George Eliot
Adam Bede - Zweiter Band
George Eliot

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Vierundfünfzigster Abschnitt

Das Wiedersehen auf dem Hügel

Adam verstand, warum Dina es so eilig gehabt habe fortzugehen und fühlte sich dadurch in seiner Hoffnung gehoben; er merkte, sie sei bange gewesen, ihre Neigung zu ihm würde zu mächtig und sie werde nicht mehr der Stimme ihres Gewissens gehorchen können.

»Ich hätt' sie doch bitten sollen, mir zu schreiben, dachte er. Und doch, auch das hätte sie wohl beunruhigt. Sie will erst 'ne Zeitlang ganz ruhig in ihrer alten Weise leben, und ich habe kein Recht, ihr mit den Wünschen meiner Ungeduld dazwischen zu kommen. Sie hat mir gesagt, wie sie denkt, und wie sie's gesagt hat, so meint sie's auch; da muß ich ruhig warten.«

Das war Adams verständiger Entschluß, und die ersten zwei oder drei Wochen gedieh er ganz vortrefflich von der Nahrung, die er aus der Erinnerung an Dinas offenes Liebesgeständnis sog. Es ist erstaunlich, wie viel Kraft in den ersten paar Worten der Liebe liegt. Aber gegen die Mitte Oktober fing der Entschluß merklich an zu kränkeln und zeigte bedenkliche Symptome der Schwindsucht. Wie wurden die Wochen so lang! Dina hatte doch jetzt mehr als Zeit genug gehabt, zu einer Entscheidung zu kommen. Wenn eine Frau einem Manne einmal gesagt hat, sie liebe ihn, dann mag sie nachher sagen was sie will, jener erste Feuertrank geht ihm wild durchs Blut und er fragt nicht wie der zweite schmeckt; er tritt die Erde mit gehobenem Schritt, wenn er von ihr geht, und achtet alle Schwierigkeiten gering. Aber diese Glut verfliegt; eine Woche Zusatz verdünnt die Erinnerung in bedenklicher Weise, so daß sie nicht mehr imstande ist uns wieder zu beleben. Adam war seiner Sache nicht mehr so ganz sicher; er fing an zu besorgen, die alte Gewohnheit sei für Dina zu mächtig, als daß das neue Gefühl der Liebe in ihr siegen könne. Hätte sie das nicht selbst empfunden, so hätte sie doch gewiß schon an ihn geschrieben, um ihn etwas zu trösten; aber so schien sie ihm mit Absicht jede Hoffnung nehmen zu wollen. Mit seinem Selbstvertrauen verschwand auch seine Geduld, und er überlegte sich, er müsse selbst einen Brief schreiben und darin Dina bitten, ihn nicht länger als nötig in peinlicher Ungewißheit zu lassen. Eines Abends schrieb er bis spät in die Nacht an sie, aber am andern Morgen verbrannte er den Brief, weil er wegen der Folgen besorgt war. Einen Absagebrief fürchtete er mehr als eine ablehnende Entscheidung aus ihrem eigenen Munde; ihr Anblick würde ihn aussöhnen mit jeder Entscheidung. Adam sehnte sich nach Dinas Anblick, wie man sieht, und wenn eine solche Sehnsucht einen gewissen Grad erreicht, dann befriedigt sie ein Verliebter gewiß, und sollte er seine ganze Zukunft daran setzen.

Indes was konnte es schaden, wenn er nach Snowfield ging? Übelnehmen konnte sie's ihm doch nicht; sie hatte ihm den Besuch nicht verboten und mußte darauf gefaßt sein, daß er endlich selbst anfragte. Als der zweite Sonntag des Oktobers herangekommen war, hatte Adam sich in dieser Ansicht von der Sache schon so befestigt, daß er sich wirklich nach Snowfield auf den Weg machte; diesmal zu Pferde, denn seine Zeit war jetzt kostbar, und er hatte sich Meister Jonathans Pferd zur Reise geborgt.

Wie lebhafte Erinnerungen begleiten ihn auf dem Wege! Seit jener ersten Reise nach Snowfield war er oft wieder nach Oakbourne gewesen, aber jenseits Oakbourne schienen ihm die Reihen von grauen Steinen, der rauhe Boden und die verkümmerten Bäume die Geschichte jener schmerzlichen Vergangenheit ganz frisch zu erzählen, die er so gut auswendig wußte. Aber im Laufe der Zeit macht keine Geschichte auf uns denselben Eindruck, wir lesen sie mit andern Augen, und Adam betrat an jenem Morgen die öde Landschaft mit neuen Gedanken im Herzen, welche der Vergangenheit eine andere Bedeutung gaben.

