Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 26 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 4):

He beats me and I rail at him: O worthy satisfaction! would it were otherwise – that I could beat him while he railed at me.

Shakespeare: Troilus and Cressida.


Aber Fred kam aus den allertrifftigsten Gründen am nächsten Tage nicht nach Stone Court. Seinem Aufenthalte in den ungesunden Straßen von Houndsley hatte er nicht nur ein schlechtes Pferd, sondern auch die fernere Unannehmlichkeit eines Unwohlseins zu verdanken, welches sich ein paar Tage lang nur in Kopfschmerzen äußerte und von Verstimmung herzurühren schien, nach seiner Rückkehr von Stone-Court aber so schlimm wurde, daß er sich bei seinem Eintritt in's Eßzimmer auf das Sofa warf und auf die ängstlichen Fragen seiner Mutter erwiderte: »Ich bin sehr elend, ich glaube, Du mußt zu Wrench schicken.«

Herr Wrench erschien, fand aber in Fred's Zustande durchaus nichts Bedenkliches, nannte denselben »eine leichte Indisposition« und sagte nichts davon, daß er am nächsten Tage wieder kommen werde. Er hatte die gebührende Achtung für das Vincy'sche Haus, aber die bedächtigsten Leute werden leicht durch Routine eine wenig stumpf und es begegnet ihnen wohl, daß sie an sauren Vormittagen ihr Tagewerk mit ungefähr demselben Eifer vollbringen, mit welchem der Meßner täglich zu derselben Zeit die Glocke zieht.

Herr Wrench war ein kleiner, zierlicher Mann mit einer wohlgepflegten Perrücke, der eine mühsame Praxis, ein durch Magenbeschwerden noch reizbarer gemachtes Temperament, eine lymphatische Frau und sieben Kinder hatte. Und heute war er schon etwas spät zu einer viermeiligen Fahrt nach dem äußersten Ende von Tipton aufgebrochen, wo die Middlemarcher Aerzte in Folge der Erkrankung eines dortigen Landpraktikers, Hicks, jetzt viel zu thun hatten und wo er zu einer Consultation mit Dr. Minchin erwartet wurde.

Große Staatsmänner sind dem Irrthume unterworfen, warum nicht auch kleine Aerzte? Herr Wrench unterließ nicht die gewöhnlichen kleinen weißen Papierhüllen zu schicken, welche dieses Mal einen schwarzen und drastisch wirkenden Inhalt hatten. Sie verschafften dem armen Fred durchaus keine Erleichterung; er wollte jedoch, wie er sagte, nicht glauben, daß er »eine Krankheit im Leibe habe,« und stand am nächsten Morgen zu seiner gewohnten späten Stunde auf, kam hinunter und versuchte es zu frühstücken, war aber unfähig irgend etwas anderes zu thun, als fröstelnd vor dem Kamine zu sitzen.

Man schickte wieder zu Herrn Wrench, dieser aber war nicht mehr zu Hause, sondern bereits auf seine Praxis ausgegangen, und Frau Vincy fing, als sie das veränderte Aussehen und den jämmerlichen Zustand ihres Lieblings eine Weile mit angesehen hatte, zu weinen an und sagte, sie wolle zu Dr. Sprague schicken.

»Ach dummes Zeug, Mutter! Mir fehlt ja gar nichts,« sagte Fred, indem er ihr seine heiße, trockne Hand entgegenstreckte. »Ich werde bald wieder ganz wohl sein; ich muß mich bei dem Ritt in dem fatalen feuchten Wetter erkältet haben.«

»Mama!« rief Rosamunde, welche an dem auf eine höchst gentile, Lowick Gate genannte Straße hinausgehenden Fenster saß, »da steht Herr Lydgate und unterhält sich mit Jemandem. Wenn ich an Deiner Stelle wäre, würde ich ihn hereinrufen. Er hat Ellen Bulstrode kurirt, und die Leute sagen, er kurirt alle seine Patienten.«

Frau Vincy eilte ans Fenster und öffnete es sofort, ohne an etwas anderes als an Fred, also auch ohne an ärztliche Etiquette zu denken.

