George Eliot
Adam Bede - Zweiter Band
George Eliot

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Dreißigster Abschnitt

Adam übergiebt den Brief

Am nächsten Sonntag schloß sich Adam beim Herausgehen aus der Kirche an Poysers an, in der Hoffnung, sie würden ihn zu sich nach Hause einladen. Er hatte den Brief in der Tasche und sehnte sich nach einer Gelegenheit, mit Hetty allein zu sprechen. In der Kirche konnte er ihr Gesicht nicht sehen, weil sie ihren Platz geändert hatte, und als er an sie herantrat und ihr die Hand reichte, war ihr Benehmen unsicher und gezwungen. Darauf war er gefaßt; es war das erstemal, daß er sie seit der Überraschung im Wäldchen wiedersah.

»Kommt, Adam, geht mit uns nach Haus,« sagte Pachter Poyser, als sie an die Stelle kamen, wo Adams Weg von dem ihrigen sich trennte. Und sobald sie aufs Feld kamen, wagte Adam, Hetty den Arm zu geben. Die Kinder gaben ihnen bald genug Gelegenheit, etwas zurückzubleiben, und Adam sagte.

»Könnt Ihr es wohl so einrichten, daß ich mit Euch heute Abend in den Garten gehe, wenn es gut bleibt? Ich hab' Euch etwas Besondres zu sagen.«

Hetty antwortete mit einem kurzen Ja. Sie war im Grunde eben so begierig nach einem Gespräch unter vier Augen wie Adam; sie wunderte sich, was er wohl von ihr und Arthur dächte; das Küssen mußte er gesehen haben, davon war sie überzeugt, aber von der Scene, die zwischen Arthur und Adam vorgefallen war, hatte sie keine Ahnung. Ihr erstes Gefühl war gewesen, Adam würde sehr böse auf sie sein und es vielleicht Onkel und Tante wiedererzählen; daß er es wagen würde, den jungen Herrn zur Rede zu stellen, kam ihr nicht in den Sinn. Sie fühlte sich erleichtert, als er heute so freundlich gegen sie war und sie allein sprechen wollte; denn vorher, als sie sah, er wolle mit ihnen nach Haus gehen, war sie schon besorgt gewesen, er würde alles ausplaudern. Jetzt, wo er sie allein sprechen sollte, mußte sie erfahren, was er von ihr dachte und was er zu thun vorhabe. Sie fühlte sich ziemlich sicher, sie könne ihn von allem zurückhalten, was ihr unerwünscht sei; vielleicht konnte sie ihn sogar glauben machen, sie frage nichts nach Arthur, und daß Adam alle ihre Wünsche erfüllen würde, so lange er Hoffnung habe, sie würde ihn nehmen, das wußte sie ganz bestimmt. Zudem mußte sie schon aus dem Grunde fortfahren, Adam zum Schein zu begünstigen, damit Onkel und Tante nicht böse würden und auf den Verdacht kämen, sie habe im stillen einen andern Liebhaber.

