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VIII.

Als Kehlmark allein war, kam ihm zum ersten Male der Gedanke, seine Rechnungsbücher durchzugehen und sich selbst über den Stand seines Vermögens zu informieren. Er hatte Blandine Vollmacht erteilt, sie verwaltete sein Vermögen. Er wußte, wo die diesbezüglichen Dokumente sieh befanden. Der Schlüssel steckte nicht, darum sprengte er ohne Bedenken das Schloß. Und nun stöberte er alles durch und wühlte in den Papieren; er durchlief die Zahlenreihen, die notariellen Akte ... Noch bevor er mit seiner Orientierungsarbeit zu Ende war, sah er, daß er fast ruiniert war. Escal-Vigor war beinahe die einzige seiner Besitzungen, die noch nicht belastet war. Aber wo kam das Geld her, womit man seine riesigen Ausgaben, seinen fürstlichen Lebensunterhalt bestritt? Welcher freigiebige Bankier streckte ihm so beträchtliche Summen ohne jede Sicherheit vor, ohne die geringste Aussicht, sein Geld jemals wiederzuerhalten?

Plötzlich begriff er.

Blandine! Blandine, die er eben noch so gröblich beschimpft hatte. Die Rollen waren vertauscht. Er also war der Ausgehaltene. In der Gemütsverfassung, in der er sich befand, brachte ihn diese Entdeckung, anstatt ihn zu beruhigen, nur noch mehr außer sich.

In seiner Begriffsverwirrung glaubte er, daß nichts der Ungerechtigkeit gleichkommen könne, über die er sich beklagen zu müssen wähnte.

Er fuhr das junge Weib an:

»Das wird ja immer schöner!« rief er. »Ich weiß alles. Du hältst mich aus, du kaufst mich aus, ich besitze keinen Pfennig mehr. Escal-Vigor müßte dir gehören; es repräsentiert ja kaum den Wert der Summen, die du mir gegeben. Aber, meine Liebe, du hast dich doch verrechnet, wenn du hofftest, mich auf diese Weise an dich zu fesseln, mich dir unterthan zu machen ... Nein, nein, ich lasse mich nicht kaufen. Ich werde gehen. Ich lasse dir Escal-Vigor. Ich will nichts von dir ...«

»Indessen«, fuhr er mit grausamer Ironie fort, als sie verstummte, »nachdem, was ich dir schon gestanden, würdest du an meiner Person eine recht erbärmliche Akquisition gemacht haben! Hahaha!

Unsere gegenseitige Lage ist noch verrückter, als ich dachte ... Du bist wahrhaftig anspruchslos! Aber, du kleine Thörin, mit dem Gelde, das dir meine Großmutter hinterließ, hättest du dir einen echten Mann anschaffen können, einen kräftigen Frauenliebhaber. Holla! ich denke, du hättest nicht weit zu suchen brauchen ... Dieser Landrillon ...«

*

Unglücklicher Kehlmark!

In seiner Sucht nach Auflehnung gegen Blandinens Bevormundung und nach Vergeltung für das ihm angeblich angethane Unrecht hatte er der Ärmsten die härteste Wunde geschlagen. O der Elende! In seiner Verblendung ahnte er nicht, welch ein Opfer sie ihm gebracht. Der Verlust ihres Vermögens war nichts gegen die Hingabe ihres Leibes an den verhaßten, verabscheuten Erpresser. Welcher Dämon hieß die wutbebenden Lippen des Deichgrafen gerade diesen Namen aussprechen, den letzten, den er hätte nennen dürfen!

Niemals ward es Kehlmark kund, wie abscheulich er sich jetzt benommen; doch kaum war der Name Landrillons seinen Lippen entflohen, so vollzog sich, halb unbewußt, ein Umschlag in ihm: das leichenblaße Antlitz Blandinens, ihre angstvoll flehenden Augen gaben ihm den Schlag teilweise zurück, den er ihr soeben versetzt hatte.

Er fing die Zusammenbrechende in seinen Armen auf:

»Verzeihe mir, Geliebte! Es ist nicht mein eigenes Ich, das jetzt aus mir sprach. Ein unsäglicher Schmerz, ein heimlich bohrender, ewig quälender Vorwurf haben mich so weit gebracht: mein überreiztes Gehirn rächt sich.«

Und um ihre Verzeihung zu erhalten, legte er ihr eine Generalbeichte ab, entwarf er ihr ein vollständiges Gemälde von seinem Seelenleben.