Lydgate, der wenige Schritte entfernt hinter einem eisernen Gitter stand, wandte sich schon bei dem Hinaufschieben des Fensters um, noch ehe Frau Vincy ihn gerufen hatte.

Zwei Minuten später war er im Zimmer. Rosamunde ging hinaus, nachdem sie noch grade lange genug verweilt hatte, um zu zeigen, wie eine anmuthige Besorgniß mit ihrem Schicklichkeitsgefühl in ihr kämpfe.

Lydgate mußte einen Bericht anhören, in welchem Frau Vincy mit merkwürdigem Tact alle unwesentlichen Punkte nachdrücklichst hervorhob, namentlich das, was Herr Wrench in Betreff seines Wiederkommens gesagt und nicht gesagt habe.

Lydgate sah sofort, daß ihn die Sache leicht in Ungelegenheiten mit Wrench bringen könne; der Fall war aber so ernst, daß er dieser Erwägung keinen weiteren Raum gab. Er war überzeugt, daß Fred sich in dem exanthematischen Stadium eines typhösen Fiebers befinde und daß er grade die verkehrte Arzenei genommen habe. Lydgate verordnete verschiedene Mittel und Verhaltungsmaßregeln, deren Anwendung er mit peinlicher Genauigkeit vorschrieb, ließ Fred sofort zu Bette gehen, und drang darauf, daß eine ordentliche Krankenwärterin für ihn genommen werde.

Das Entsetzen der armen Frau Vincy über diese Anzeichen ernstlicher Gefahr machte sich in den naheliegendsten Aeußerungen Luft. Sie fand, es sei »ein häßliches Benehmen.« von Herrn Wrench, dem ihr Haus so viele Jahre den Vorzug vor Herrn Peacock gegeben habe, obgleich doch auch Herr Peacock ein Hausfreund gewesen sei. Was Herrn Wrench berechtige, ihre Kinder eher zu vernachlässigen, als die Kinder Anderer, könne sie, so wahr sie lebe, nicht begreifen. Er habe doch Frau Larcher's Kinder nicht vernachlässigt, als sie die Masern gehabt, und Frau Vincy würde es auch wirklich nicht gerne gesehen haben, wenn er das gethan hätte.

»Und wenn etwas passiren sollte –«

Bei diesen Worten verlor die arme Frau Vincy völlig ihre Fassung und ihr schöner Niobe-Hals und ihr heiteres Gesicht wurden durch krampfhafte Zuckungen traurig entstellt.

Diese Unterhaltung fand auf dem Vorplatze, wo Fred nichts davon hören konnte, statt; aber Rosamunde hatte die Thür des Wohnzimmers geöffnet und trat jetzt ängstlich herzu.

Lydgate nahm Herrn Wrench in Schutz, sagte, die Symptome seien gestern noch verkappt gewesen, und diese Art von Fieber sei im Beginn sehr schwer zu erkennen; er werde gleich zum Apotheker gehen und eine Arzenei bereiten lassen, damit keine Zeit verloren gehe, er werde aber auch an Herrn Wrench schreiben und demselben mittheilen, was er verordnet habe.

»Aber Sie müssen wiederkommen, Sie müssen Fred weiter behandeln. Ich kann mein Kind nicht Jemandem anvertrauen, von dem ich nicht gewiß weiß, ob er kommt oder nicht. Ich brauche Gott sei Dank Niemandem übel zu wollen, und Herr Wrench hat mich von der Rippenfell-Entzündung curirt; aber er hätte besser gethan, mich sterben zu lassen –wenn – wenn –«

»Ich kann ja hier mit Herrn Wrench zusammentreffen; ist Ihnen das recht?« sagte Lydgate, der in Wahrheit dafür hielt, daß Wrench der Behandlung eines Falles wie der vorliegende nicht gewachsen sei.

»Bitte, treffen Sie eine solche Verabredung, Herr Lydgate,« sagte Rosamunde, indem sie ihrer Mutter zu Hülfe kam und ihr ihren Arm bot, um sie wieder hinaufzuführen.