So kalkulierte Hetty in ihrem kleinen Köpfchen, während sie an Adams Arm hing und Ja oder Nein antwortete auf seine Bemerkungen über die vielen Hagebutten, die es nächsten Winter für die Vögel geben würde, und über die tief herabhängenden Wolken, die gewiß heute noch Regen brächten. Und als sie Onkel und Tante wieder einholten, konnte sie ihren Gedanken ungestört nachhängen, da nach Martin Poysers Ansicht ein junger Mann wohl gern das Mädchen am Arm habe, um das er freie, aber sich dabei doch auch ganz gern vernünftig übers Geschäft unterhalte. Daneben war er seinerseits auch neugierig auf die letzten Nachrichten vom Vorwerk. Für den übrigen Teil des Weges nahm er daher Adams Unterhaltung für sich in Anspruch, und Hetty schmiedete nun ihre kleinen Plänchen und dachte sich so allerlei listige Schmeicheleien aus, während sie neben dem ehrlichen Adam die Feldwege entlang ging, ganz so gut als wäre sie eine elegante Kokette nach der Mode gewesen in ihrem einsamen Boudoir. Wenn nämlich eine Bauernschönheit in plumpen Schuhen nur seicht und oberflächlich genug ist, dann ist's ganz zum Erstaunen, wie genau bei ihr die geistigen Vorgänge denen einer Dame aus der feinen Gesellschaft gleichen können, die ihren gebildeten Verstand darauf verwendet, Indiscretionen zu begehen, ohne sich selbst bloßzustellen. Vielleicht war die Ähnlichkeit darum nicht geringer, weil Hetty sich all die Zeit sehr unglücklich fühlte. Der Abschied von Arthur war für sie doppelt schmerzlich; in das Gewirr von Leidenschaft und Eitelkeit mischte sich eine unklare, unbestimmte Furcht, die Zukunft könne sich doch ganz anders gestalten als auf ihrem Traumbilde. Sie klammerte sich an die tröstenden, hoffnungsreichen Worte, die ihr Arthur das letzte Mal gesagt hatte: »Weihnachten komme ich wieder und dann wollen wir sehen, was sich thun läßt.« Sie klammerte sich an den Glauben, er habe sie so lieb, daß er ohne sie nie glücklich werde, und noch immer hätschelte sie ihr Geheimnis, daß ein großer Herr sie liebe, mit stolzem Wohlgefallen als einen unendlichen Vorzug vor allen Mädchen ihrer Bekanntschaft. Aber die Ungewißheit der Zukunft mit all den Möglichkeiten, denen sie keine rechte Gestalt zu geben wußte, fing an auf ihr zu lasten wie die unsichtbare Schwere der Luft; sie war allein auf ihrer kleinen Trauminsel, und rings um sie her lag das dunkle, unbekannte Wasser, über welches Arthur davongegangen war. Nun trug sie den Sinn nicht mehr hoch, wenn sie vor sich blickte, sondern nur wenn sie zurücksah und auf entschwundene Worte und Liebkosungen baute. Aber seit Donnerstag Abend hatten sich ihre ungewissen Besorgnisse bisweilen fast verloren vor der bestimmteren Furcht, Adam könne an Onkel und Tante verraten, was er wisse, und sein unerwarteter Vorschlag, mit ihr allein zu sprechen, leitete ihre Gedanken auf eine neue Bahn. Sie beeiferte sich, die gute Gelegenheit heute Abend zu benutzen, und als nach dem Thee die Knaben in den Garten gingen und Totty sofort auch mitgehen wollte, sagte Hetty mit einem Eifer, der Frau Poyser höchlich überraschte: »Ich will mit ihr gehen, Tante.«

Daß Adam nun auch mitgehen wollte, schien durchaus nicht überraschend, und bald fand er sich mit Hetty allein auf dem Wege bei den Lambertsnüssen, da die Knaben an einer andern Stelle die großen, unreifen Nüsse auflasen, um damit zu spielen, und Totty ihnen dabei mit der Andacht eines jungen Hündchens zusah. Es war noch nicht lange her, kaum zwei Monate, da hatte Adam in diesem Garten bei Hetty voll der süßesten Hoffnungen gestanden. Die Erinnerung an jenen Abend war ihm seit Donnerstag oft gekommen – jener Sonnenblick durch die Zweige des Apfelbaums, die roten Johannisbeeren, Hettys liebliches Erröten! Heute kam die Erinnerung sehr ungelegen, wo der Abend so trübe war und die Wolken tief herabhingen; er versuchte sie zu unterdrücken, damit seine Empfindung ihn nicht verleite, mehr zu sagen, als was für Hetty unbedingt nötig sei.

»Nach dem, was ich am Donnerstag Abend gesehen habe, Hetty,« fing er an, »werdet Ihr wohl zugeben, daß ich mir nicht viel herausnehme mit dem, was ich Euch jetzt zu sagen habe. Wenn ein Mann mit Euch schön thäte, der Euch zur Frau nehmen wollte, und ich wüßte, Ihr hättet ihn lieb und wolltet ihn nehmen, so hätte ich kein Recht, ein Wort darüber zu sagen; wenn ich aber sehe, daß Euch ein vornehmer Herr den Hof macht, der Euch nie heiraten kann und nicht dran denkt Euch zu heiraten, dann fühle ich mich verpflichtet, ein Wort hineinzureden. Mit denen, die Elternstelle bei Euch vertreten, kann ich nicht darüber sprechen, weil dann die Sache noch schlimmer würde, als sie zu werden braucht.«

Adams Worte befreiten Hetty von einer Besorgnis, aber es lag darin auch etwas, das sie mit böser Ahnung schreckte. Sie war blaß und zitterte, und doch würde sie Adam zornig widersprochen haben, wenn sie gewagt hätte, ihre Empfindungen zu verraten. So schwieg sie lieber.