Dann fielen ihm wieder die traurigen Stunden ein, die er durchlebt hatte, und von neuem überkam ihn das Verlangen, brutal und grausam gegen sie zu sein; doch bald begann er wieder sie zu liebkosen, und endlich brach sein Paroxysmus in Augenblicken geistiger Verwirrung in erschütternde Klagen aus:

»O Blandine, Blandine! Was habe ich glitten und was leide ich noch; nie hat ein Mensch noch gleich schreckliche Qualen durchgemacht.

Armes Lieb, du hast geglaubt, daß ich dir zürnte, daß ich Vergnügen daran fände, dich zu quälen.

Komm, sei vernünftig! Du siehst jemanden auf dem Scheiterhaufen festgebunden bei langsamem Feuer langsam, qualvoll verbrennen; und du machst ihm noch zum Vorwurf, daß das grause Schauspiel empfindsame Seelen martert! ... Ach, ein Schauspiel, das er dir sehr wider Willen bereitet!

Und dieses gemarterte Opfer, diesen gepeinigten Dulder, dessen ganzes Leben nichts als eine fortwährende Qual, ein einziger stechender Schmerz ist, diesen bei lebendigem Leibe Verbrennenden beschuldigst du, dein Henker zu sein.

Von nun an, o meine Schwester, verschone ihn mit deinen mißbilligenden Mienen, mit dem stummen Vorwurf deiner Tugend.

Ah, ich habe genug davon, übergenug! Wenn ich dir unbewußt Böses gethan, dir, der besten der Frauen, warum sollte ich auf die Empfindungen der Menge Rücksicht nehmen? ... Statt mich zu erniedrigen, hebe ich mich hoch empor ...

Wirst du mich beurteilen, wirst du mich verdammen, wie die anderen? Nun, wie du willst. Aber ich bestreite dir selbst das Recht, mich frei zu sprechen! Ihr habt kein Urteilsmaß für unsereinen. Ich bin weder ein Kranker, noch ein Verbrecher. Ich fühle ein Herz in mir, größer und reicher, als eure gepriesensten Apostel. Sieh mich nicht pharisäisch an, du Fehlerlose!

Und mit diesen beleidigenden und beschimpfenden Worten, da spreche ich dir nun von meiner Liebe, von der einzigen Liebe, die mir möglich ist! –

Diese Worte, teurer Engel, sie könnten dich wohl auf einen Augenblick die ganze Wohlthätigkeit verlieren lassen, die sonst dein Wesen ausströmt, das ganz Güte und verständnisvolle Verzeihung ist ... Doch genug davon, weg mit dieser hingebungsvollen Demut, die mich wie rotglühendes Eisen brennt! ...«

»O Heinrich!« seufzte das arme Weib, »lassen wir das Vergangene ruhen; reiße mir das Herz aus der Brust, nur sprich nicht länger so ... Laß es gut sein. Weit entfernt, dich zu tadeln, entschuldige ich dich vielmehr; ich heiße alles gut, was du auch thust. Begehrst du das von mir? Wohlan, ich verdamme, was du verdammst, ich sage mich los von Taufe und Christentum, vom Evangelium und von Jesus!«

Da strömte sein Inneres über, alle Schleusen seines Herzens öffneten sich weit.

Blandine hatte ihn sanft zu einem Sessel geleitet. Sie schien ganz verklärt. Ihre Arme schlang sie um seinen Hals, und Wange an Wange geschmiegt ließen sie vereinigt ihre Thränen fließen. Sie hatte jetzt erkannt, daß die Verzweiflung Kehlmarks weit ihre Leiden überwöge, und sie beschloß in ihrem Herzen, nur mehr wie eine Mutter ihm zu sein.

