganz rückhaltslos über diesen Gegenstand ausgesprochen hatte. »Kein junger Mann in Middlemarch war gut genug für sie; ich habe das von ihrer Mutter sehr deutlich aussprechen gehört. Das finde ich nicht christlich gedacht. Aber jetzt hat sie, nach allem was ich höre, einen Mann gefunden, der ebenso stolz ist wie sie selbst.«
»Sie wollen doch nicht sagen, daß zwischen Rosamunden und Herrn Lydgate etwas vorgefallen ist,« fragte Frau Bulstrode, – die sich gekränkt darüber fühlte, etwas über eine Sache zu erfahren, von der sie selbst noch gar nichts wußte.
»Ist es möglich, Harriet, daß Sie das nicht wußten?«
»O, ich komme so wenig herum und ich bin keine Freundin von Klatsch; ich höre wirklich nie Klatschgeschichten. Sie sehen so viele Leute, die ich nicht kenne. Ihr Kreis ist ein etwas anderer als unserer.«
»Ja, aber hier handelt es sich doch um Ihre Nichte und Bulstrode's großen Liebling und Ihren auch. Ich habe wirklich einmal geglaubt, Harriet, Sie dächten an ihn für Kate, wenn sie erst einmal ein bischen älter wäre.«
»Ich glaube nicht, daß die Sache jetzt schon irgend ernsthaft sein kann,« entgegnete Frau Bulstrode. »Das würde mir mein Bruder sicher gesagt haben.«
»Nun, Einer handelt so und der Andere so; aber soviel ist sicher, daß Niemand Fräulein Vincy und Herrn Lydgate zusammen sehen kann, ohne sie für Verlobte zu halten. Indessen geht ja die Sache mich nichts an. Soll ich die Filethandschuhe für sie aufschlagen?«
Hierauf fuhr Frau Bulstrode mit einer neuen Last auf ihrem Herzen zu ihrer Nichte. Sie war selbst reich gekleidet; aber sie bemerkte mit noch etwas größerem Bedauern als gewöhnlich, daß Rosamunde, die eben nach Hause gekommen war und ihr in ihrer Straßentoilette entgegenkam, fast ebenso elegant gekleidet sei wie sie selbst. Frau Bulstrode war eine kleinere weibliche Ausgabe ihres Bruders und hatte in Erscheinung und Auftreten nichts von ihrem bleichen leiseredenden Gatten; sie hatte einen graden ehrlichen Blick und pflegte ohne Umschweife zu reden.
»Du bist allein, wie ich sehe, liebes Kind,« sagte sie, als sie mit einander in den Salon traten, indem sie ernst um sich blickte. Rosamunde merkte alsbald, daß ihre Tante ihr etwas besonderes zu sagen habe, und setzte sich dicht neben sie. Trotz alledem aber konnte sich Frau Bulstrode bei dem Anblick der reizenden Rüsche unter Rosamunden's Hut des Wunsches nicht erwehren, eine ebensolche für Kate zu haben, und ihre Augen, die sehr scharf waren, umkreisten, während sie sprach, fortwährend den weiten, von der Rüsche beschriebenen Bogen.
»Ich habe eben etwas über Dich gehört, was mich sehr überrascht hat, Rosamunde.«
»Und das wäre, Tante?« Auch Rosamunden's Augen schweiften nach dem großen gestickten Kragen ihrer Tante hinüber.
»Ich kann es kaum glauben, daß Du Dich verlobt hast, ohne daß ich etwas davon wissen – ohne daß Dein Vater mir etwas davon gesagt haben sollte.«
Bei diesen Worten blieben endlich Frau Bulstrode's Blicke auf Rosamunden's Augen haften und diese sagte tieferröthend:
»Ich bin nicht verlobt, Tante.«
»Wie kommt es denn, daß jeder Mensch es behauptet, daß es das allgemeine Stadtgespräch ist?«
»Auf das Stadtgespräch kommt, scheint mir, sehr wenig an,« erwiderte Rosamunde, die sich im Stillen über dieses Stadtgespräch sehr freute.