»Ihr seid noch so jung, Hetty,« fuhr er fast zärtlich fort, »und wißt noch nicht, wie's in der Welt hergeht. Mir kommt es zu, mein Möglichstes zu thun, damit Ihr nicht in Ungelegenheiten kommt, weil Ihr nicht überseht, wohin man Euch führt. Wüßte ein andrer als ich etwas davon, daß Ihr Euch mit einem vornehmen Herrn trefft und schöne Geschenke von ihm annehmt, dann sprächen die Leute Böses von Euch, und Euer Ruf wäre dahin. Und außerdem werdet Ihr auch selbst im Herzen davon zu leiden haben, wenn Ihr Eure Liebe jemandem schenkt, der Euch nie heiraten kann und Euer Lebelang für Euch sorgt.«

Adam schwieg und blickte Hetty an; sie riß Blätter von den Nußbäumen und zerpflückte sie mit der Hand. Ihre kleinen Pläne und die Reden, die sie sich ausgesonnen – wie eine schlecht gelernte Lektion waren sie alle vergessen, unter der schrecklichen Aufregung, die Adams Worte in ihr hervorbrachten. In ihrer ruhigen Sicherheit hatten diese Worte eine grausame Gewalt, die ihre nichtigen Hoffnungen und Einbildungen mit eisernem Griff zu zermalmen drohte. Gern hätte sie widerstanden, gern zornigen Widerspruch entgegengesetzt, aber der Entschluß, ihre Gefühle zu verbergen, beherrschte sie noch. Zwar kaum noch ein Entschluß, nur eine blinde Eingebung; denn sie war schon nicht mehr imstande, den Eindruck ihrer Worte zu berechnen.

»Ihr habt kein Recht zu sagen, daß ich ihn liebe,« antwortete sie leise aber heftig, und riß wieder ein Blatt ab und zerpflückte es. Sie war so schön in ihrer Blässe und Aufregung; ihre großen, kindlichen Augen standen weit offen, ihr Atem ging kürzer als gewöhnlich. Ein herzliches Verlangen ergriff Adam, als er sie ansah. Ach, wenn er sie nur trösten könnte und beruhigen und befreien von diesem Schmerz! Wenn er nur eine Kraft in sich hätte, ihre arme, betrübte Seele zu erretten, wie er ihren Leib gerettet hätte aus aller Gefahr!

»Es muß doch wohl so sein, Hetty!« sagte er zärtlich, »denn ich kann nicht glauben, daß Ihr Euch von einem Mann ganz im stillen küssen und ein goldenes Ding mit seinem Haar schenken ließet und ihn im Wäldchen träfet, wenn Ihr ihn nicht liebtet. Ich tadle Euch darum nicht, denn ich weiß wohl, daß es bei kleinem angefangen hat, bis Ihr endlich nicht mehr imstande waret, Euch davon loszumachen. Ich tadle nur ihn, daß er sich Eure Liebe so gestohlen hat, da er doch wußte, er könne es nie wieder gut machen. Er hat mit Euch gescherzt und gespielt und macht sich nichts aus Euch, wie ein Mann doch müßte.«

»Doch, er macht sich wohl was aus mir, das weiß ich besser,« fuhr Hetty heraus, die über dem Kummer und Verdruß bei Adams Worten alles andere vergaß.

»Nein, Hetty,« sagte Adam, »wenn er sich recht was aus Euch machte, dann hätte er nicht so gehandelt. Er hat mir selbst gesagt, bei dem Küssen und dem Schenken habe er sich nichts gedacht, und er hätte mir auch gern eingeredet, daß Ihr Euch ebenfalls nichts daraus machtet. Aber das weiß ich besser. Ich muß glauben, Ihr habt Euch drauf verlassen, er habe Euch lieb genug, um Euch zu heiraten, obschon er ein so vornehmer Herr ist. Und darum muß ich mit Euch darüber sprechen, Hetty, damit Ihr Euch nicht selbst täuscht. Es ist ihm nie in den Sinn gekommen, Euch zu heiraten.«

»Woher wißt Ihr das? Wie könnt Ihr so was sagen?« rief Hetty und blieb zitternd stehen. Die fürchterliche Bestimmtheit in Adams Ton machte sie vor Furcht erbeben. Sie hatte nicht mehr Geistesgegenwart genug, um sich zu überlegen, daß Arthur wohl seine Gründe gehabt habe, Adam nicht die Wahrheit zu sagen. Ihre Worte und Blicke waren entscheidend für Adam: er mußte ihr den Brief geben.

»Ihr könnt mir vielleicht nicht glauben, Hetty, weil Ihr von ihm zu gut denkt, weil Ihr glaubt, er liebe Euch mehr, als wirklich der Fall ist. Aber hier hab' ich einen Brief, den er selbst geschrieben hat und den ich Euch geben soll. Ich hab' ihn nicht gelesen; er hat mich indes versichert, er habe Euch darin die Wahrheit gesagt. Aber eh' ich Euch den Brief gebe, überlegt Euch die Sache und nehmt sie Euch nicht zu schwer zu Herzen. Es wäre nicht gut für Euch gewesen, wenn er die Tollheit begangen hätte, Euch zu heiraten; es hätte doch nie glücklich geendet.«

Hetty erwiderte nichts; bei der Erwähnung eines Briefes, den Adam nicht gelesen hätte, fühlte sie ihre Hoffnung sich neu beleben; gewiß war der Inhalt ganz anders als er dachte.