Als Herr Vincy nach Hause kam und von dem Vorgefallenen hörte, wurde er sehr böse auf Wrench und erklärte, seinetwegen brauche dieser sein Haus nie wieder zu betreten. Lydgate solle jetzt Fred weiter behandeln, gleichviel ob es Wrench angenehm sei oder nicht. Es sei kein Spaß, das Fieber im Hause zu haben. Es müsse gleich allen zum nächsten Donnerstage zu Tisch Geladenen abgesagt werden. Und Pritchard solle gar keinen Wein herausgeben; Cognac sei das beste Mittel gegen Ansteckung.

»Ich werde Cognac trinken,« fügte Herr Vincy emphatisch hinzu, als wolle er sagen, es handle sich hier nicht um einen bloßen Schreckschuß. »Der Fred hat doch entsetzliches Pech. Es ist nachgerade Zeit, daß er einmal ein bischen Glück habe, um ihn für all' sein Unglück zu entschädigen! Sonst möchte ich wahrhaftig den sehen, der noch Lust hätte, einen ältesten Sohn zu haben.«

»Sprich nicht so, Vincy,« sagte die Mutter mit zitternder Stimme, »wenn Du nicht willst, daß er mir genommen wird.«

»Du wirst Dich noch zu Tode ängstigen, Lucy, das sehe ich klar,« sagte Herr Vincy in milderem Tone. »Aber Wrench soll erfahren, wie ich über die Sache denke.«

Was Herrn Vincy unklar vorschwebte, war, daß dem Ausbruche des Fiebers vielleicht hätte vorgebeugt werden können, wenn Wrench bei seiner – des Mayors Familie – die rechte Sorgfalt angewandt hätte.

»Ich bin der Letzte, mich dem allgemeinen Geschrei nach neuen Doctoren oder nach neuen Pastoren, gleichviel ob es Bulstrode's Creaturen sind oder nicht, anzuschließen. Aber Wrench soll erfahren, was ich denke, er mag es aufnehmen, wie er will.«

Herr Wrench nahm es durchaus nicht gut auf. Lydgate war so höflich gegen ihn, wie es seine etwas selbstbewußte Art nur zuließ; aber die Höflichkeit eines Mannes, der uns einen Vortheil abgerungen hat, erbittert uns nur noch mehr, besonders wenn wir ihn schon vorher nicht haben leiden können.

Landpraktiker pflegen eine reizbare und im Punkte der Ehre sehr empfindliche Gattung von Menschen zu sein und Herr Wrench war einer der reizbarsten unter ihnen. Er lehnte es nicht ab, Abends mit Lydgate bei dem Kranken zusammenzutreffen, aber seine Empfindlichkeit wurde bei dieser Gelegenheit auf eine ziemlich harte Probe gestellt. Er mußte sich von Frau Vincy sagen lassen:

»O Herr Wrench, was habe ich Ihnen zu Leide gethan, daß Sie sich so gegen mich benehmen? – Fortzugehen, und nicht wieder zu kommen! Und während der Zeit hätte unser Junge zur Leiche werden können!«

Herr Vincy, welcher ein scharfes Feuer gegen die Feindin »Ansteckung« unterhalten und sich in Folge dessen ziemlich stark erhitzt hatte, erhob sich, sobald er Herrn Wrench ins Haus kommen hörte, und ging ihm auf den Vorplatz entgegen, um ihm seine Meinung zu sagen.

»Wissen Sie was, Wrench, das geht über den Spaß,« sagte der Mayor, der sich neuerdings daran gewöhnt hatte, Uebelthätern mit einer offiziellen Miene Verweise zu ertheilen, und der sich jetzt noch breiter machte, indem er seine Daumen in die Aermellöcher steckte. »Ein Fieber so unversehens sich in ein Haus wie dieses einschleichen zu lassen. Es giebt Dinge, die klagbar sein sollten, es aber leider nicht sind! das ist meine Meinung«

Aber unverständige Vorwürfe waren für Herrn Wrench leichter zu tragen, als das Bewußtsein, sich unterweisen lassen zu müssen, oder vielmehr das Bewußtsein, daß ein jüngerer Mann wie Lydgate ihn der Unterweisung für bedürftig halte; denn soviel stand, wie Herr Wrench sich später äußerte, fest, Lydgate brüstete sich leichtfertig mit ausländischen Ideen, die sich nicht bewähren würden.