»O, liebes Kind, rede doch nicht so in den Tag hinein; denke doch nicht so gering von Deinen Nebenmenschen. Bedenke, daß Du zweiundzwanzig Jahr alt geworden bist und daß Du kein Vermögen haben wirst; Dein Vater wird Dir ganz gewiß nichts hinterlassen können. Herr Lydgate ist ein sehr gescheidter und begabter Mann, ich weiß, das hat einen großen Reiz. Ich unterhalte mich auch gern mit ihm, und Onkel findet ihn sehr tüchtig. Aber sein Beruf ist bei uns hier wenig einträglich. Gewiß ist das irdische Leben nicht Alles; aber Aerzte haben auch selten die wahren religiösen Ansichten – sie haben zu viel geistigen Stolz dazu. Und Du bist nicht dazu gemacht, einen armen Mann zu heirathen.«
»Herr Lydgate ist kein armer Mann, Tante, er hat sehr vornehme Verwandte.«
»Er hat mir selbst gesagt, daß er arm sei.«
»O, das meint er, weil er an den Verkehr mit Leuten gewöhnt ist, die sehr groß leben.«
»Liebe Rosamunde, Du darfst nicht daran denken, groß leben zu wollen.«
Rosamunde schlug die Augen nieder und spielte mit ihrem Arbeitsbeutel. Die junge Dame war gerade nicht heftiger Natur und gab nicht leicht scharfe Antworten, aber sie gedachte doch so zu leben, wie es ihr gut schien.
»Ist es also wirklich wahr?« fragte Frau Bulstrode, indem sie ihre Nichte sehr streng ansah. »Du denkst an Herrn Lydgate; es besteht ein Einverständniß zwischen Euch, wenn auch Dein Vater noch nichts davon weiß. Sei offen gegen mich, liebe Rosamunde. Hat Herr Lydgate Dir wirklich einen Antrag gemacht?«
Der armen Rosamunde erweckte diese Frage sehr unbehagliche Empfindungen. Sie hatte sich bis jetzt in Betreff der Gesinnungen und Absichten Lydgate's ganz beruhigt gefühlt. Aber als ihre Tante nun die bestimmte Frage an sie richtete, war es ihr doch sehr unangenehm, nicht mit Ja antworten zu können. Ihr Stolz war verletzt, aber ihre gewohnte Selbstbeherrschung kam ihr zu Hülfe.
»Bitte, Tante, nimm es nicht übel, aber ich möchte lieber nicht über die Sache reden.«
»Ich hege die feste Zuversicht, liebes Kind, daß Du keinem Manne ohne eine sichere Aussicht für die Zukunft Deine Hand reichen wirst. Und denke doch an die beiden glänzenden Anträge, von denen ich weiß, die Du abgelehnt hast! – und an einen, der noch aufrecht erhalten wird, wenn Du ihn nicht verschmähen willst. Ich habe ein sehr schönes Mädchen gekannt, die durch ein solches Verfahren schließlich dahin gebracht wurde, eine schlechte Partie zu machen. Herr Ned Plymdale ist ein netter junger Mann, einige finden ihn auch hübsch, und ein einziger Sohn – und ein großes Geschäft dieser Art ist besser als eine Profession. Nicht als ob Heirathen das höchste Glück wäre. Ich wünschte, daß Du zuerst nach dem Himmelreich trachtetest. Aber ein Mädchen sollte ihr Herz in ihrer Gewalt behalten.«
»Ich würde mein Herz, wenn ich es noch in meiner Gewalt hätte, gewiß nie an Herrn Plymdale verlieren. Ich habe ihm ja auch schon einmal einen Korb gegeben. Wenn ich einmal liebte, so würde es für immer sein,« sagte Rosamunde, die sich in diesem Augenblick ganz als romantische Heldin fühlte und ihre Rolle allerliebst spielte.
»Ich sehe wohl, wie die Dinge stehen,« sagte Frau Bulstrode in einem melancholischen Ton, indem sie aufstand, um fortzugehen. »Du hast Deine Neigung so deutlich zu erkennen gegeben, daß Du unwiderruflich gebunden bist.«
»Nein, Tante, das ist wirklich nicht der Fall,« entgegnete Rosamunde emphatisch.
»Dann bist Du also fest überzeugt, daß Herr Lydgate eine ernste Neigung zu Dir hegt?«
Rosamunden's Wangen brannten vor innerm Verdruß.
Sie zog es vor, auf die letzte Frage nicht zu antworten, und ihre Tante ging nur um so fester überzeugt von dannen.
Herr Bulstrode war in weltlichen und daher für ihn gleichgültigen Dingen immer bereit, die Geheiße seiner Frau zu befolgen, und jetzt äußerte sie, ohne ihre Gründe anzugeben, den Wunsch, er möge bei nächster Gelegenheit in der Unterhaltung mit Lydgate herausbringen, ob derselbe daran denke, sich bald zu verheirathen.