Adam zog den Brief hervor, behielt ihn aber noch in der Hand und sagte in zärtlich flehendem Tone:

»Tragt es mir nicht nach, Hetty, daß durch mich dieser Kummer über Euch kommt. Gott weiß, ich hätte gern viel Schlimmeres ertragen, um ihn Euch zu ersparen. Und bedenkt, niemand weiß darum als ich, und ich will mich Eurer annehmen, als wäre ich Euer Bruder. Ihr seid und bleibt für mich dieselbe, denn ich kann nicht glauben, daß Ihr wissentlich Unrecht gethan habt.«

Hetty hatte den Brief ergriffen, aber Adam ließ ihn nicht los, als bis er ausgesprochen hatte. Sie beachtete nicht, was er sagte, sie hörte es nicht einmal; aber als er den Brief losließ, steckte sie ihn in die Tasche, ohne ihn zu öffnen, und ging mit schnellen Schritten auf das Haus zu.

»Ihr thut recht, ihn nicht gleich zu lesen,« sagte Adam. »Lest ihn, wenn Ihr allein seid. Aber bleibt noch ein wenig hier draußen; Ihr seht so blaß und krank aus; Eure Tante möchte es bemerken. Wir wollen jetzt die Kinder holen.«

Auf die Warnung hörte Hetty; es fiel ihr dabei wieder ein, wie notwendig es sei, ihre angeborene Begabung zur Verstellung zusammenzunehmen, die unter dem heftigen Eindrucke von Adams Worten fast von ihr gewichen war. Und den Brief hatte sie ja in der Tasche; gewiß enthielt er tröstliches, was auch Adam sagen mochte. Sie lief fort, um Totty zu suchen, und als sie wiederkam, war ihr auch die Farbe wiedergekommen; sie führte Totty am Arm, die ein saures Gesicht machte, weil sie einen unreifen Apfel, den sie schon zwischen den kleinen Zähnen hatte, wegwerfen mußte.

»Hurrah, Totty!« rief Adam, »komm, ich laß dich auf meiner Schulter reiten, – so hoch – bis oben an die Bäume.«

Welches kleine Kind hätte jemals den herrlichen Genuß ausgeschlagen, sich von einem starken Arm fassen und hoch heben zu lassen! Ich glaube nicht, Ganymed hat geschrieen, als der Adler ihn forttrug und ihn wahrscheinlich schließlich dem alten Jupiter auf die Schulter setzte. Totty lächelte wohlgefällig herab von ihrer sicheren Höhe, und das Auge der Mutter freute sich über den Anblick; sie stand grade vor der Hausthür und sah Adam mit seiner kleinen Last herankommen.

»Das gefällt dir wohl, du kleines Ding,« sagte sie und ihre sonst so scharfen Augen blickten milde vor mütterlicher Zärtlichkeit, als Totty sich zu ihr herunterbeugte und ihr die Ärmchen entgegenstreckte. Für Hetty hatte sie kein Auge und sagte nur, ohne sie anzusehen: »Hetty, geh' hin und hol' uns Bier aus dem Keller; die Mädchens sind beide beim Käse.«

Als das Bier gebracht war und der Hausherr sich die Pfeife angesteckt hatte, da mußte Totty zu Bett gebracht und wieder in ihrem Nachtkleidchen heruntergeholt werden, weil sie weinte und nicht einschlafen wollte. Dann ging es an das Abendbrot und Hetty mußte immer zur Hand sein und helfen. Adam blieb so lange er nur konnte und suchte fortwährend Frau Poyser und ihren Mann mit ins Gespräch zu ziehen, damit Hetty mehr für sich sein könnte. Er zögerte so lange, weil er ihr über den Abend weghelfen wollte, und sah zu seiner Freude, wie sehr sie sich zu beherrschen verstand. Er wußte, daß sie noch keine Zeit gehabt hatte, den Brief zu lesen, aber daß die stille Hoffnung sie aufrecht erhielt, der Brief würde von allem, was er gesagt, das grade Gegenteil enthalten, das wußte er nicht. Es wurde ihm schwer, sie zu verlassen, – schwer der Gedanke, daß er Tage lang nicht erfahren würde, wie sie ihre Not trüge. Aber endlich mußte er fortgehen, und das einzige, was er thun konnte, war, ihr beim Abschied leise die Hand zu drücken, in der Hoffnung, sie würde das als ein Zeichen ansehen, daß seine Liebe ihr unverändert bliebe, wenn sie je bei ihm Schutz suchen sollte. Wie geschäftig war er auf dem Heimwege, liebende Entschuldigungen für ihre Thorheit auszusinnen, alle ihre Schwäche auf die süße Liebesfülle ihrer Natur zurückzuführen und dagegen Arthur zu tadeln, für dessen Benehmen er immer weniger und weniger die Möglichkeit einer Entschuldigung zuließ. Seine Erbitterung bei Hettys Leiden und daneben bei dem Gefühl, daß sie möglicherweise für ihn auf immer verloren sei, machten ihn taub gegen jede Vorstellung zu Gunsten des falschen Freundes, der dieses Unglück herbeigeführt hatte. Adam war ein hellsehender, billig denkender Mensch, geistig und leiblich ein prächtiger Kerl; aber selbst der gerechte Aristides war gewiß, wenn er je verliebt und eifersüchtig war, in solchen Augenblicken nicht ganz so großherzig wie sonst. Und so kann ich auch nicht behaupten, Adam habe in diesen schmerzlichen Tagen nur sittliche Entrüstung und liebendes Erbarmen gefühlt. Er war bitterlich eifersüchtig, und in demselben Maße wie ihn seine Liebe gegen Hetty nachsichtig machte, wandte sich seine Bitterkeit gegen Arthur.