»Sage mir, Blandine«, fuhr er fort, »wem habe ich unrecht gethan? Dir? Doch ohne es zu wollen. Ich war nicht der, den du erträumtest, oder wenigstens nicht so, wie du ihn gewollt hättest. Ich kann nichts dafür! –

Du weinst, Blandine, während du mir zuhörst. Du hast recht, wenn du Thränen vergießest, indem du meinen langen Leidensweg betrachtest ... Dein Mitleid ist mir wert und thut mir wohl. Doch wenn es nur aus Scham ist, daß du um mich weinst, Geliebte, wenn du das Vorurteil des Abendlandes und der protestantischen Welt teilst, ... ah dann, dann gieb mich auf, verlaß mich, trockne deine Thränen: dein schamgeborenes Mitleid mag ich nicht!

Von heute ab will ich auf Menschen keine Rücksicht mehr nehmen, und feiges Schamgefühl soll mich nicht hindern.

Ein Augenblick wird kommen, wo ich, wie ich empfinde und wie ich geschaffen bin, der ganzen Welt ins Antlitz schleudern werde ...

Jetzt ist es an der Zeit! Zu lange schon hat meine Höllenqual gedauert. Sie begann bereits, als ich zum Manne heranreifte. Als ich in der Erziehungsanstalt war, nahmen meine Jugendfreundschaften die ganze Lebhaftigkeit und süße Schwärmerei an, wie sie sonst nur der zärtlichsten Liebe eigen ist. Beim Baden erfüllte der Anblick der nackten Körper mich mit verwirrenden Wonneschauern. Wenn ich nach Mustern der Antike zeichnete, so suchte ich mir nur edel gewachsene männliche Gestalten aus; da ich ganz wie ein Grieche fühlte, so fand ich kein Verdienst darin, mit schlecht sitzender verhüllender Gewandung die harmonischen Formen eines Athleten, eines jugendlichen Heroen, eines jungen Gottes zu umkleiden; meine Seele jauchzte in wollüstiger Ekstase der göttlich schönen, unverhüllten Nacktheit zu. Gleichzeitig fand ich Hähne und Fasanen prächtiger als ihre Hennen, Tiger und Löwen herrlicher als ihre Weibchen! Aber ich schwieg still und verbarg tief in meinem Innern meine Vorliebe für das männliche Geschlecht. Ich versuchte selbst meine Augen und meine anderen Sinne anders empfindend zu machen; ich peinigte mein Herz und mein Fleisch, um sie zu überzeugen, daß ihre Sympathien fehl gingen, sich verirrten. Vergebliches Bemühen. So liebte ich im Pensionat einen jungen englischen Lord, William Percy, derselbe, durch dessen Schuld ich bald ertrunken wäre; doch niemals wagte ich ihm anders als durch eine warme brüderliche Zuneigung die Glut zu zeigen, die mich für ihn verzehrte.

Als ich Schloß Bodemberg verließ, als ich dich traf, Blandine, da hoffte ich, kraft meiner Liebe zu dir in die gewöhnliche Ordnung der Dinge zurückzukehren. Allein zum Unglück für uns beide ward dies Zusammentreffen nur eine Episode in meinem geschlechtlichen Leben. Trotz meines aufrichtigen, heldenhaften Bemühens, trotz meiner krampfhaften Willensanstrengung, mich an die beste und begehrenswerteste der Frauen festzuklammern, wandten mich doch meine sinnlichen Bedürfnisse bald gänzlich von dir ab und ich liebte dich nur noch seelisch, o Blandine! In dieser Zeit ließen die Reste christlicher, oder richtiger gesagt, biblischer Skrupel mich vor mir selbst einen Abscheu bekommen. Es graute mir vor mir selber und ich wähnte mich verflucht, von bösen Geistern besessen.

