George Eliot
Adam Bede - Zweiter Band
George Eliot

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Fünfundvierzigster Abschnitt

Im Gefängnis

An demselben Tage um Sonnenuntergang stand ein ältlicher Herr mit dem Rücken gegen die kleine Eingangsthür des Gefängnisses in Stoniton gelehnt und wechselte einige Worte mit dem Kaplan. Der Kaplan ging fort, aber der ältliche Herr blieb stehen, blickte auf das Pflaster und rieb sich nachdenklich das Kinn; da weckte ihn aus seiner Träumerei eine sanfte, klare Frauenstimme: »Darf ich wohl das Gefängnis besuchen, mein Herr?«

Er wandte sich um und sah die Sprecherin einige Augenblicke fest an, ohne zu antworten.

»Ich habe Euch schon früher gesehen,« sagte er endlich. »Erinnert Ihr Euch, wie Ihr auf der Gemeindewiese in Hayslope gepredigt habt?«

»Ja gewiß. Sind Sie der Herr, der zu Pferde hielt und zuhörte?«

»Ja. Warum wollt Ihr ins Gefängnis?«

»Ich möchte zu der armen Hetty Sorrel, die zum Tode verurteilt ist und gern bliebe ich bei ihr, wenn es mir vergönnt würde. Haben Sie in dem Gefängnisse was zu sagen, mein Herr?«

»Ja wohl; ich bin eine obrigkeitliche Person und kann Euch Eintritt verschaffen. Aber kennt Ihr denn diese Hetty Sorrel?«

»Gewiß, wir sind verwandt; meine leibliche Tante hat ihren Onkel Poyser geheiratet. Aber ich war verreist, nach Leeds und erfuhr von dieser großen Not nicht früh genug, sonst wär' ich schon eher gekommen. Bei der Liebe unseres himmlischen Vaters flehe ich Sie an, lassen Sie mich zu ihr und bei ihr bleiben.«

»Wie wißt Ihr denn, daß sie zum Tode verurteilt ist, wenn Ihr erst jetzt von Leeds zurückkommt?«

»Ich habe meinen Onkel nach dem Prozesse gesehen; er ist jetzt wieder zu Haus und die arme Sünderin ist nun von allen verlassen. Ich bitte Sie recht dringend, verschaffen Sie mir die Erlaubnis, bei ihr zu sein.«

»Wie? Habt Ihr Mut, die ganze Nacht im Gefängnis zu bleiben?! Sie ist sehr verstockt und giebt kaum eine Antwort, wenn man sie anredet.«

»O, Herr, Gott kann ihr Herz noch immer öffnen, wenn es ihm gefällt. Bitte, zögern wir nicht länger.«

»Nun, dann kommt,« sagte der ältliche Herr und ließ sich die Thür öffnen; »ich weiß, Ihr habt einen Schlüssel, der Herzen erschließt.«

Sie traten in den Hof des Gefängnisses und Dina nahm mechanisch Hut und Tuch ab, wie sie immer gewohnt war, wenn sie zu Kranken und Bedürftigen zum Besuch und Gebet ging, und als sie in die Stube des Schließers kamen, legte sie beides halb unbewußt auf einen Stuhl. Keine Aufregung war an ihr zu merken, sie hatte die tiefe Ruhe völliger Sammlung, als wenn selbst beim Sprechen ihre Seele im Gebet sei und auf eine unsichtbare Stütze sich lehne.

Der ältliche Herr sprach mit dem Gefangenwärter und wandte sich dann mit den Worten zu ihr: »Der Schließer wird Euch in die Zelle der Gefangenen bringen und die Nacht dalassen wenn Ihr wollt; aber während der Nacht dürft Ihr kein Licht haben, das ist gegen die Regel. Mein Name ist Oberst Townley; kann ich Euch irgend worin behilflich sein, so fragt den Schließer nach meiner Adresse und kommt zu mir. Ich interessiere mich für diese Hetty Sorrel wegen des braven, tüchtigen Adam Bede; ich habe ihn denselben Abend, wo ich Euch predigen hörte, zufällig in Hayslope gesehen und erkannte ihn heute im Gerichtssaal wieder, so krank er auch aussah.«

»Ah, können Sie mir etwas von ihm sagen? Wissen Sie vielleicht, wo er wohnt? Mein armer Onkel war viel zu niedergebeugt, um sich daran zu erinnern.«