»Sie ließ sich gewiß leicht den Kopf verdrehen,« dachte er, »wenn ein vornehmer Herr mit seinen feinen Manieren und feinen Kleidern und weißen Händen und dem Reden, was diese vornehmen Leute an sich haben, um sie her war und sich ein bißchen dreist machte, wie von ihresgleichen so leicht keiner that, und einen gemeinen Mann mag sie gewiß nie wieder leiden.« Unwillkürlich zog er seine eigenen Hände aus der Tasche und sah sich die harten Schwielen und die zerarbeiteten Nägel an. »Ich bin doch ein derber Geselle, wenn ich mich so recht betrachte, und nun ich mal dran denke, da weiß ich kaum, was ein Frauenzimmer viel an mir lieben soll, und doch hätt' ich leicht genug eine andere zur Frau bekommen können, wenn ich nicht mein Herz so auf sie gesetzt hätte. Aber es kommt wenig drauf an, was andere Mädchen von mir halten, wenn sie mich nicht leiden mag. Vielleicht hätte sie mich ebenso gern gemocht wie jeden andern; es ist keiner hier herum, vor dem ich bange bin, wenn er nur nicht zwischen uns gekommen wäre; aber jetzt werde ich ihr wohl gar verhaßt, weil ich so ganz anders bin als er. Und doch kann man das wieder nicht wissen; sie kann sich auch ganz umdrehen, nun sie weiß, daß er sie die ganze Zeit zum besten gehabt hat; sie lernt vielleicht den Wert eines Mannes schätzen, der sich mit Freude und Dank aufs ganze Leben mit ihr verbände. Aber wie es auch kommt, ich muß mir's gefallen lassen, und muß noch dazu dankbar sein, daß es nicht schlimmer geworden ist. Ich bin nicht der einzige auf der Welt, der sich ohne Glück behelfen muß; manch gut Stück Arbeit wird mit einem betrübten Herzen gemacht. Es ist Gottes Wille, und das ist für uns genug; besser als er würden wir's doch nicht machen können, sollt' ich meinen, und wenn wir uns auch unser Lebelang den Kopf zerbrächen. Aber es würde mir doch ans Leben gegangen sein, wenn ich sie in Jammer und Schande hätte sehen müssen, und noch dazu durch den Mann, auf den ich immer stolz gewesen bin, wenn ich nur an ihn dachte. Nun mir das erspart ist, hab' ich kein Recht zu murren. Wenn einer seine Gliedmaßen noch ganz hat, kann er wohl einen scharfen Hieb vertragen.«

Als Adam mit diesen Gedanken beschäftigt über einen Steg ging, sah er vor sich einen Mann durch das Feld gehen. Er erkannte sogleich Seth, der von einer Abendpredigt kam, und holte ihn rasch ein.

»Ich dachte, du wärest eher nach Hause als ich,« sagte er, als Seth sich umwandte, um auf ihn zu warten; »ich habe mich heute Abend recht verspätet.«

»Nun, mir ist's auch etwas spät geworden; nach der Predigt kam ich mit Barnes ins Gespräch, der in neuester Zeit recht im Stande der Gnade sein will, und ich hatte ihn manches zu fragen wegen seiner Erfahrung. Es ist so eins von den Dingen, wo man immer weiter hineinkommt, als man denkt; sie liegen nicht grade am Wege.«

Eine kurze Zeit gingen sie schweigend neben einander her. Adam hatte keine Neigung, in die Feinheiten religiöser Streitigkeiten einzugehen, aber gern wollte er mit Seth ein Wort brüderlicher Zärtlichkeit und brüderlichen Vertrauens wechseln. Die Neigung kam ihm nicht oft, so sehr auch die Brüder einander liebten. Sie sprachen fast niemals von persönlichen Angelegenheiten, und auf ihre häuslichen Mißstände spielten sie höchstens eben an. Adam war von Natur in allen Gefühlssachen zurückhaltend, und Seth hegte gegen seinen praktischeren Bruder eine gewisse Schüchternheit.

