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Adam bot Dina nicht den Arm als sie aufs Feld kamen. Er hatte es noch nie gethan, so oft sie auch zusammen gegangen waren; denn er hatte bemerkt, daß sie auch mit Seth nie Arm in Arm ging und er glaubte daher, diese Art von Unterstützung sei ihr nicht angenehm. So gingen sie obschon nebeneinander, voneinander getrennt und ihr enganschließender Hut verbarg ihm ihr Gesicht.
»Ihr seid's also nicht zufrieden, Dina, Euch auf dem Pachthof häuslich niederzulassen?« fragte Adam mit der ruhigen Teilnahme eines Bruders, der für sich selbst kein persönliches Interesse bei der Sache hat. »Das ist schade; Eure Verwandten haben Euch so lieb.«
»Ihr wißt, Adam, was die Liebe zu ihnen und die Teilnahme an ihrem Wohlergehen betrifft, fühle ich grade so wie sie, aber sie haben mich jetzt nicht dringend nötig, ihre Schmerzen sind geheilt und ich fühle mich zurückgerufen zu meiner früheren Wirksamkeit, in der ich einen Segen fand, den ich in der letzten Zeit in zu reichlichem Wohlleben entbehrt habe. Ich weiß, der Mensch strebt vergebens, sich dem Werke zu entziehen, wozu Gott ihn bestimmt hat und einen größeren Segen für seine Seele zu erlangen. Als wenn wir selbst wählen könnten, wo uns die Fülle des göttlichen Segens bereitet ist, statt sie da zu suchen, wo sie allein zu finden ist: in liebendem Gehorsam. Aber jetzt, glaub' ich, wird mir klar gewiesen, daß ich anderswo wirken soll – wenigstens für eine Zeit. Im Laufe der Jahre werde ich schon zurückkehren, wenn meine Tante krank würde oder mich sonst nötig hätte.«
»Ihr müßt's selbst am besten wissen, Dina,« erwiderte Adam. »Ich glaube nicht, daß Ihr ohne guten und genügenden inneren Grund den Wünschen derer, die Euch lieb haben und Euch verwandt sind, zuwider handeln würdet. Ich habe kein Recht zu sagen, daß es mir leid thut; Ihr wißt recht gut, wie viel Ursache ich habe, Euch über jeden andern Freund zu stellen, und wenn es sich so gemacht hätte, daß Ihr meine Schwester geworden wäret und immer bei uns gelebt hättet, so hätte ich das als den größten Segen betrachtet, der uns jetzt zuteil werden könnte; aber wie mir Seth sagt, ist dazu keine Hoffnung; Euer Gefühl läßt's nicht zu, und vielleicht nehm' ich mir schon zu viel heraus, daß ich überhaupt davon spreche.«
Dina gab keine Antwort und sie gingen schweigend mehrere Schritte weiter, bis sie an einen Steg kamen; da ging Adam zuerst hinüber, und als er sich umwandte, um ihr über die ungewöhnlich hohe Stufe zu helfen, da konnte sie es nicht hindern, daß er ihr grade ins Gesicht sah. Der Anblick überraschte ihn: die grauen Augen, gewöhnlich so mild und ernst, hatten den hellen, unruhigen Blick, der von unterdrückter Aufregung zeugt, und die leise Röte auf ihren Wangen von vorhin, als sie die Treppe hinunterkam, hatte sich ins Hochrote gesteigert. Sie sah aus als wäre sie nur Dinas Schwester. Adam schwieg vor Überraschung und wußte einige Minuten nicht, wie er dran war, dann sagte er:
»Ich hoffe, ich habe Euch durch meine Worte nicht verletzt oder unangenehm berührt, Dina; vielleicht nahm ich mir zu viel Freiheit. Ich habe keinen andern Wunsch, als was Ihr für's Beste haltet, und wenn Ihr es recht findet, zehn Stunden weit wegzugehen, dann bin ich's auch zufrieden. Ich werde ebenso oft an Euch denken wie jetzt; Ihr seid ja mit einer Erinnerung verbunden, die ich so wenig loswerden kann, wie den Schlag meines Herzens.«
Der arme Adam! So versehen sich die Männer. Dina antwortete noch immer nicht, sagte aber gleich darauf:
»Habt Ihr etwas Neues gehört von dem armen jungen Mann, seit wir zuletzt von ihm sprachen?« – so nannte sie Arthur; er stand ihr noch immer so vor der Seele, wie sie ihn im Gefängnis gesehen hatte.