Das Ergebniß war, daß Lydgate entschieden nicht daran denke.
Nach stattgehabter Unterhaltung beider Herren ließ sich Herr Bulstrode, als er in ein scharfes Verhör genommen wurde, dahin aus, daß Lydgate sich gegen ihn in einer Weise geäußert habe, wie es kein Mann thun würde, der eine Neigung hätte, die zu einer Heirath führen könnte.
Jetzt war es Frau Bulstrode klar, daß sie eine ernste Pflicht zu erfüllen habe. Sie wußte sehr bald ein tête à tête mit Lydgate herbeizuführen, bei welchem sie von Fragen über Fred's Gesundheitszustand und daran geknüpften Ausdrücken ihrer zärtlichen Theilnahme für das Ergehen der großen Familie ihres Bruders zu allgemeinen Bemerkungen über die Gefahren, welche jungen Leuten bei ihrer Etablirung drohten, überging. Junge Männer seien oft ausschweifend und täuschten die Hoffnungen ihrer Eltern, indem trotz des vielen für sie ausgegebenen Geldes wenig aus ihnen werde; bei einem jungen Mädchen aber könnten so vielerlei Umstände eintreten, welche ihre Aussichten für die Zukunft beeinträchtigten.
»Namentlich wenn sie große Reize hat und ihre Eltern viele Leute sehen,« fuhr Frau Bulstrode fort. »Herren machen ihr den Hof und bemächtigen sich ihrer ganz nur zum augenblicklichen Zeitvertreib und verscheuchen damit Andere. Ich glaube, Herr Lydgate, jeder der den Aussichten eines Mädchens in den Weg tritt, übernimmt eine große Verantwortlichkeit.«
Bei diesen Worten heftete Frau Bulstrode ihre Blicke fest auf Lydgate, wie um ihn zu warnen, wenn nicht um ihm einen Verweis zu ertheilen.
»Sehr richtig,« erwiderte Lydgate, indem er sie nun seinerseits ansah – sie vielleicht auch ein wenig scharf fixirte. »Andererseits muß aber doch ein Mann ein großer Geck sein, um sich einzubilden, er könne einer jungen Dame keine Aufmerksamkeiten erweisen, ohne daß sie sich in ihn verliebe, oder ohne daß Andere denken müßten, sie könne nicht anders.«
»O, Herr Lydgate, Sie werden wohl Ihre eigenen Vorzüge kennen und wissen, daß unsere jungen Männer hier es nicht mit Ihnen aufnehmen können. Wenn Sie ein Haus frequentiren, so kann das die wünschenswerthe Gestaltung der Zukunft eines Mädchens sehr beeinträchtigen und sie abhalten, ihr gemachte Anträge anzunehmen.«
Lydgate fühlte sich weniger durch die Anerkennung seiner Vorzüge vor den Middlemarcher Orlandos geschmeichelt, als durch die Wahrnehmung der wahren Meinung Frau Bulstrode's verstimmt. Sie war überzeugt, so nachdrücklich gesprochen zu haben, wie es nothwendig sei, und sich durch Anwendung des nobeln Ausdrucks »beeinträchtigen« der Mühe überhoben zu haben, eine Menge von Einzelheiten anzuführen, die auch ohnehin klar genug sein würden.
Lydgate, den die Sache doch verdroß, strich sich mit der einen Hand das Haar zurück, fühlte mit der andern wie suchend in seiner Westentasche umher und ließ sich dann herab, den kleinen schwarzen Spaniol heranzuwinken, der aber den richtigen Takt hatte, von seinen hohlen Liebkosungen nichts wissen zu wollen. Es würde nicht schicklich gewesen sein, wenn Lydgate gleich fortgegangen wäre, nachdem er mit andern Gästen bei Bulstrode's zu Mittag gegessen und jetzt eben Thee genommen hatte. Aber Frau Bulstrode, die sich deutlich genug ausgesprochen zu haben glaubte, brachte einen andern Gegenstand auf's Tapet.
Die Sprüche Salomonis haben, glaub' ich, zu sagen vergessen, daß, wie ein wunder Gaumen von jeder Speise rauh berührt wird, so ein unbehagliches Bewußtsein überall Anspielungen hört. Als am nächsten Tage Farebrother Lydgate auf der Straße begegnete, meinte er, als sie nach einer kurzen Unterhaltung auseinander gingen, sie würden sich wohl Abends bei Vincy's treffen.