»Seth,« sagte Adam und legte dem Bruder seinen Arm auf die Schulter, »hast du von Dina Morris was gehört, seit sie fort ist, mein Junge?«

»Ja,« antwortete Seth. »Sie sagte mir, ich möchte ihr nach einiger Zeit schreiben, wie es uns ginge und wie Mutter sich hielte in ihrem Kummer. So hab' ich ihr denn vor vierzehn Tagen geschrieben und ihr von deiner neuen Anstellung erzählt und daß sich Mutter etwas mehr beruhige, und letzten Mittwoch, als ich in Treddleston auf der Post nachfragte, war ein Brief von ihr da. Du liest ihn gewiß auch gern, aber ich mochte dir nichts davon sagen, weil du so viel andere Dinge vor hattest. Er ist ganz leicht zu lesen; sie schreibt wunderschön für ein Mädchen.«

Seth hatte den Brief aus der Tasche gezogen und hielt ihn Adam hin, der ihn nahm und sagte:

»Ja, mein Junge, ich habe jetzt grade eine schwere Last zu tragen; du mußt's mir nicht übel nehmen, wenn ich etwas schweigsamer und verdrießlicher bin als sonst. Du liegst mir darum nicht weniger am Herzen. Ich weiß, wir halten zusammen bis ans Ende.«

»Ich nehme dir nichts übel, Adam; ich weiß wohl, was es heißt, wenn du bisweilen etwas kurzab bist.«

»Da macht die Mutter die Thür auf und sieht nach uns aus,« sagte Adam, als sie den Abhang hinangingen. »Sie hat wieder im Dunkeln gesessen, wie gewöhnlich. Schön, Gyp, schön! Freust dich, daß wir da sind?!«

Lisbeth war rasch ins Haus gegangen und hatte Licht angesteckt, sobald sie den willkommenen Ton der Schritte auf dem Grase gehört hatte.

»Na, Kinder, so lang sind mir die Stunden noch nie geworden, als diesen Sonntag Abend. Was habt Ihr nur beide bis jetzt gemacht?«

»Du solltest nicht im Dunkeln sitzen, Mutter,« sagte Adam; »da wird dir die Zeit viel länger.«

»Ah, was soll ich am Sonntag Licht brennen, wenn ich allein bin und nur ein bißchen stricke? Der Tag ist lang genug für mich, ins Buch zu sehen, denn lesen kann ich doch nicht. Es wär' 'ne schöne Art die Zeit abzukürzen, wenn man dabei das teure Licht verschwendete. Aber wer von Euch will Abendbrot haben? Ihr müßt entweder ganz verhungert oder satt sein, so spät ist's ja schon.«

»Ich bin hungrig, Mutter,« sagte Seth und setzte sich an den kleinen Tisch, den die Mutter schon bei Tage gedeckt hatte.

»Ich habe mein Abendbrot gehabt,« erwiderte Adam. »Hier, Gyp« fügte er hinzu und nahm eine kalte Kartoffel vom Tisch und streichelte den zottigen, grauen Kopf, den der Hund ihm zuwandte.

»Du brauchst dem Hunde nichts mehr zu geben,« sagte Lisbeth; »ich habe ihn schon gut gefüttert. Ich vergesse ihn nicht leicht, kannst du glauben, wenn er das einzige ist, was ich von dir zu sehen bekomme.«

»Na, denn komm, Gyp,« sagte Adam, »wir wollen zu Bett. Gute Nacht, Mutter, ich bin recht müde.«

»Was fehlt ihm, weißt du's nicht?« sagte Lisbeth zu Seth, als Adam hinaufgegangen war. »Er ist diese letzten Tage gewesen, als hätte ihn der Schlag gerührt, so niedergeschlagen. Heute morgen, als du weg warst, fand ich ihn in der Werkstatt, wie er ganz still saß und nichts that, nicht mal ein Buch hatte er vor sich.«

»Er hat jetzt grade recht viel zu thun, Mutter,« antwortete Seth, »und ich glaube, es geht ihm auch sonst was im Kopfe 'rum. Achte nur nicht drauf, denn das kränkt ihn. Sei so freundlich gegen ihn, wie du kannst, Mutter, und sage nichts, was ihn ärgern könnte.«

»O, was sprichst du von ärgern? Und wie werde ich wohl anders gegen ihn sein als freundlich? Ich will ihm morgen zum Frühstück einen Topfkuchen machen.«

Adam hatte Rock und Weste abgelegt und las Dinas Brief bei seinem kleinen Lichtstümpfchen.