»Ja wohl,« sagte Adam. »Der Pastor las mir gestern etwas aus einem Briefe von ihm vor. Es scheint ziemlich gewiß, daß wir bald Frieden bekommen, wenn auch kein Mensch glaubt, daß er von Dauer ist; aber nach Haus will er noch nicht wieder, schreibt er. Er hat noch nicht das Herz dazu und 's ist auch besser für andere, wenn er noch wegbleibt; das meint auch der Pastor. Der Brief ist recht betrübt; er fragt nach Euch und nach Poysers, wie er immer thut; eine Stelle in dem Briefe ist mir recht ins Herz gegangen: ›Sie können sich nicht denken, wie alt ich mich fühle, schreibt er; Pläne mache ich gar nicht mehr; am liebsten ist mir's, wenn ich einen tüchtigen Marsch oder ein Gefecht vor mir habe.‹«
»Er hat 'nen raschen Sinn und ein warmes Herz, wie Esau, mit dem ich immer viel Mitleid gehabt habe,« erwiderte Dina. »Die Begegnung zwischen den beiden Brüdern, wo Esau so liebevoll und großmütig und Jakob so bange und mißtrauisch ist, trotzdem er weiß, er steht in Gottes Schutz, hat mich immer sehr gerührt. Wirklich, bisweilen fühl' ich mich versucht zu sagen, Jakob sei ein niedrig denkender Mensch gewesen. Aber das ist unser Prüfungsstand: wir müssen unter vielem Unangenehmen das Gute sehen lernen.«
»Ich lese am liebsten im alten Testament von Moses,« sagte Adam. »Er führte ein schweres Werk gut zu Ende und starb, als andere die Früchte ernten sollten; dazu gehört Mut, das Leben so anzusehen und zu bedenken, was daraus wird, wenn man tot ist. Was gut und tüchtig gearbeitet ist, hat Dauer; und wenn's auch bloß ein Fußboden ist, den man legt, es kommt doch noch einem andern zu gute, wenn's recht gemacht ist, und nicht bloß dem, der's gemacht hat.«
Beide freuten sich, daß sie von Dingen reden konnten, die sie nicht persönlich betrafen und sie fuhren damit fort, bis sie über die Brücke des Weidenbaches kamen; da drehte sich Adam um und sagte:
»Aha, da ist Seth. Ich dachte mir wohl, er käme bald nach Haus. Weiß er schon, daß Ihr fortgeht, Dina?«
»Ja, am letzten Sabbath hab' ich es ihm gesagt.«
Jetzt fiel Adam ein, daß Seth am Sonntag Abend sehr niedergeschlagen nach Haus gekommen war, was er sehr lange nicht an ihm bemerkt hatte; denn das Glück, Dina jede Woche sehen zu können, schien längst den Kummer aufgewogen zu haben, daß er wußte, sie würde ihn nie heiraten. Heute Abend hatte er seinen gewohnten Ausdruck träumerischer, liebevoller Zufriedenheit, bis er ganz nahe an Dina herankam und an ihren zarten Augenlidern und Wimpern die Spuren von Thränen bemerkte. Er warf einen raschen Blick auf seinen Bruder, aber mit der Aufregung, unter der Dina gelitten haben mochte, hatte Adam augenscheinlich nichts zu thun: er sah so ruhig aus wie alle Tage. Seth bemühte sich, Dina nicht merken zu lassen, daß er in ihrem Gesichte gelesen habe und sagte nur:
»Ich danke Euch recht, daß Ihr kommt, Dina; Mutter hat heute den ganzen Tag nach Eurem Anblick förmlich geschmachtet. Ihr wart das erste, wovon sie heute früh sprach.«
Als sie in das Häuschen traten, saß Lisbeth in ihrem Lehnstuhl; sie hatte das Abendbrot bereitet – das pflegte sie immer lange zu thun, ehe es nötig war – und war zu müde, um sie schon an der Thür zu erwarten, wie sie gewöhnlich that, sobald sie das Geräusch von Tritten hörte.