Dann, als mir die Ungerechtigkeit meines Schicksals, für das ich doch nichts konnte, zum Bewußtsein kam, versöhnte ich mich allmählich mit mir selbst. Ich gelangte dazu, nur die Stimme meines eigenen Gewissens als Richter über mein Innenleben anzuerkennen. Gestützt auf meine absolute Ehrlichkeit, auf die Übereinstimmung zwischen meiner Natur und meinen Empfindungen, die meine innere Stimme als gerechtfertigt anerkannte, empörte ich mich dagegen, daß die Ansicht der großen Menge die Richtschnur für mein Liebesleben abgeben sollte. Die Lektüre verschiedener Schriften klärte mich vollends auf, daß ich das Recht zu leben und zu denken hatte, wie es mir meine Natur vorschrieb. Künstler, Gelehrte, Helden, Könige, Päpste, sogar Götter, sie rechtfertigten, ja verherrlichten durch ihr Beispiel den Kultus der männlichen Schönheit. Wenn ich wieder dem Zweifel und den Gewissensbissen anheimzufallen drohte, so las ich, um mich in meinem sexuellen Glauben, meiner sexuellen Religion zu festigen, wieder und wieder die liebeglühenden Sonette Shakespeares an William Herbert Grafen von Pembroke, die nicht minder abgöttischen Michel Angelos an Tommaso de' Cavalieri; ich stärkte mich, indem ich die betreffenden Stellen bei Montaigne, Tennyson, Wagner, Walt Whitman und Carpenter wieder vornahm; ich rief die Teilnehmer des Gastmahls Platons, die Liebenden der heiligen Schar der Thebaner zu Hülfe, Achilleus und Patroklos, Orest und Pylades, Dämon und Phintias, Hadrian und Antinous, Chariton und Melanippus; ich lebte in all diesen herrlichen Liebesbündnissen des Altertums und der Renaissance, die man uns in der Schule als Blütezeit der Menschheit rühmt, wobei man aber den erhabenen Erotismus jener Zeiten, der zur reinsten Kunst, zu heroischen Thaten, zu den höchsten Bürgertugenden begeistert, philiströser Weise verschweigt.

Indessen blieb mein äußeres Leben auch weiterhin ein ewiger Zwang, eine fortwährende Heuchelei. Ich beugte mich einer ruchlosen Disziplin zu Liebe vor der Herrschaft der Lüge. Aber meine gerade und ehrliche Natur lehnte sich unablässig gegen diese Verstellung auf. Stelle dir vor, meine arme Freundin, den grausamen Widerstreit zwischen meinem offenen und mitteilsamen Charakter und dieser Maske, die meine natürlichen Triebe und Beziehungen entstellte und herabzog! Ach, ich kann es dir jetzt wohl sagen, mehr als einmal drohte meine fleischliche Unempfindlichkeit gegen das Weib in wahren Haß umzuschlagen. Und du selbst, Blandine, du brachtest mich vollends auf gegen dein Geschlecht, du, die beste der Frauen! An dem Tage, da du dir schmeicheltest, Guido Govaertz von mir zu trennen, da fühlte ich meine beinahe verwandtschaftliche Zuneigung für dich sich in einen vollständigen Abscheu verwandeln. In dieser Lage, überall zurückgestoßen, unverstanden, vereinsamt, so gut wie verflucht, war ich oft nahe daran, – du wirst das jetzt verstehen –, den Verstand zu verlieren.

Mehr als einmal geriet ich auf Abwege. Da man mich nun doch einmal für ein Scheusal ansieht, sagte ich mir, da ich ein Verlorener, sozial Geächteter bin, so will ich wenigstens die Wohlthat meiner Schande genießen.

Die sadistischen Frevelthaten eines Gilles de Retz ließen mich nicht schlafen.

Erinnerst du dich noch des Kindes, das du eines Tages meinen Armen entrissest? In meiner Wut stach ich nach dir mit einem Messer, und doch hattest du nicht verstanden, was da in meiner Seele vorging! Ein andermal, als wir noch in der Stadt wohnten, machte ich mich an einen kleinen Straßenjungen, der sich beim Hafen herumtrieb, zerlumpt und abgerissen wie die kleinen Strandläufer von Klaarwatsch. Gestachelt von einem Anfall einer abscheulichen Perversion wollte ich ihn hinter einen Haufen von Warenballen tragen.