»Hier dicht nebenan. Ich habe mich bei Pastor Irwine nach ihm erkundigt. Er wohnt bei einem Klempner, hier in der Straße rechts vom Gefängnis. Ein alter Schulmeister ist bei ihm. Nun, auf Wiedersehen!«

»Leben Sie wohl, Herr Oberst; ich danke Ihnen recht sehr.«

Als Dina mit dem Schließer über den Hof des Gefängnisses ging, schienen in der matten Abendbeleuchtung die Mauern höher zu sein, als sie bei Tage waren und auf dem düstern Hintergrunde glich das liebe, blasse Gesicht in der Quäkerhaube mehr als je einer weißen Blume. Der Schließer sah sie fortwährend von der Seite an, sagte aber kein Wort; er mußte wohl fühlen, der Ton seiner eigenen rauhen Stimme würde grade jetzt sehr unangenehm klingen. Als sie in den dunkeln Gang traten, der zu der Zelle der Verurteilten führte, machte er Licht und sagte so höflich er konnte: »Es wird schon recht dunkel in der Zelle sein, aber wenn Ihr wollt, kann ich mit meiner Laterne etwas drin bleiben.«

»Nein, mein Freund, ich danke Euch,« antwortete Dina; »ich wünsche allein hineinzugehen.«

»Ganz wie Ihr wollt,« erwiderte der Schließer, drehte den schweren Schlüssel und öffnete die Thür weit genug, um Dina einzulassen. Der Schein von seiner Laterne fiel in die hinterste Ecke der Zelle, wo Hetty auf ihrem Strohbett saß, das Gesicht bis tief auf die Knie gebeugt. Es sah aus als ob sie schliefe und doch mußte das Knarren des Riegels sie geweckt haben.

Die Thür schloß sich wieder und das einzige Licht in der Zelle war der matte Abendschimmer, der durch das schmale, hohe Gitter hereinschien; man konnte dabei menschliche Gesichter eben noch erkennen. Dina stand einen Augenblick still; sie zögerte zu sprechen, weil Hetty im Schlaf sein konnte und sah die bewegungslos zusammengekauerte Gestalt mit sehnsuchtsvollem Herzen an. Dann sagte sie sanft:

»Hetty!«

Eine leise Bewegung war an Hetty zu bemerken, ein Zusammenzucken wie etwa von einem schwachen, elektrischen Schlage, aber sie blickte nicht auf. In einem Tone, der von übermächtiger Bewegung stärker anschwoll, fing Dina wieder an:

»Hetty! Ich bin's, Dina.«

Wieder bebte Hetty leise zusammen und ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, richtete sie ihren Kopf etwas auf, als wenn sie horche.

»Hetty! Dina ist bei dir.«

Noch einen Augenblick und Hetty hob den Kopf langsam und schüchtern empor und schlug die Augen auf. Die beiden blassen Gesichter sahen einander an, das eine mit dem Ausdruck harter, wilder Verzweiflung, das andere voll wehmütiger, heißer Liebe. Unwillkürlich breitete Dina ihre Arme aus und streckte sie der andern entgegen.

»Kennst du mich nicht mehr, Hetty? Kennst du Dina nicht mehr? Dachtest du, ich würde dich nicht aufsuchen in deiner Not?«

Hetty hielt ihre Augen auf Dinas Gesicht gerichtet – zuerst wie ein Tier, welches scheu blickt und sich nicht herantraut.

»Ich bin gekommen, um bei dir zu bleiben, Hetty; ich will dich nicht mehr verlassen, will bei dir ausharren, will deine Schwester sein bis ans Ende.«

Während Dina sprach, hatte sich Hetty langsam erhoben, trat einen Schritt vor und lag in Dinas Armen.

So standen sie eine lange Zeit, denn keine von beiden fühlte sich getrieben, sich von der andern zu trennen. Ohne klares Bewußtsein hing sich Hetty an dieses Etwas, von dem sie sich jetzt umschlossen fühlte, während sie hilflos in einen finstern Abgrund sah und Dina empfand tiefe Freude über dies erste Zeichen, daß die unglückliche Verlorene ihre Liebe gern annähme. Der Lichtschimmer wurde immer matter, als sie so zusammenstanden und als sie sich endlich beide auf das Strohbett setzten, waren ihre Gesichter nicht mehr zu sehen.