»Da bist du endlich, Kind!« sagte sie, als Dina auf sie zuging. »Was soll das heißen, daß du mich eine ganze Woche allein läßt und gar nicht besuchst?«
»Liebe Freundin,« antwortete Dina und nahm sie bei der Hand, »Ihr seid nicht wohl. Hätt' ich es eher gewußt, so wär' ich hergekommen.«
»Und wie willst du's wohl erfahren, wenn du nicht kommst? Die Jungen wissen nichts, als was ich ihnen sage; so lange man Hand und Fuß rühren kann, meint das Mannsvolk, man sei kerngesund. Aber schlimm ist's mit mir nicht, ich bin nur 'n bißchen erkältet. Und die Bursche quälen mich so, daß ich jemand zu Hilfe nehmen soll, und von all dem Sprechen werd' ich noch kränker. Wenn du hier wärest, dann ließen sie mich in Ruhe. Poysers haben dich nicht halb so nötig als ich. Aber leg' den Hut ab, daß ich dich ordentlich sehen kann.«
Dina wollte sich abwenden, aber Lisbeth hielt sie fest, während sie sich den Hut abnahm, und sah ihr ins Gesicht, wie einer in ein frisch gepflücktes Schneeglöckchen hineinsieht, um den alten Eindruck des Reinen und Feinen zu erneuern.
»Aber was hast du gehabt?« fragte Lisbeth verwundert, »du hast ja geweint.«
»Es ist nur vorübergehend, nichts weiter,« sagte Dina, die am wenigsten jetzt über ihre Absicht, Hayslope zu verlassen, mit Lisbeth reden mochte. »Ihr sollt es bald erfahren; wir wollen heut im Bett darüber sprechen; diese Nacht bleibe ich bei Euch.«
Bei dieser Aussicht beruhigte sich Lisbeth. Den ganzen Abend konnte sie mit Dina allein sprechen; wie sich der Leser erinnert, war vor beinahe zwei Jahren ein neues Zimmer an das Häuschen gebaut, als ein neuer Bewohner einziehen sollte, und hier saß Adam immer, wenn er zu schreiben oder zu zeichnen hatte. Auch Seth saß heute da, weil er wußte, seine Mutter hätte Dina gern für sich allein.