Lydgate antwortete kurz, nein, – er habe zu arbeiten, er müsse es ausgeben, Abends auszugehen.
»Was, Sie wollen sich an einen Mast binden lassen und sich die Ohren verstopfen?« Anspielung auf Homers »Odyssee« (XII, 52): Odysseus' Irrfahrten führen u.a. an der Insel der Sirenen vorbei, die mit ihrem betörenden Gesang Seefahrer auf die Klippen und damit in den Tod locken. Um ihnen gefahrlos lauschen zu können, lässt sich Odysseus an den Mastbaum fesseln, seinen Gefährten aber die Ohren mit Wachs verschließen. – Anm.d.Hrsg. erwiderte der Pfarrer. »Nun, wenn Sie sich von den Sirenen nicht locken lassen wollen, so thun Sie Recht, sich bei Zeiten dagegen zu waffnen.«
Noch wenige Tage zuvor würde Lydgate in diesen Worten nichts weiter gefunden haben als die gewöhnliche Art des Pfarrers, sich auszudrücken. Jetzt schienen diese Worte ihm eine Anspielung zu enthalten, welche ihn in dem Eindruck bestärkte, daß er sich zum Narren gemacht und sich so benommen habe, daß man ihm habe falsche Absichten unterlegen können, – nicht, wie er meinte, Rosamunde selbst; sie hatte nach seiner Ueberzeugung Alles gerade so leicht aufgenommen, wie es von ihm beabsichtigt gewesen war. Sie hatte einen ausgesuchten Takt und ein feines Verständniß für alle Nüancen des Benehmens –, aber die Leute, unter denen sie lebte, waren klatschsüchtige Schwätzer. Wie dem aber auch sein mochte, man sollte seine Absichten nicht länger falsch auslegen. Er beschloß und führte diesen Beschluß aus, ferner, außer so weit seine ärztlichen Pflichten es mit sich brachten, nicht mehr in das Vincy'sche Haus zu gehen.
Rosamunde wurde sehr unglücklich. Die unbehagliche Stimmung, in welche sie die Fragen ihrer Tante zuerst versetzt hatten, wuchs und wuchs, bis dieselbe sich nach Verlauf von zehn Tagen, während deren sie Lydgate nicht gesehen hatte, zu einem Grauen vor der Leere, die sich vor ihr aufzuthun drohte, zu einer schaudernden Furcht, alle ihre Hoffnungen auf einmal wie mit einem Schwamme weggewischt zu sehen, gesteigert hatte. Die Welt drohte wieder trübselig vor ihr zu liegen wie eine Wildniß, die ein Zauberer auf kurze Zeit in einen Garten verwandelt hätte. Sie fühlte, daß sie die Pein einer getäuschten Liebe kennen zu lernen anfing und daß kein anderer Mann so köstliche Luftschlösser für sie würde hervorzaubern können wie die, an deren Anblick sie sich während der verflossenen sechs Monate geweidet hatte. Die arme Rosamunde verlor ihren Appetit und fühlte sich so verlassen wie Ariadne Ariadne war in der griechischen Mythologie die Tochter des kretischen Königs Minos. Sie half Theseus das Ungeheuer Minotauros zu besiegen ( Ariadnefaden), woraufhin sie in Theseus' Begleitung in Richtung Athen flüchtete. Bei einem Zwischenhalt auf der Insel Naxos wird Ariadne zurückgelassen, weil sie Dionysos im Olymp versprochen worden war, zum anderen, weil Theseus sich in eine andere verliebt hatte. – Anm.d.Hrsg. – wie eine reizende Bühnen-Ariadne, die sich mit all' ihren Koffern voll der schönsten Kostüme von ihrem Wagen im Stich gelassen sähe.
Es giebt viele wunderbare Gefühlsmischungen in der Welt, die alle gleicher Weise Liebe genannt werden und alle das Privilegium jener erhabenen Raserei in Anspruch nehmen, welche in Romanen und Dramen eine Entschuldigung für Alles bildet. Glücklicherweise dachte Rosamunde nicht daran, irgend einen verzweifelten Schritt zu thun; sie flocht ihr blondes Haar so schön wie immer und behauptete in ihrem Wesen eine stolze Ruhe. Ihre günstigste Annahme war, daß ihre Tante Bulstrode auf irgend eine Weise eingeschritten sei, um Lydgate an der Fortsetzung seiner Besuche zu verhindern; Alles wollte sie lieber, als sich sagen müssen, daß sie ihm gleichgültig geworden sei.