Sie sprachen kein Wort. Dina wartete, daß Hetty von selbst anfange; aber Hetty saß da in derselben dumpfen Verzweiflung, klammerte nur die Hand fest, welche die ihrige ergriffen hatte und lehnte ihre Wange an Dinas. Es war die Berührung mit einem menschlichen Wesen, woran sie sich hielt, aber sie sank immer tiefer und tiefer in den finstern Abgrund.

Dina fing an zu zweifeln, ob Hetty ein klares Bewußtsein habe, wer bei ihr sei; sie fürchtete, Kummer und Not habe die Unglückliche um den Verstand gebracht. Aber, wie sie später erzählte, der Geist gab ihr ein, sie dürfe das Werk Gottes nicht übereilen, nicht vorschnell sprechen; Gott offenbare sich ja auch durch unser schweigendes Gefühl und mache seine Liebe fühlbar durch die unsrige. Sie wußte nicht, wie lange sie so dagesessen hatten, aber es wurde dunkler und dunkler, bis nur noch ein blasser Fleck auf der Wand dem Gitter gegenüber zu bemerken war; sonst war alles finster. Aber sie empfand die Nähe Gottes mehr und mehr – ja, empfand sie so, als wäre sie selbst aufgenommen in die göttliche Allgegenwart, als sei, was ihr im Herzen schlage, das göttliche Erbarmen selber, welches die Unglückliche retten wolle. Endlich fühlte sie sich getrieben zu sprechen und sich zu überzeugen, wie weit Hetty sich der Gegenwart bewußt sei:

»Hetty,« sagte sie sanft, »weißt du, wer bei dir sitzt?«

»Ja,« erwiderte Hetty langsam, »Dina, du bist's.«

»Und erinnerst du dich der Zeit, wo wir zusammen auf dem Pachthof waren und jener Nacht, wo ich dich bat, dich auf mich zu verlassen, wenn Trübsal über dich käme?«

»Ja,« sagte Hetty und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Aber du kannst nichts für mich thun; du kannst bei den Leuten nichts machen. Am Montag werd' ich gehängt und heute ist Freitag.«

Bei diesen letzten Worten rückte Hetty schaudernd noch näher an Dina heran.

»Nein, Hetty, von dem Tode kann ich dich nicht retten. Aber ist dein Leiden nicht weniger hart, wenn jemand bei dir ist, der Gefühl für dich hat, mit dem du sprechen, dem du sagen kannst, was du auf dem Herzen hast? . . . Ja, Hetty, du lehnst dich an mich; du freust dich, daß ich bei dir bin?«

»Du willst mich also nicht verlassen, Dina? Willst bei mir bleiben, bei mir aushalten?«

»Nein, Hetty, ich will dich nicht verlassen; ich will bei dir bleiben bis zum letzten Augenblick . . . Aber, Hetty, es ist noch ein anderer hier in der Zelle als ich, einer ganz nahe bei dir.«

Hetty bebte zusammen und flüsterte ängstlich: »Wer?«

»Einer, der in der ganzen Zeit deiner Sünde und Trübsal bei dir gewesen ist – der um alle deine Gedanken gewußt – dich gesehen hat, wo du auch gingst und dich niederlegtest und wieder aufstandest und alle deine Thaten gesehen hat, die du in Nacht und Dunkel zu verbergen suchtest. Und am Montag, wenn ich dir nicht mehr folgen kann, – wenn meine Arme dich nicht mehr erreichen können, – wenn der Tod uns getrennt hat, – dann wird Er, der jetzt bei uns ist und alles weiß, immer noch bei dir sein. Es ist einerlei – ob wir leben oder sterben, wir sind vor Gott.«

»O, Dina, wird niemand etwas für mich thun? Werde ich gewiß gehängt? . . . Wenn sie mich doch nur am Leben ließen!«

»Meine arme Hetty, der Tod ist dir schrecklich; ich weiß, er muß dir schrecklich sein. Aber wenn du nun einen Freund hättest, der sich nach dem Tode deiner annähme in jener Welt, – einen Freund, dessen Liebe größer ist als meine, der alles, alles kann . . . wenn Gott unser Vater dein Freund wäre und dich retten wollte aus Sünde und Not, daß du nie wieder wüßtest, was sündige Gedanken sind noch Schmerz? Wenn du glauben könntest, daß er dich liebt und dir helfen will, wie du glaubst, daß ich dich liebe und dir helfen will, – dann wäre es doch nicht so schwer zu sterben, nicht wahr? lange nicht so schwer?«

»Aber davon weiß ich ja nichts,« sagte Hetty halb trotzig, halb betrübt.