Das waren ein paar hübsche Bilder in den beiden Stübchen des Häuschens. In dem einen saß die breitschultrige, magre alte Frau mit dem grobgeschnittenen Gesicht, in ihrer blauen Jacke und dem braunen Umschlagetuch, den trüben Blick immer ängstlich auf das Lilienantlitz und die zarte Gestalt in dem schwarzen Kleide gerichtet, die sich bald hilfreich und thätig mit leisem Schritte umherbewegte, bald dicht neben dem Lehnstuhl der alten Frau saß, sie bei der welken Hand faßte und zu ihr aufblickte mit Augen, deren Sprache Lisbeth weit besser verstand als die Bibel und das Gesangbuch. Vom Lesen wollte sie heute gar nichts hören. »Nein, nein,« sagte sie, »das Buch mach' nur zu. Wir wollen uns was erzählen. Ich muß wissen, warum du geweint hast. Hast du auch deine Sorgen wie wir andern Menschenkinder?«
In dem andern Stübchen saßen die beiden Brüder, bei aller Ungleichheit einander doch so ähnlich. Adam, mit den zusammengezogenen Augenbrauen, dem starken Haar und der dunkeln, kräftigen Gesichtsfarbe, war ins Rechnen vertieft; Seth mit den derben Zügen das getreue Abbild seines Bruders, aber dünnem und gelocktem braunen Haar und blauen träumerischen Augen, die ebenso oft durchs Fenster ins Leere hinaussahen, als in das Buch, in welchem er las, obschon es ganz neu war – Wesleys Abriß der Lebensgeschichte der Madame Guyon, ein für Seth höchst interessantes Buch. Er hatte Adam gefragt, ob er ihm helfen könne, aber dieser hatte seine Hilfe ablehnen müssen und ihn auf das neue Buch verwiesen. Und oft blickte Adam, ohne daß Seth es merkte, von seiner Arbeit auf und sah ihn mit freundlich lächelndem Blicke an. »Wie gern der Junge sich in seine Gedanken verliert, über die er sich doch keine Rechenschaft geben kann! es kommt nichts dabei heraus, aber es macht ihn glücklich« – so mußte er sich oft sagen, und im letzten Jahre war er gegen den sanften Bruder immer nachsichtiger geworden. Aus dem Kummer, der in ihm nachwirkte, erwuchs Sanftmut und Zärtlichkeit.
Zwar war Adam wieder ganz Herr seiner selbst, arbeitete tüchtig und hatte Freude an der Arbeit – das war so seine angeborene unveräußerliche Natur, aber seinen Schmerz hatte er noch nicht ausgelebt, hatte ihn nicht abschütteln können wie eine vorübergehende Last, so daß er wieder ganz der alte gewesen wäre. Wäre einem von uns das möglich? Das wolle Gott verhüten! Traurig, wenn all unser Kämpfen und Ringen am Ende keine andern Folgen hätte, als daß wir nur unser altes Selbst wiedergewönnen und zurückkehren könnten zu der alten blinden Liebe, dem alten übermütigen Tadel, den alten leichtfertigen Gedanken über menschliches Leiden, dem alten frivolen Geschwätz über geknickte Menschenleben und der alten dürftigen Vorstellung von jener unbekannten Macht, zu der wir in unserer Verlassenheit so manchen furchtbaren Notschrei emporgeschickt haben. Seien wir lieber dankbar, daß unser Kummer wie eine unzerstörbare Macht in uns fortlebt, nur seine Gestalt wechselt, wie die Kräfte der Natur und des Geistes pflegen, und von Schmerz in Mitgefühl übergeht – Mitgefühl, dieses kurze, dürftige Wort, welches all unser bestes Verstehen und unsere beste Liebe in sich begreift. Nicht als ob dieser Übergang des Schmerzes zum Mitgefühl sich in Adam schon ganz vollzogen hätte; noch immer war viel Schmerz zurückgeblieben, und er fühlte, derselbe würde so lange dauern, wie ihr Schmerz nicht eine bloße Erinnerung der Vergangenheit, sondern etwas Wirkliches und Gegenwärtiges sei, das sich mit dem Lichte jedes neuen Tages erneuere. Aber wir lernen uns an geistigen Schmerz so gut gewöhnen wie an körperlichen, wenn wir auch nicht unempfindlich werden; der Schmerz wird uns zur Gewohnheit und wir können uns einen Zustand vollkommener Heiterkeit für uns nicht mehr als möglich denken. Unser Verlangen bescheidet sich und wird Ergebung, und wir nennen es schon einen glücklichen Tag, wenn wir unsern Gram schweigend haben tragen und so handeln können als litten wir gar nicht.