Über ein vergangenes Übel, welches einen Mitmenschen bedrückt oder vernichtet hat, sich zu freuen und dankbar zu sein, weil es für uns zu einer Quelle unerwarteten Glückes geworden ist, das ist gemein, selbstsüchtig, frevelhaft. Adam hatte nie aufgehört, über jenes bittere Leid zu trauern, welches ihm einst so nahe gekommen war, und nie vermochte er für das Unglück eines Mitmenschen Gott zu danken, und hätte ihm ein anderer von jener engherzigen Freude gesprochen, so hätte er gewiß den Kopf geschüttelt und gesagt: »Unglück bleibt Unglück und Kummer bleibt Kummer, ihr mögt es in Worte kleiden wie ihr wollt; meine Mitmenschen sind nicht für mich auf der Welt, so daß alles in Ordnung wäre, wenn sich's für mich zum besten wendet.«

Aber wohl dürfen wir uns dem Gefühle hingeben, daß das reichere Leben, welches eine traurige Erfahrung uns gebracht hat, des erlittenen Schmerzes wert ist; ja wir können unmöglich anders empfinden, so wenig wie ein Mensch, der den grauen Staar hat, die schmerzhafte Entwicklung bedauern kann, durch welche sein trübes, verschwimmendes Gesicht, in welchem ihm die Menschen wie wandelnde Bäume erschienen, in hellen Tag verwandeln wird. Die Steigerung unserer Empfindungen ist wie die Steigerung unserer Fähigkeiten und giebt uns das Gefühl vermehrter Kraft; wir können nicht mehr zu der beschränkteren Neigung zurück, so wenig wie ein Maler oder Musiker zu seiner ungebildeteren Manier oder wie ein Denker zu einer unvollkommeneren Formel.

In solcher Weise fühlte sich auch Adams Sein erweitert, als er an dem Sonntag Morgen in lebhafter Erinnerung an die Vergangenheit dahinritt. Seine Liebe zu Dina und die Hoffnung, fürs Leben mit ihr vereinigt zu werden, war der ferne Zielpunkt gewesen, auf den jene qualvolle Reise vor anderthalb Jahren ihn hingeleitet hatte. Zärtlich und tief wie seine Liebe für Hetty gewesen war – so tief, daß ihre Wurzeln sich nie ausreißen ließen – seine Liebe für Dina war besser und ihm teurer; denn sie war die Frucht des tieferen und reicheren Lebens, welches Sorge und Kummer ihm erschlossen hatten. »Daß ich sie liebe und ihre Gegenliebe kenne,« sagte er zu sich, »das ist mir eine neue Kraft. Sie wird mir helfen das Leben richtig zu nehmen. Sie ist ja besser als ich, hat weniger Selbstsucht und Stolz. Man fühlt sich freier und geht sichrer, wenn man sich auf einen andern mehr verlassen kann als auf sich selbst. Ich habe immer geglaubt, ich könne alles besser als meine Angehörigen, und das ist doch ein kümmerlich Leben, wenn man von seinen nächsten Angehörigen keinen gescheiteren Gedanken erwarten kann, als man selbst im Kopfe hat.«

Es war schon zwei Uhr nachmittag vorbei, als Adam das graue Städtchen am Abhang des Hügels zu Gesicht bekam und forschend in das grüne Thal hinunterblickte nach dem alten Strohdach bei der häßlichen roten Fabrik. In dem sanften Licht der Oktobersonne erschien ihm die Landschaft weniger rauh als in der grellen Beleuchtung des ersten Frühlings, und der eine große Reiz, den sie mit allen offenen, baumlosen Gegenden gemein hatte – der Anblick des endlosen Himmelsgewölbes – wirkte noch milder und beruhigender als sonst, da der Tag fast wolkenlos war. Adam fühlte seine Zweifel und Besorgnisse dahinschwinden, wie er die zarten, feingewobenen Wolken über sich allmählich in klares Blau hatte schwinden sehen. Es war ihm als sähe er Dinas mildes Antlitz, wie es mit dem bloßen Blick der Augen ihm die Erfüllung all seines Verlangens zusicherte.