Lieber Bruder Seth!

Euren Brief mußte ich drei Tage auf der Post liegen lassen, weil ich nicht Geld genug hatte, den Boten zu bezahlen; es herrscht hier große Not und Krankheit und so viel Regen ist gefallen, als hätten sich die Fenster des Himmels wieder aufgethan, und in solcher Zeit, wo so viele stündlich um das Notwendigste verlegen sind, von einem Tag zum andern Geld zu sparen, das wäre ein Mangel an Vertrauen, grade wie das Sammeln des Manna. Ich erwähne dies, weil ich nicht gern lässig im Antworten scheinen möchte, oder als freute ich mich nicht mit Euch über Eure Freude an dem irdischen Glück, das Eurem Bruder Adam zu Teil geworden ist. Die Ehre und Liebe, die Ihr ihm erzeigt, ist ganz in der Ordnung, denn Gott hat ihm große Gaben gegeben, und er gebraucht sie, wie der Patriarch Joseph that, der, als er zu Macht und Ansehen erhöht war, doch immer zärtlich nach seinem Vater und seinem jüngeren Bruder sich sehnte.

»Mein Herz hängt recht an Eurer alten Mutter, seitdem es mir vergönnt war, an dem Unglückstage bei ihr zu sein. Sprecht ihr von mir und sagt ihr, ich trage sie oft in meinen Gedanken des Abends, wenn ich im Zwielicht sitze wie damals bei ihr, wo wir einander bei der Hand hielten und ich die Worte des Trostes sprach, die mir eingegeben wurden. O, das ist eine köstliche Stunde, nicht wahr, Seth? Wenn das äußere Licht erblaßt und der Leib ein wenig müde ist von Arbeit und Anstrengung, dann scheint das innere Licht um so heller, und wir haben ein tieferes Gefühl von der Kraft Gottes. Ich sitze im dunkeln Zimmer auf meinem Stuhle und schließe die Augen, und es ist mir als wäre ich nicht mehr in diesem Leibe und würde hinfort keinen Mangel mehr fühlen. Alle Not und Sorge und Blindheit und Sünde, die ich gesehen habe und über die ich hätte weinen mögen, ja all die Qual der Menschenkinder, die mich bisweilen umfängt wie plötzliche Dunkelheit – das alles kann ich dann willig tragen, als trüge ich mit an des Erlösers Kreuz. Denn ich fühle, ich fühle, auch die unendliche Liebe leidet – ja in der Fülle ihrer Allwissenheit leidet sie und jammert und trauert, und blinde Selbstsucht ist es, von dem Leiden frei sein zu wollen, unter dem die ganze Schöpfung ächzt und sich abmüht. Sicherlich ist es nicht der rechte Segen, von Leiden frei zu sein, so lange es Leiden und Sünde in der Welt giebt; denn nun ist ja das Leiden ein Teil der Liebe, und die Liebe sucht es nicht von sich zu werfen. Das sagt mir nicht bloß der Geist, ich sehe es in allen Worten und Werken der heiligen Schrift. Giebt es nicht Fürbitte im Himmel? Ist nicht der Dulder da in dem gekreuzigten Leibe, in welchem er hinaufgefahren ist? Und ist er nicht eins mit der unendlichen Liebe selbst, wie unsere Liebe eins ist mit dem unendlichen Leiden?

»Diese Gedanken haben mich viel beschäftigt in der letzten Zeit, und mit neuer Klarheit habe ich die Bedeutung der Worte erkannt: »wer mich lieb hat, der nehme mein Kreuz auf sich.« Ich habe das wohl so auslegen hören, als bedeute es die Trübsal und Verfolgung, die wir uns zuziehen, wenn wir Christum bekennen. Aber das ist gewiß eine engherzige Auslegung. Das wahre Kreuz des Erlösers war die Sünde und Not dieser Welt; das war's, was ihm schwer sein Herz belastete, und das ist das Kreuz, welches wir mit ihm tragen sollen, das ist der Kelch, den wir mit ihm austrinken müssen, wenn wir Teil haben wollen an der göttlichen Liebe, welche eins ist mit seinem Leiden.