In diesem geistigen Zustande war Adam jetzt, in seinem zweiten Leidensjahre. Arbeiten hatte für ihn immer zur Religion gehört, wie wir wissen, und schon früh im Leben hatte er klar eingesehen, gute Tischlerarbeit und Bauerei sei Gottes Wille, sei die Form des göttlichen Willens, die ihn am unmittelbarsten angehe; aber jetzt zog sich für ihn um diese klare Wirklichkeit kein Traumland mehr, gab es für ihn in dieser Werktagswelt keine Festtagszeit mehr, und in keiner Ferne sah er den Augenblick vor sich, wo die harte Pflicht Eisenhandschuh und Harnisch ablegen und ihn in sanfte Ruhe betten würde. Auf dem Bilde, welches er sich von seiner Zukunft machte, sah er lauter schwere Arbeitstage, so wie er sie jetzt durchlebte, und immer wachsende Freude und Interesse an der Arbeit; die Liebe, meinte er, könne für ihn immer nur eine lebendige Erinnerung sein. Er merkte nicht, daß die Fähigkeit zu lieben während all dieser Zeit immerfort neue Kraft in ihm sammelte, daß die neuen Empfindungen, die er durch eine tiefe Erfahrung erkauft hatte, ebenso viele neue Lebensfasern waren, durch welche seine Natur mit einer andern verwachsen konnte, ja verwachsen mußte. Und doch bemerkte er, daß er für Neigung und Freundschaft überhaupt mehr Sinn habe als sonst, daß er an Mutter und Bruder mehr hing und über den kleinsten – gedachten oder wirklichen – Zuwachs ihres Glückes sich unaussprechlich freute. Auch mit Poysers stand er anders; mindestens alle drei oder vier Tage fühlte er das Bedürfnis, sie zu sehen und freundliche Blicke und Worte mit ihnen zu wechseln; und wenn auch Dinas Besuch nicht der Grund davon war, so war es doch die einfachste Wahrheit gewesen, als er ihr sagte, er stelle sie über jeden andern Freund in der ganzen Welt. Und war das nicht natürlich? In den dunkelsten Augenblicken seiner Erinnerung war ihm der Gedanke an sie immer der erste Strahl des Trostes; die ersten jammervollen Wochen auf dem Pachthof waren durch ihre Nähe allmählich wie mit sanftem Mondlicht übergossen, und in seinem eigenen Häuschen war sie so oft sie konnte aus- und eingegangen, um die arme Lisbeth zu beruhigen und zu erheitern, die bei dem Anblick des gramdurchfurchten Gesichts ihres Lieblingssohnes von einer solchen Furcht befallen war, daß selbst ihre Klagsucht darüber verstummte. Allmählich hatte er sich gewöhnt, ihre leise, ruhige Bewegung und ihre hübsche, liebevolle Art mit den Kindern auf dem Pachthofe zu beobachten, auf ihre Stimme zu lauschen wie auf stete Musik, alles was sie sagte und that für recht und unübertrefflich zu halten. Trotz aller seiner Weisheit konnte er sogar an ihrer übergroßen Nachsicht mit den Kindern nichts auszusetzen finden, die es fertig gebracht hatten, aus der großen Rednerin Dina, vor der schon oft die derbsten Männer ein wenig gezittert hatten, die allergeduldigste Wärterin zu machen – eine Schwäche, worüber sich die gute Dina selbst etwas schämte und sich im stillen Vorwürfe machte, da dieselbe mit den Lehren Salomos nicht recht stimmte. Nur eines wollte Adam nicht recht gefallen: Dina hätte Seth lieb haben und heiraten müssen. Wegen seines Bruders fühlte er sich förmlich etwas verletzt und nicht ohne Bedauern konnte er daran denken, wie Dina als Seths Frau ihnen allen die glücklichste Häuslichkeit bereitet haben würde, wie sie die einzige sei, welche die letzten Lebenstage seiner Mutter in Friede und Ruhe lösen könnte.