»Weil du deine Seele gegen ihn verschließest, Hetty, indem du die Wahrheit zu verbergen suchst. Gottes Liebe und Erbarmen kann alles überwinden – unsere Unwissenheit und Schwachheit und die ganze schwere Last unserer früheren Sündhaftigkeit, – alles, nur nicht unsern Sündentrotz, alles, nur nicht die Sünde, an der wir festhalten und von der wir nicht lassen wollen. Du glaubst an meine Liebe und mein Erbarmen für dich, Hetty; aber wenn du mich nicht hättest zu dir kommen und mich zu dir sprechen lassen, dann hättest du mich gehindert, dir Beistand zu leisten, dann hätte ich dir nicht meine Liebe zeigen, dir nicht sagen können, was ich für dich empfinde. Verschließ dich nun auch nicht gegen Gottes Liebe, indem du dich an die Sünde festklammerst. Er kann dir seinen Segen nicht geben, so lange du eine Lüge auf der Seele hast; seine erbarmende Verzeihung kann nicht zu dir dringen, als bis du ihm dein Herz öffnest und sagst: ›Ich habe diese große Sünde begangen; rette mich, o Gott! und mache mich rein von Sünden.‹ So lange du an dieser Sünde festhältst und nicht davon lassen willst, zieht sie dich auch für jene Welt ins Elend, wie sie dich hier auf Erden hineingezogen hat, meine arme, arme Hetty. Die Sünde ist es, welche Schrecken, Dunkelheit und Verzweiflung über uns bringt; Licht und Segen aber kommt über uns, sobald wir sie von uns werfen; dann zieht Gott in unsere Herzen ein und unterweist uns und giebt uns Kraft und Frieden. Wirf die Sünde von dir, Hetty – jetzt, jetzt gleich; gestehe, was du Böses gethan hast – bekenne die Sünde, deren du dich schuldig gemacht hast gegen Gott, unsern himmlischen Vater. Laß uns zusammen niederknien, denn wir sind vor Gottes Angesicht.«

Hetty gehorchte und sank mit Dina auf die Knie. Sie hielten einander bei der Hand, aber lange noch herrschte tiefe Stille. Dann sagte Dina:

»Hetty, wir sind vor Gott! Er erwartet, daß du die Wahrheit sagst.«

Noch immer kein Wort. Endlich sprach Hetty mit stehender Stimme:

»Dina . . . hilf mir . . . ich kann nicht fühlen wie du . . . mein Herz ist hart.«

Dina hielt die Hand, welche die ihrige fest umklammerte, und ihre Seele schwang sich auf zum Gebet:

»Jesus, Allgegenwärtiger, Erlöser! Du hast alle Tiefen des Leidens ergründet; du hast das schwarze Dunkel betreten, wo Gott nicht ist und hast ausgestoßen den Schrei der Verlassenen. Komm, Herr, und sammle die Früchte deiner Mühen und deiner Fürbitte; strecke deine Hand aus, du, der du mächtig bist zu erlösen, wo niemand mehr helfen kann und errette diese verlorene Sünderin. Sie ist rings umfangen von dichter Finsternis; die Ketten ihrer Sünde belasten sie und sie kann sich nicht regen, zu dir zu kommen; sie kann nur fühlen, daß ihr Herz hart, daß sie hilflos ist. Sie ruft zu mir, deinem schwachem Geschöpfe . . . Herr, Erlöser! es ist nur ein blindes Rufen zu dir. Höre, o erhöre es! Dringe durch das Dunkel! Blicke sie an mit deinem Antlitz voll Liebe und Kummer, welches du auf den wandtest, der dich verleugnete, – blicke sie an und löse ihres Herzens Härtigkeit.