Wem zehn Tage als eine zu kurze Zeit erscheinen sollten, nicht um in Abzehrung oder andere meßbare Wirkungen der Leidenschaft zu verfallen, sondern um die ganze Seele in einen Zustand ängstlicher Befürchtungen und getäuschter Hoffnungen zu versetzen, der weiß nichts von dem, was in dem müßigen Gemüth einer eleganten jungen Dame, vorgehen kann. Am elften Tage aber bat Frau Vincy Lydgate, als er von Stone Court fortging, ihren Mann wissen zu lassen, daß in Herrn Featherstone's Gesundheitszustand eine merkliche Veränderung stattgefunden habe und daß sie ihn ersuche, noch an diesem Tage nach Stone Court zu kommen.
Nun hätte Lydgate zwar auf dem Comptoir vorsprechen oder seine Bestellung auf ein Blatt aus seinem Notizbuch schreiben und dieses an der Thür des Hauses abgeben können. Indessen fielen ihm diese einfachen Auskunftsmittel offenbar nicht ein, woraus wir wohl schließen dürfen, daß er nichts wesentliches dawider hatte, im Vincy'schen Hause zu einer Stunde, wo Herr Vincy nicht zu Hause war, vorzusprechen und seine Bestellung an Fräulein Vincy auszurichten.
Ein Mann kann aus verschiedenen Gründen in den Fall kommen, sich aus einer Gesellschaft zurückzuziehen, aber vielleicht würde selbst ein Weiser es nicht angenehm empfinden, von Niemandem vermißt zu werden. Es erschien Lydgate als eine anmuthige bequeme Art des Uebergangs von seinen alten zu seinen neuen Lebensgewohnheiten, sich gegen Rosamunde in einigen scherzhaften Worten über seinen Entschluß, allen Ausschweifungen und selbst den süßesten Klängen auf lange zu entsagen, auszusprechen. Wir wollen auch nicht leugnen, daß vorübergehende Reflektionen über die verschiedenen denkbaren Gründe für Frau Bulstrode's Winke sich wie feine geschmeidige Härchen leise mit dem solideren Gewebe seiner Gedanken verwebt hatten.
Fräulein Vincy war allein und erröthete bei Lydgate's Erscheinen so tief, daß er alsbald eine entsprechende Verlegenheit empfand und statt, wie er es sich vorgenommen hatte, zu scherzen, gleich damit anfing, den Grund seines Kommens anzugeben und sie mit einer gewissen Förmlichkeit zu bitten, ihrem Vater die Bestellung auszurichten. Rosamunde, der es im ersten Augenblick gewesen war, als kehre ihr Glück zurück, fühlte sich durch Lydgate's Benehmen sehr verletzt; ihre Röthe war wieder geschwunden und sie erklärte sich kalt bereit, die Bestellung auszurichten, ohne ein überflüssiges Wort hinzuzufügen, während eine Kettenarbeit, die sie in der Hand hielt, es ihr möglich machte, nicht höher als zu Lydgate's Kinn aufzublicken.
Bei allen verfehlten Unternehmungen ist in der Regel der erste Moment entscheidend. Nachdem Lydgate ein paar lange Augenblicke dagesessen und mit seiner Reitpeitsche gespielt hatte, ohne ein Wort hervorbringen zu können, stand er auf um fortzugehen, und Rosamunde, die durch den innern Kampf zwischen ihrem Verdruß und dem Wunsche, denselben nicht zu verrathen, nervös geworden war, ließ ihre Kette zu Boden fallen und stand gleichfalls mechanisch auf. Lydgate bückte sich sofort, um die Kette wieder aufzuheben.
Als er sich aufrichtete, fand er sich einem ungemein lieblichen Gesichte sehr nahe, das sonst immer mit der vollkommensten selbstbewußten Grazie drein zu schauen pflegte. Als er aber jetzt die Augen aufschlug, sah er in den Zügen dieses Gesichts ein gewisses hülfloses Zucken, welches ihm ganz neue Empfindungen erweckte und ihn einen ausdrucksvoll fragenden Blick auf Rosamunde richten ließ.
In diesem Augenblick war sie wieder so ganz natürlich, wie sie es als Kind von fünf Jahren gewesen war; sie fühlte, daß ihre Thränen sich zudrängten und daß es ein vergebliches Bemühen sein würde, etwas anderes zu thun, als sie wie Thautropfen an einer blauen Blume hängen oder gar ungehindert über ihre Wangen rollen zu lassen.