»Es ist doch wunderbar, daß sie den Jungen nicht lieb hat,« dachte Adam oft bei sich; man sollte meinen, er sei grade der rechte für sie. Aber ihr Herz ist ganz voll von andern Dingen. Sie ist eins von den Mädchen, die gar nicht danach verlangen, einen Mann und Kinder zu haben. Das seh' ich deutlich genug; sie ist so ganz anders als sonst die Frauen, das ist mir längst aufgefallen. Nie ist sie glücklich, als wenn sie für andere sorgt, und nach der Heirat würde das doch nicht mehr ganz so gehen, das ist klar. Ich habe kein Recht zu sorgen und nachzudenken, daß es doch besser wäre, wenn sie Seth nähme; bin ja nicht klüger als sie oder gar als Gott, denn der hat sie so gemacht wie sie ist, und das ist eine der größten Segnungen, die ich je aus seiner Hand empfangen habe, und andere mit mir.«
Diese Selbstvorwürfe waren Adam wieder lebhaft gegenwärtig geworden, als er Dina ansah, er habe sie durch seinen Wunsch wegen Seth gekränkt, und darum hatte er sich bestrebt, seinem Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Entscheidung den stärksten Ausdruck zu leihen und sich ganz darin zu ergeben, daß sie von ihnen ginge und nur noch im Geiste bei ihnen lebe, wenn das so ihr Wille sei. Daß sie recht gut wisse, wie viel er auf den täglichen Verkehr mit ihr halte, wie gern er in dem stillen Bewußtsein einer gemeinsamen großen Erinnerung mit ihr spreche, davon war er überzeugt. In seiner Versicherung, er sei es zufrieden, wenn sie weggehe, hatte sie unmöglich etwas andres hören können, als selbstlose Teilnahme und Achtung, und doch fühlte er sich etwas unbehaglich, daß er in seinen Worten nicht ganz das Rechte getroffen, daß Dina, er wußte selbst nicht recht warum, ihn nicht ganz verstanden hätte.
Am nächsten Morgen mußte Dina schon vor der Sonne aufgestanden sein, denn um fünf Uhr war sie bereits unten. Auch Seth war schon da; denn da Lisbeth sich immer hartnäckig weigerte, jemanden zur Hilfe ins Haus zu nehmen, so hatte er sich der häuslichen Arbeit tüchtig annehmen gelernt, damit seine Mutter sich nicht zu sehr anzustrengen brauchte. Adam, der bis spät in die Nacht geschrieben hatte, schlief noch und war, wie Seth meinte, vor dem Frühstück schwerlich unten zu erwarten. So oft Dina auch in den letzten anderthalb Jahren Lisbeth besucht hatte, so war sie doch seit der Nacht nach dem Tode des Vaters, wo Lisbeth ihre geräuschlosen Bewegungen gelobt und selbst ihrer Suppe einigermaßen Gerechtigkeit hatte widerfahren lassen, nie über Nacht in dem Häuschen geblieben. Aber in der langen Zwischenzeit hatte sie im Haushalt große Fortschritte gemacht, und diesen Morgen war sie entschlossen, mit Seths Hilfe alles so rein und ordentlich zu machen, daß selbst ihre Tante Poyser hätte zufrieden sein müssen. Augenblicklich ließ das Häuschen in dieser Beziehung viel zu wünschen übrig, da Lisbeth wegen ihres Rheumatismus ihre alte Gewohnheit zu scheuern und zu putzen hatte aufgeben müssen. Nachdem sie den Flur zu ihrer Zufriedenheit besorgt hatte, ging Dina in das neue Zimmer, wo Adam am Abend vorher geschrieben hatte, um auch dort gründlich zu kehren und abzustäuben. Sie öffnete das Fenster und ließ die frische Morgenluft herein und den Duft der Rosen und die hellen Strahlen der Morgensonne, die ihr das blasse Gesicht und das helle Haar vergoldeten, während sie den langen Besen führte und auskehrte, und dabei ganz leise, leise wie ein süßes Rauschen im Sommer, auf das man aufmerksam hinhorchen muß, einen Lobgesang von Wesley anstimmte:
Du unerschöpfter Liebesquell,
Du ew'ger Strahl von Gottes Licht,
Daraus des Vaters Glorie hell
Herein ins Erdendunkel bricht. –
Jesus, des müden Pilgers Ruh!