»Siehe, Herr, ich bringe sie zu dir, wie man einst die Kranken und Gebrechlichen zu dir brachte und du heiltest sie; ich trage sie auf meinen Armen und bringe sie zu dir. Furcht und Zittern hat sie erfaßt; aber sie zittert nur vor leiblichem Schmerz und Tod; hauche du ihr deinen Geist des Lebens ein und gieb ihr eine neue Furcht – die Furcht vor ihrer Sünde. Laß sie sich ängstigen, die verruchte That für sich zu behalten; laß sie die Gegenwart des lebendigen Gottes fühlen; der alles Vergangene weiß, vor dem das Dunkel ist wie Mittagslicht, der jetzt in der letzten Stunde darauf wartet, daß sie sich zu ihm wendet und ihre Sünde bekennt und um Erbarmen fleht, – jetzt noch, ehe die Nacht des Todes über sie kommt und der Augenblick der Vergebung für immer dahin ist, wie das Gestern, welches nie zurückkehrt.

»Erlöser! Noch ist es Zeit, diese arme Seele aus ewiger Finsternis zu erretten. Ich glaube, ich vertraue auf deine unendliche Liebe. Meine Liebe oder meine Fürbitte – was will die sagen? Sie ist in deiner inbegriffen. Ich kann sie nur in meine schwachen Arme schließen und mit meinem schwachen Erbarmen auf sie wirken. Du aber, du hauchest die tote Seele an und sie ersteht aus dem stummen Schlafe des Todes.

»Ja, Herr, ich sehe dich, wie du durch das Dunkel kommst, kommst wie der Morgen, heilenden Balsam auf deinem Fittich. Du trägst die Zeichen deines Leidens – ich sehe, ich sehe, du kannst und willst sie retten, willst sie nicht ewig untergehen lassen.

»Komm, du mächtiger Erlöser! Laß die Tote deine Stimme hören, laß die Augen der Blinden sich öffnen, laß sie erkennen, daß Gott sie umfängt, daß sie nur zittert über die Sünde, die sie von ihm trennt. Erweiche ihr hartes Herz, erschließe ihr die verschlossenen Lippen, laß sie rufen von ganzer Seele: ›Vater, ich habe gesündigt vor dir . . .‹«

»Dina,« schluchzte Hetty und schlang ihren Arm um Dinas Hals, »ich will sprechen . . . ich will es gestehen . . . und nicht länger verschweigen.«

Aber sie weinte und schluchzte zu heftig. Dina hob sie sanft von den Knieen auf, legte sie wieder auf das Strohbett und setzte sich zu ihr. Es dauerte lange, ehe sie das krampfhafte Schluchzen überwinden konnte und auch dann saßen sie noch einige Zeit schweigend und hielten einander bei der Hand. Endlich flüsterte Hetty:

»Ja, ich hab' es gethan, Dina . . . ich begrub es im Walde . . . mein kleines Kind . . . und es schrie so . . . ich hörte es schreien . . . ganz weit, weit weg . . . die ganze Nacht . . . und ich ging zurück, weil es schrie.«

Sie hielt inne und sagte dann hastig mit lauter, flehender Stimme:

»Aber ich dachte, es stürbe vielleicht nicht und einer fände es . . . ich habe es nicht umgebracht, nicht selbst umgebracht. Ich legte es dahin und deckte es zu und als ich zurückkam, war es weg . . . es war bloß, weil ich so schrecklich unglücklich war, Dina . . . ich wußte nicht, wo ich hin sollte . . . und erst versuchte ich, mich selbst umzubringen und das konnte ich nicht. O, ich wollte mich so gern im Teiche ertränken und ich konnte nicht. Ich ging nach Windsor, ich entfloh, hast du das gehört? Ich wollte ihn aufsuchen, damit er für mich sorge; da war er fort und als ich ihn nicht traf, da wußte ich nicht, was ich anfangen sollte. Nach Hause mochte ich nicht wieder, das konnte ich nicht ertragen. Ich hätte es nicht ausgehalten, den Leuten wieder unter die Augen zu kommen, sie hätten mich alle verachtet. Bisweilen dachte ich an dich und wollte zu dir gehen, weil ich hoffte, du würdest nicht hart gegen mich sein und mir meine Schande vorhalten. Dir hätt' ich es wohl sagen können. Aber dann hätten's die andern Leute zuletzt auch erfahren und das konnt' ich nicht ertragen. Es war zum Teil der Gedanke an dich, der mich nach Stoniton trieb und außerdem fürchtete ich mich so, immer umher zu irren, bis ich eine Bettlerin wäre und nichts hätte, und bisweilen war mir's, als müßte ich eher wieder nach dem Pachthof gehen, ehe ich das ertrüge. O, es war so schrecklich, Dina . . . ich war so elend . . . ich wünschte, ich wäre nie geboren. In die grünen Felder möchte ich nicht wieder; ich hab' sie so gehaßt in meinem Elend.«

Wieder hielt Hetty inne, als wäre die Erinnerung an die Vergangenheit für Worte zu stark.