Im Augenblick verschluckte er seinen Aerger, lehnte es aber dann schriftlich ab, den Fall noch ferner zu behandeln. So schätzbar auch das Vincy'sche Haus sein mochte, Herr Wrench war nicht der Mann, sich in einer Berufsangelegenheit von irgend Jemandem ins Schlepptau nehmen zu lassen. Er erwog, und das von seinem Standpunkte aus gewiß nicht ohne Berechtigung, daß Lydgate mit der Zeit wohl auch von Andern werde überflügelt werden und daß sein uncollegialischer Versuch, den Verkauf von Arzeneien durch seine Amtsbrüder zu discreditiren, ihm mit der Zeit werde heimgezahlt werden. Er sparte nicht mit beißenden Bemerkungen über Lydgate's eines Quacksalbers würdige Kunststücke, durch die er sich einen künstlichen Ruf bei leichtgläubigen Leuten zu verschaffen suche. Das alberne Gerede von brillanten Kuren werde nie über solide Praktiker verbreitet.

Dies war ein Punkt, unter welchem Lydgate so sehr litt, wie es Herr Wrench nur irgend wünschen konnte. Sich durch Ignoranten ein Renomme gemacht zu sehen, war nicht nur demüthigend, sondern auch gefährlich, und der so erlangte Ruf nicht beneidenswerther als der eines Wetterpropheten. Die thörichten Expectorationen, welche er in seiner Praxis auf Schritt und Tritt mit anhören mußte, machten ihn ungeduldig, und es war nur zu wahrscheinlich, daß er sich durch seine unberufsmäßige Offenheit schaden werde.

Einstweilen jedoch wurde Lydgate von den Vincy's als Hausarzt angenommen, und dieses Ereigniß bildete den Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung in Middlemarch. Einige sagten, die Vincy's hätten sich skandalös benommen, Herr Vincy habe Wrench gedroht, und Frau Vincy habe ihn beschuldigt, ihren Sohn vergiftet zu haben. Andere dagegen waren der Ansicht, daß Lydgate's zufälliges Vorübergehen providentiell gewesen sei, daß er außerordentlich geschickt in der Behandlung von Fiebern sei und daß Bulstrode Recht habe, ihn zu poussiren.

Viele Leute glaubten, daß Lydgate's Niederlassung in der Stadt in der That ganz Bulstrode's Werk sei und Frau Taft, welche unaufhörlich ihre Maschen zählte und ihre Nachrichten immer aus halbverstandenen Sätzen, die sie bei dieser Arbeit aufgeschnappt hatte, schöpfte, hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß Lydgate ein natürlicher Sohn Bulstrode's sei, eine Thatsache, welche sie nur in ihrem Mißtrauen gegen streng kirchliche Laien bestärkte.

Eines Tages theilte sie diese Kunde Frau Farebrother mit, und diese verfehlte nicht, ihrem Sohne von der Sache zu erzählen und dabei zu bemerken:

»Von Bulstrode würde mich nichts wundern, aber es sollte mir leid thun, wenn ich so etwas von Herrn Lydgate denken müßte.«

»Aber liebe Mutter,« erwiderte Farebrother, laut auflachend, »Du weißt ja sehr gut, daß Lydgate aus einer guten Familie im Norden ist. Er hat in seinem Leben nichts von Bulstrode gehört, ehe er her kam.«

»Das spricht allerdings Herrn Lydgate von der Sache frei, Camden,« sagte die alte Dame mit der Miene einer sehr präcisen Auseinandersetzung, »was aber Bulstrode anlangt, so kann das Gerücht doch von einem andern Sohne wahr sein.«



 << zurück weiter >>