Er war darauf gefaßt, Dina um diese Zeit nicht zu Hause zu finden, aber er stieg vom Pferde und band es an die kleine Pforte, um zu fragen, wo sie heut hin sei. Er wollte ihr nachgehen und sie zurückbegleiten. Sie war nach einem Weiler ungefähr eine Stunde jenseits des Hügels, erzählte ihm die alte Frau; war gleich nach dem Frühgottesdienst weggegangen, um dort nach ihrer Gewohnheit in einer Hütte zu predigen; den Weg nach dem Weiler könnte ihm jedes Kind im Städtchen sagen. Nachdem er sein Pferd im Wirtshause untergebracht und sich selbst etwas erquickt hatte, wobei ihn der geschwätzige Wirt mit Fragen und Erinnerungen quälte, denen er sich beeilte auszuweichen, machte er sich zu Fuß weiter auf den Weg. Trotz seiner Eile war es inzwischen beinahe vier Uhr geworden, und er glaubte, Dina sei vielleicht schon auf dem Rückwege. Schon von weitem sah er den kleinen, grauen Weiler, der ganz offen in der baumlosen Gegend dalag, und als er näher kam, hörte er ein geistliches Lied singen. »Das ist wohl der Schlußgesang,« dachte Adam; »ich will lieber etwas zurückgehen, um sie nicht so nahe beim Dorfe zu treffen.« Er ging fast bis auf die Höhe des Hügels zurück und setzte sich da auf einen losen Stein an einer niedrigen Mauer; da wollte er warten, bis er die kleine, schwarze Gestalt von dem Weiler her den Hügel hinankommen sähe. Er wählte diesen Platz wegen seiner Einsamkeit; kein Mensch konnte ihn sehen, kein Haus, kein Vieh, nicht einmal ein grasendes Schaf war in der Nähe, nichts als die schweigenden Lichter und Schatten und der allumfassende Himmel.

Sie blieb viel länger aus als er dachte; er wartete wenigstens eine Stunde und sah nach ihr aus und dachte an sie, während die Schatten länger wurden und das Licht blasser. Endlich kam die kleine schwarze Gestalt zwischen den grauen Häusern hervor auf den Hügel zu. Recht langsam, wie Adam glaubte, aber Dina ging ihren gewöhnlichen Schritt, leicht und rasch. Jetzt stieg sie allmählich den Hügel hinan, aber Adam rührte sich noch nicht, er wollte ihr nicht zu früh begegnen, er hatte sein Herz darauf gesetzt, sie ganz in der Einsamkeit zu treffen. Aber wird ihr die Überraschung nicht zu groß sein? Nein, sie ist immer so still und ruhig, sie ist auf alles gefaßt.

Was sie sich wohl dachte als sie den Hügel hinanstieg? Hatte sie volle Ruhe gefunden ohne ihn? Fühlte sie nicht mehr das Bedürfnis seiner Liebe? – Am Rande einer Entscheidung zittert jeder, und die Hoffnung schwebt mit ängstlich flatterndem Flügel.

Endlich kam sie ganz nahe und Adam trat hinter der Mauer vor. Zufällig war Dina grade in dem Augenblicke stehen geblieben und hatte sich nach dem Dorfe umgedreht; wer bliebe nicht stehen und sähe sich um, ehe er einen Hügel überschreitet? Adam freute sich darüber; mit dem feinen Gefühl der Liebe erkannte er, daß es am besten sei, wenn sie den Klang seiner Stimme hörte, ehe sie ihn sähe. Er trat nahe an sie heran und sagte: »Dina!« Sie fuhr zusammen, aber sah sich nicht um; der Ton schien ihr nicht von einem bestimmten Orte zu kommen. Adam wußte recht gut, was in ihr vorging. Sie war so gewöhnt an körperlose Eindrücke, an Geisterstimmen, daß sie nach einem sinnlichen, greifbaren Ursprung der Stimme nicht suchte. »Dina!« sagte Adam zum zweitenmal, und jetzt beim zweitenmale sah sie sich um. Welch' ein Blick sehnsüchtiger Liebe glänzte aus den sanften, grauen Augen auf den kräftigen, dunkeln Mann! Sie fuhr nicht zusammen als sie ihn erblickte, sie sagte nichts, sondern ging auf ihn zu, und sie lagen einander in den Armen.

Und so schweigend gingen sie weiter, während die heißen Thränen flossen. Adam war glücklich und sagte nichts. Dina sprach zuerst.

»Adam,« sagte sie, »es ist Gottes Wille. Meine Seele ist so mit deiner verwachsen, daß ich ohne dich nur ein halbes Leben führe, und in diesem Augenblick, nun du bei mir bist und ich fühle, daß unsere Herzen einer Liebe voll sind, habe ich eine Fülle von Kraft, alles zu tragen und den Willen unseres himmlischen Vaters zu thun, die ich bisher verloren hatte.«

Adam blieb stehen und sah ihr in die treuen, lieben Augen.

»Dann wollen wir uns nie wieder trennen, Dina, bis der Tod mich von dir scheidet.«

Und sie küßten sich mit tiefer Freude. Kann es etwas Größeres geben für zwei Menschenseelen als das Gefühl, daß sie verbunden sind für's ganze Leben – einander beizustehen in jeder Mühe, zu stützen in jedem Schmerz, zu helfen in jeder Not, eins zu sein untereinander in schweigender, unaussprechlicher Erinnerung im Augenblicke des letzten Scheidens?


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