»Und dann kam ich nach Stoniton und wurde so bang in der Nacht, weil ich so nahe bei Haus war. Und dann wurde das kleine Kind geboren, als ich es nicht erwartete und der Gedanke stieg in mir auf, ich könnte es vielleicht loswerden und wieder nach Hause gehen. Der Gedanke kam ganz plötzlich, als ich im Bette lag und wurde immer stärker und stärker . . . ich sehnte mich so wieder nach Hause . . . ich konnte es nicht mehr ertragen, so einsam zu sein und vielleicht bald betteln zu müssen. Und der Gedanke gab mir Kraft und Entschluß, daß ich aufstand und mich anzog. Ich fühlte, ich müsse es thun . . . wie, wußte ich selbst nicht . . . ich dachte, ich fände wohl wieder einen Teich wie jenen in der Nacht, mitten im Felde. Und als die Frau fortging, da fühlte ich mich stark genug zu allem; ich glaubte, ich würde all mein Elend loswerden und wieder nach Hause gehen, und keiner sollte je erfahren, weshalb ich entflohen sei. Ich nahm Hut und Tuch und das Kind unter den Mantel und trat hinaus auf die dunkle Straße und ich ging schnell, bis ich an eine Straße ziemlich weit abkam, und da war ein Wirtshaus, wo ich mir etwas Brot und was Warmes zu trinken geben ließ. Und ich ging immer weiter und weiter und fühlte kaum den Boden, den ich betrat, und dann wurde es heller, weil der Mond aufging – o, ich erschrak so, Dina, als er mich zuerst aus den Wolken ansah! So hatte er mich nie angesehen; und ich schlug mich von dem großen Wege seitab in die Felder, weil ich mich fürchtete, in dem hellen Mondschein jemandem zu begegnen. Und dann kam ich an einen Heuschober und überlegte mir, da könnte ich mich wohl hinlegen und mich die Nacht warm halten. An einer Stelle war schon etwas Heu herausgenommen, da machte ich mir ein Bett und lag da ganz warm und das Kind hielt ich warm an mich; da muß ich lange geschlafen haben, denn als ich aufwachte, war es Morgen, aber noch nicht sehr hell und das Kind schlief. Und nicht weit davon sah ich ein Gehölz . . . und glaubte, da wär' vielleicht ein Teich oder ein Graben . . . und es war noch so früh am Tage, daß, wenn ich das Kind da versteckte, ich schon weit weg sein konnte, ehe Leute kamen. Ach, und dann wollte ich nach Haus und den Leuten sagen, ich hätte mich nach einer Stelle umgesehen und keine gefunden. O, wie mich nach Haus verlangte, Dina! ich wollte so gern erst wieder ruhig zu Hause sein. Wie es mit dem Kinde war, weiß ich nicht recht. Ich glaube beinahe, ich haßte es; es war mir wie ein schweres Gewicht an meinem Halse. Aber sein Schreien ging mir durchs Herz, und die Händchen und das kleine Gesicht hatte ich gar nicht den Mut anzusehen. Nun ging ich auf das Gehölz zu und suchte herum, aber es war kein Wasser da . . .«

Hetty schauderte. Sie schwieg einige Augenblicke und als sie wieder anfing, flüsterte sie nur leise.