»Was mein äußeres Los betrifft, wonach Ihr fragt, so habe ich alles reichlich. In der Fabrik habe ich fortwährend Arbeit gehabt, während einige von den andern Arbeitern für eine Zeit entlassen sind, und körperlich bin ich sehr gestärkt, so daß ich mich nach langem Gehen und Sprechen nur wenig ermüdet fühle. Was Ihr davon sagt, daß Ihr in Eurer Heimat bei Mutter und Bruder bleiben wollt, beweist mir, daß Ihr unter rechter Leitung steht; Eure Bestimmung ist Euch dort klar gewiesen, und einen größeren Segen auswärts zu suchen, hieße für Euch ein falsches Opfer auf den Altar legen und auf Feuer vom Himmel warten, welches es anzünde. Ich habe meine Arbeit und meine Freude hier zwischen den Hügeln, und bisweilen scheint mir, ich hänge zu sehr an dem Leben unter den Leuten hier und würde mich widersetzen, wenn ich anderswohin berufen würde.

»Für Eure Nachrichten über die lieben Freunde auf dem Pachthof danke ich Euch; ich habe ihnen zwar selbst auf den Wunsch meiner Tante nach meiner Rückkehr hierher einen Brief geschrieben, aber noch keine Antwort erhalten. Tante ist kein rechter Briefschreiber und hat auch im Hause hinlänglich zu thun bei ihrem schwachen Körper. Mein Herz hängt recht an ihr und ihren Kindern, als die mir die nächsten sind im Fleisch; ja an allen dort im Hause. Im Schlafe werde ich immer zu ihnen geführt und mitten in der Arbeit und selbst beim Sprechen erfaßt mich der Gedanke an sie, als wären sie in Not und Trübsal, die mir aber nur dunkel sind. Vielleicht werde ich noch richtig geleitet, aber ich warte auf Weisung von oben. Ihr sagt ja, sie seien alle wohl.

»Gewiß werden wir einander wiedersehen im Fleische, wenn es auch vielleicht nicht bald ist; denn die Brüder und Schwestern in Leeds wollen mich auf kurze Zeit bei sich haben, wenn ich erst wieder Snowfield verlassen kann.

»Lebt wohl, lieber Bruder, und doch nicht lebt wohl. Denn die Kinder Gottes, denen es vergönnt worden ist, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen und Gemeinschaft zu halten und denselben Geist in sich wirksam zu fühlen, die kann nichts mehr trennen, ob auch Hügel und Berge sich zwischen sie legen. Denn durch diese Gemeinschaft ist ihnen die Seele für immer erweitert, und sie tragen einander stets in ihren Gedanken wie eine neue Kraft.

Eure treue Schwester und Mitdienerin Christi Dina Morris.«

»Ich bin nicht geschickt genug, die Worte so klein zu schreiben wie Ihr, und meine Feder geht langsam. Darum bin ich beengt und sage nur wenig von dem, was ich auf dem Herzen habe. Grüßt Eure Mutter von mir mit einem Kuß. Ich mußte sie zweimal küssen, als ich von ihr schied.«

Adam hatte den Brief wieder zusammengelegt und saß, nachdenklich den Kopf auf den Arm gestützt, oben auf seinem Bett, als Seth die Treppe hinaufkam.

»Hast du den Brief gelesen?« fragte er.

»Ja,« sagte Adam. »Ich weiß nicht, was ich von ihr und ihrem Briefe denken würde, wenn ich sie nie gesehen hätte; ich glaube beinahe, ich fände sie mit ihrem Predigen abscheulich. Aber was sie auch sagt und thut, bei ihr ist's in der Ordnung, und als ich den Brief las, glaubte ich sie zu sehen und sprechen zu hören. Es ist ganz wunderbar, wie deutlich ich mich an ihre Blicke und ihre Stimme erinnere. Sie würde dich unbändig glücklich machen, Seth; sie ist recht 'ne Frau für dich.«

»Daran darf ich nicht denken,« sagte Seth niedergeschlagen; »sie sprach so bestimmt, und was sie sagt, das meint sie auch.«

»Ja, aber ihr Gefühl kann sich ändern; ein Mädchen kommt wohl allmählich in die Liebe hinein, und das beste Feuer flackert nicht immer am schnellsten auf. Du mußt sie bei Gelegenheit mal besuchen; ich will es schon einrichten, daß du drei oder vier Tage wegbleiben kannst, und es ist ja für dich nicht weit zu gehen, höchstens zehn Stunden.«

»Ich sähe sie gern wieder, wie's auch kommen mag, wenn sie nur über meinen Besuch nicht böse wird,« erwiderte Seth.

»Sie wird nicht böse drüber sein,« sagte Adam mit Nachdruck und stand auf. »Es wär' für uns alle ein rechtes Glück, wenn sie dich nähme; Mutter hatte sich ja im Augenblick an sie gewöhnt und schien mit ihr so zufrieden.«

»Ja,« bemerkte Seth etwas schüchtern, »und Dina hat auch Hetty so lieb; sie denkt viel an sie.«

Darauf antwortete Adam nicht, und die Brüder wünschten sich gute Nacht.


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