Dein sanftes Joch sei meine Lust;
Mit heil'ger Ehrfurcht waffne du
Und reiner Liebe mir die Brust.
Leg' bei den Streit der Leidenschaft,
Mein zitternd Herz heiß' stille stahn;
Dein Arm ist meine Burg und Kraft,
Denn dir ist alles unterthan.
Sie stellte den Besen beiseite und nahm den Abstäuber zur Hand, und wenn ihr je bei Frau Poyser im Hause gelebt hättet, so würdet ihr wissen, wie Dina den Abstäuber handhabte, wie sie damit in jede kleine Ecke hineinfuhr und über jeden noch so kleinen Rand hin und her, an jeder Stuhllehne und jedem Stuhlbein entlang, und unter und über alles und jedes was auf dem Tisch lag. Endlich kam sie an Adams Papiere und Schreibzeug; bis unmittelbar daran stäubte sie ruhig weiter, dann aber hielt sie an und sah verlangend, aber schüchtern darauf hin. Es war ein Jammer zu sehen, wie viel Staub dazwischen lag. Während sie noch so drauf hinsah, hörte sie vor der offenen Thür, der sie grade den Rücken zukehrte, jemand gehen und sagte, indem sie ihre klare Stimme etwas erhob:
»Seth, wird Euer Bruder böse, wenn man in seinen Papieren kramt?«
»Ja, sehr böse, wenn man sie nicht wieder an die rechte Stelle legt,« antwortete eine starke tiefe Stimme, die nicht Seths Stimme war.
Dina war zu Mute, als hätte sie ihre Hand unversehens an eine schwingende Saite gelegt; sie zitterte über und über und fühlte für den Augenblick nichts als dies sonderbare Beben; dann wurde sie sich bewußt, ihre Wangen glühten, und wagte nicht umzublicken, sondern blieb stehen und konnte zu ihrem Bedauern nicht einmal freundlich »guten Morgen« sagen. Als Adam sah, daß sie sich nicht umblickte und also das Lächeln auf seinem Gesichte nicht bemerkte, so wurde ihm bange, sie habe seine Worte vielleicht im Ernst genommen, und er trat zu ihr, so daß sie ihn ansehen mußte.
»Ei, Ihr denkt wohl, ich sei ein kleiner Haustyrann, Dina?« fragte er lächelnd.
»Nein,« sagte Dina und blickte schüchtern zu ihm auf, »das nicht. Aber Ihr könntet doch verdrießlich werden, wenn man Euch Eure Sachen verkramte, und selbst Moses, der sanfteste von allen Menschen, geriet bisweilen in Zorn.«
»Nun, dann kommt,« sagte Adam und sah sie freundlich an, »ich will Euch die Sachen aufräumen helfen und sie wieder hinlegen, dann kommen sie nicht in Unordnung. Ihr werdet übrigens mit der Zeit Eurer Tante rechte Nichte, wie ich sehe; so eigen seid Ihr.«
Sie machten sich zusammen ans Werk, aber Dina hatte sich noch nicht genug erholt, um sprechen zu können, und Adam beobachtete sie mit einer gewissen Unruhe. Es kam ihm vor, als sei Dina in der letzten Zeit nicht ganz mit ihm zufrieden; sie war nicht ganz so freundlich und offen gegen ihn gewesen wie sonst. Er hätte es gern gehabt, wenn sie ihn ansähe und bei dieser Arbeit, die ein reines Spiel war, so heiter wäre wie er selbst. Aber Dina sah gar nicht nach ihm; bei seiner Größe konnte sie es leicht vermeiden ihn anzublicken, und als alles Abstäuben endlich geschehen war und er gar keinen Vorwand mehr hatte, bei ihr zu bleiben, da konnte er es nicht länger ertragen und sagte mit flehender Stimme:
»Dina, Ihr seid mir doch nicht böse? Hab' ich etwas gesagt oder gethan, was Ihr mir übel genommen habt?«