»Ich kam an eine Stelle, wo viele Späne und Stücke Rasen herumlagen und setzte mich auf einen Baumstamm, um mir zu überlegen, was ich thun sollte. Und mit einemmale sah ich in dem Gebüsch ein Loch wie ein kleines Grab, und wie ein Blitz fuhr es mir durch die Seele, da wollte ich es hinlegen und es mit Gras und Spänen zudecken. Anders konnt' ich es nicht umbringen. In einer Minute war's geschehen und es weinte so, Dina – o, es schrie so – ich konnte es nicht übers Herz bringen, es ganz zuzudecken – ich dachte mir, vielleicht käme einer und fände es und nähme sich seiner an, daß es nicht umkäme. Und ich machte mich eilig weg aus dem Gehölz, aber die ganze Zeit hörte ich es schreien und als ich ins Feld hinauskam, da war es, als wenn mich einer festhielte; so sehr ich auch weiter wollte, ich konnte nicht fort. Und ich setzte mich an den Heuschober hin, um zu sehen, ob einer käme; ich war recht hungrig und hatte bloß noch ein Stück Brot, aber weg konnte ich nicht. Und nach langer, langer Zeit, es mochten Stunden vergangen sein, da kam der Mann – der Mann im Kittel – und sah mich so an, daß ich ganz bange wurde und mich schnell fortmachte. Ich dachte, er ginge nach dem Gehölz und fände vielleicht das Kind. Und ich wanderte immer grade aus, bis ich an ein Dorf kam, weit, weit von dem Gehölz, und ich war recht krank und matt und hungrig. Da ließ ich mir etwas zu essen geben und kaufte ein Brot. Aber da zu bleiben, dazu war ich doch zu bange. Ich hörte immer noch das Kind schreien und dachte mir, die andern Leute hörten's auch und ging wieder weiter. Aber ich war so müde und es wurde schon dunkel; endlich stand eine Scheune am Wege, ganz einsam mitten im Felde – wie die Scheune da nach Broxton hin – und da, dacht' ich, wollt' ich hineingehen und mich in das Heu und Stroh legen, da käme wohl sobald keiner hin und ganz tief hinten in der Scheune macht' ich mir ein Lager, wo mich keiner finden konnte, und ich war so müde und matt, daß ich bald einschlief . . . aber das Schreien des Kindes weckte mich immer wieder und es war mir, als wenn der Mann, der mich so angesehen hatte, gekommen wäre und mich anpackte. Doch muß ich endlich lange geschlafen haben, ohne es zu wissen, denn als ich aufstand und aus der Scheune trat, da wußte ich nicht recht, ob es Nacht sei oder Morgen, aber es war Morgen und wurde immer heller, und ich ging wieder denselben Weg zurück, den ich gekommen. Ich konnte nicht anders, Dina; ich mußte dem Schreien des Kindes nachgehen und doch war ich in Todesangst. Ich dachte, der Mann im Kittel würde mich zu Gesicht bekommen und dann gleich wissen, daß ich das Kind da hingelegt hätte. Aber trotzdem ging ich meines Weges; ans nach Hause gehen dachte ich nicht mehr; das war mir ganz aus dem Sinn gekommen. Ich sah nichts als die Stelle im Gehölz, wo ich das Kind hingelegt hatte . . . ich sehe sie jetzt noch. O, Dina, Dina! werde ich sie denn ewig sehen?!«

Hetty klammerte sich an Dina fest und schauderte am ganzen Leibe; sie schwieg lange, ehe sie fortfuhr.

»Ich begegnete keinem Menschen, weil es noch so früh war, und kam in das Gehölz . . . ich wußte die Stelle noch recht gut . . . die Stelle da beim Nußbaum und das Schreien hörte ich bei jedem Schritt . . . ich dachte mir, das Kind lebte noch . . . ich weiß nicht, ob ich erschrak oder mich freute . . . ich weiß nicht, was ich fühlte. Ich weiß bloß, daß ich in dem Gehölze war und immer das Schreien hörte. Als ich es hinlegte, da wünschte ich, daß es einer fände und vom Tode rette; aber als ich nun sah, daß es weg war, da erstarrte ich vor Furcht. Ich dachte nicht daran, mich vom Fleck zu rühren, so schwach war ich. Ich fühlte, ich könnte nicht fort und jeder, der mich sähe, würde auch von dem Kinde wissen. Mein Herz war wie ein Stein; ich wünschte nichts, ich konnte nichts thun; es kam mir vor, als würde ich immer da bleiben und nichts sich je ändern. Aber nachher kamen die Leute und nahmen mich mit weg.«

Hetty schwieg, aber schauderte wieder zusammen als hätte sie noch etwas auf dem Herzen und Dina wartete, weil ihr Herz so voll war, daß ihr die Thränen näher standen als Worte. Endlich brach Hetty schluchzend aus:

»Dina, wird Gott nicht das Schreien und die Stelle im Holze jetzt wegnehmen, nun ich dir alles gesagt habe?«

»Laß uns beten, armes unglückliches Kind; laß uns wieder auf die Kniee sinken und beten zu Gott dem Allerbarmer!«


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