Dieser Moment der Natürlichkeit wirkte wie die Vollendung eines Krystallisationsprozesses, – er verwandelte Liebeständelei plötzlich in Liebe.
Vergeßt nicht, daß der ehrgeizige Mann, welcher jetzt in die feuchten Vergißmeinnicht blickte, ein sehr warmherziger und zu raschen Entschlüssen geneigter Mensch war. Er wußte nicht, wo die Kette, die er noch eben in der Hand hielt, geblieben war; eine Idee hatte sein tiefstes Inneres durchbebt und hatte die wunderbare Wirkung auf ihn geübt, die Gewalt der Liebe in ihm aufzuregen, die hier nicht in einem versiegelten Sarge, sondern unter der dünnsten Hülle leicht zu durchdringender Erde begraben lag.
Seine Worte kamen abgebrochen und ungeschickt heraus, aber ihr Ton machte sie klingen wie ein glühend flehendes Geständniß:
»Was ist Ihnen? Sie sind unglücklich. Bitte sagen Sie es mir.«
Noch nie hatte Jemand in solchen Tönen zu Rosamunden gesprochen. Ich bin nicht sicher, daß sie seine Worte auch nur recht hörte, aber sie sah Lydgate an, und die Thränen rollten ihr über die Wangen. Sie hätte ihm keine bündigere Antwort geben können, als die ihr Schweigen enthielt.
Und Lydgate vergaß Alles um sich her und war ganz von dem Gefühle überströmender Zärtlichkeit beherrscht, welches ihn plötzlich mit dem Glauben überkam, daß das Glück dieses lieblichen jungen Geschöpfes von ihm abhänge. In diesem Moment umschlang er sie mit seinen Armen, hielt sie darin sanft und wie beschützend – war er doch gewohnt, sanft gegen die Schwachen und Leidenden zu sein! – und küßte ihr zwei große Thränen von beiden Wangen. Das war eine sonderbare, aber sicherlich bündige Art sich zu verständigen.
Rosamunde war nicht böse, aber sie trat in schüchterner Glückseligkeit ein wenig zurück, und Lydgate konnte sich jetzt zu ihr setzen und weniger unzusammenhängend reden. Rosamunde hatte ihr kleines Geständniß abzulegen und er ergoß sich in Worten der Dankbarkeit und Zärtlichkeit, wie sie der reichen Fülle seines Herzens entströmten. Eine halbe Stunde später verließ er das Haus als ein Verlobter, dessen Herz nicht mehr ihm, sondern dem Weibe gehörte, dem er sich ergeben hatte.
Abends kam er wieder, um mit Herrn Vincy zu reden, der, eben von Stone Court zurückgekehrt, überzeugt war, daß binnen Kurzem die Nachricht von Herrn Featherstone's Ableben eintreffen werde. Das Glück verheißende Wort »Ableben,« welches ihm sehr zu rechter Zeit eingefallen war, hatte ihn in eine noch bessere Laune versetzt, als in der er sich sonst schon Abends zu befinden pflegte.
Das rechte Wort zu rechter Zeit ist immer eine Macht und wirkt mit seiner Entschiedenheit auch auf unsere Handlungen. Als ein »Ableben« betrachtet gewann der Tod des alten Featherstone das Ansehen eines bloßen Rechtsaktes, so daß Herr Vincy dabei auf seine Schnupftabacksdose klopfen und jovial sein konnte, ohne auch nur von Zeit zu Zeit eine feierliche Miene affectiren zu müssen – und Herr Vincy haßte beides, Feierlichkeit und Affectation. Wer hätte sich wohl je bei dem Gedanken an einen »Erblasser« von schauernder Ehrfurcht ergriffen gefühlt, oder wer hätte je den Rechtstitel auf Grundeigenthum in einer Hymne besungen?
Herr Vincy war an diesem Abend in der Stimmung, allen Dingen eine heitere Seite abzugewinnen; er bemerkte sogar gegen Lydgate, daß sich bei Fred doch auch schließlich die Familienconstitution bewähre und daß er bald ein so fixer Kerl sein werde wie je zuvor. Und als nun Lydgate bei ihm um Rosamunden's Hand anhielt, gab er erstaunlich rasch seine Einwilligung und ging alsbald zu allgemeinen Bemerkungen über das Wünschenswerthe früher Ehen über, indem er aus alledem ersichtlich den Schluß zog, daß es angezeigt erscheine, heute Abend ein bischen mehr Punsch zu trinken als gewöhnlich.