Die Frage überraschte sie und gewährte ihr zu gleicher Zeit eine Erleichterung, indem sie ihrer Empfindung einen neuen Weg öffnete. Sie blickte ihn ganz ernsthaft an und sagte fast mit Thränen in den Augen:
»O nein, Adam, wie könnt Ihr so was glauben?«
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn Ihr nicht ebensoviel Freundschaft für mich hättet wie ich für Euch,« sagte Adam. »Und Ihr wißt nicht, Dina, wie wert mir der bloße Gedanke an Euch ist. Das war's, was ich gestern meinte, als ich Euch sagte, ich sei es zufrieden, daß Ihr fortginget, wenn Ihr es so für recht hieltet. Ich wollte nämlich sagen, der Gedanke an Euch sei mir so teuer, daß ich es dankbar hinnehmen müsse und nicht murren dürfe, wenn Ihr für recht findet fort zu gehen. Daß mir der Abschied von Euch nahe geht, Dina, das wißt Ihr doch.«
»Ja, lieber Freund,« erwiderte Dina, indem sie zitterte und doch ruhig zu sprechen versuchte, »ich weiß, Ihr habt für mich das Herz eines Bruders, und im Geist werden wir oft bei einander sein; aber grade jetzt bin ich von mancherlei Heimsuchung schwer bedrängt; Ihr dürft es mit mir nicht so genau nehmen. Ich fühle mich hinweggerufen von hier und muß meine Verwandten für einige Zeit verlassen, aber eine Prüfung ist's mir doch. Das Fleisch ist schwach.«
Adam sah, daß es ihr peinlich war, antworten zu müssen, und er erwiderte daher schnell:
»Es thut Euch weh, wenn wir davon sprechen, Dina; ich will nichts weiter sagen. Laßt uns nachsehen, ob Seth das Frühstück fertig hat.«
Das ist eine einfache Scene, lieber Leser. Aber es ist mir doch ziemlich sicher, daß du auch verliebt gewesen bist – vielleicht sogar mehr als einmal, obgleich du das den Damen deiner Bekanntschaft nicht gern sagst. Ist es der Fall, dann wirst du die leisen Worte, die schüchternen Blicke, die zitternden Berührungen, mittels deren zwei Menschenseelen einander allmählich sich nähern wie zwei Regentropfen, die sich am Fenster hinunterschlängeln, ehe sie ineinander fließen – dann, sage ich, wirst du alle diese Dinge ebensowenig für nichtssagend halten, wie du die ersten Zeichen des kommenden Frühlings für nichtssagend hältst, wenn es auch nur ein schwaches, unsagbares Etwas in der Luft und im Gesange der Vögel und das kleinste Knöspchen auf der Hecke ist. Denn jene Worte und Blicke und Berührungen gehören zur Sprache der Seele, und die schönste Sprache besteht, glaub' ich, zumeist aus den einfachsten Worten wie »Licht«, »Klang«, »Sterne«, »Musik«, – Worte, die eigentlich nicht des Ansehens wert sind oder an sich anders klingen als »Bauspäne«, oder »Sägespäne«, nur daß sie zufällig etwas unaussprechlich Großes und Schönes bedeuten. Nach meiner Ansicht ist Liebe auch etwas Großes und Schönes, und wenn du mir darin recht giebst, lieber Leser, dann werden dir auch die kleinsten Zeichen der Liebe nicht Bauspäne oder Sägespäne sein, sondern vielmehr den kleinen Worten »Licht« und »Musik« gleichen und dir die weitverzweigten Fibern deines Gedächtnisses anregen und dir die Gegenwart bereichern mit dem Köstlichsten, was deine Vergangenheit enthält.