Ich nahm den Knirps auf meinen Arm: das Bübchen lächelte mir freundlich zu und hatte gar keine Angst, obwohl mein Gesicht in diesem Augenblick die verzerrten Züge eines Strangulierten haben mußte. Der feine Herr, so dachte es wohl, wollte bloß mit ihm spielen und würde ihm nachher etwas schenken. Die Wangen des Kleinen waren rund wie ein Pfirsich und braun wie seine zerlumpten Sammethöschen, seine dunkelleuchtenden Augen blitzten mich voll schalkhafter Liebkosung an. Während ich mit fiebernden Schläfen und trockener Kehle immer schneller vorwärts eilte, zupfte mich der kleine Schelm am Bart. Der Schleier, der wie aus Pech und Schwefel gewoben sich über meine Augen gelegt hatte, zerriß plötzlich. Ich dachte an meine Kindheit, meine Großmutter, dich, Blandine, meinen guten Engel! Nein, Nein! Ich legte den Kleinen auf den Boden nieder und entfloh. Seitdem überwand ich diese unseligen Vorstellungen und Gelüste mit äußerster Kraftanstrengung. Nein, zerstöre nicht die Blüte unschuldiger Jugend oder schone wenigstens die Schwachen und Wehrlosen, sagte ich mir. Atme nur den Duft der Kelche ein, die sich dir zuwenden, sich dir freiwillig darbieten. Mißbrauche nicht die Kindheit, die von sich selbst noch nichts weiß, oder die aufkeimende Mannheit, die über sich noch nicht klar ist.

Kurze Zeit darauf starb meine Großmutter. Ich beschloß nun nach dem Wesen zu suchen, das ich meiner Natur zufolge lieben könnte; deshalb verbannte ich mich nach dieser Insel; ich hatte eine heimliche Ahnung in mir, daß ich hier den Erwählten meines Lebens finden würde. Ich brauchte Guido bloß zu sehen, als ihm meine Seele entgegenflog. Ich erkannte bei ihm außer seiner Begabung für die Kunst, die ich liebe, einen edlen Stolz, der ihn vor der großen Masse der charakterlosen Bedientenseelen auszeichnete. Wie hätte ich ferner unempfindlich bleiben können gegen das stumme und doch so beredte Flehen seiner Augen? Er hatte mich geahnt, wie ich ihn vorausgefühlt hatte. Er allein, er stillte zum ersten Male den heißen Drang, der mein ganzes Sein erfüllte. Wenn unser Fleisch gesündigt hat, so hat doch höchste moralische Glut die That geheiligt. Unser Begehren stimmte überein mit unserm Empfinden ...

Doch nein, die Natur verwirft und verdammt nichts, was uns beseligt. Nur die Bibelreligiösen behaupten, daß Allmutter Erde uns zur Entsagung und zum Schmerz geboren. Abscheuliche Verleumdung! Verabscheuungswürdig wäre der Schöpfer, der an der Marter seiner Geschöpfe Lust empfände! Dann wäre der schlimmste Sadismus der des sogenannten Gottes der Liebe! Unsere Qual wäre seine Wollust! ... Nein, nimmermehr! Pfaffentrug ist das Ganze! ...

Du kannst jetzt mein Leben verstehen und wirst begreifen, weshalb ich trotz deiner seelischen Erhabenheit doch meinerseits so stolz spreche, o Blandine!

Du kanntest ja einstmals einige Freunde von mir aus meinem Stande, vortreffliche, fähige Leute, mit Nachsicht und Verständnis für alles, Freidenker, aufgeklärte Geister, die keine noch so kühne und gewagte Idee zu erschrecken schien. Du erinnerst dich gewiß noch, wie sie mich zu sich heranzuziehen suchten. Und auch daran wirst du dich erinnern, wie mich in ihrer doch so liebenswürdigen Gesellschaft oft eine plötzliche Traurigkeit überfiel, wie ich mit einem Mal verstummte und längere Zeit wie geistesabwesend war. Was war der Grund davon? Mitten in einer angeregten Unterhaltung, während wir uns unsere Herzensgeheimnisse anvertrauten, fiel mir plötzlich ein, was meine Freunde wohl zu mir sagen würden, wenn sie in meiner Seele lesen könnten, wenn sie meine abweichende Veranlagung ahnen würden. Und bei diesem Gedanken empörte ich mich innerlich gegen die Schande, mit der sie mich unfehlbar überschüttet haben würden, so geistig frei und überlegen sie sich auch vorkamen. Die Großmütigsten hätten sich vielleicht jedes Vorwurfs enthalten, aber sie hätten mich gemieden, wie einen Aussätzigen. Wie oft, wenn ich mich unter weniger Gebildeten befand und ich diese durch niedrige Bewegungen und Schimpfnamen die Liebenden meiner Art brandmarken hörte, wie oft war ich da nicht drauf und dran, loszubrechen, meine Gemeinschaft mit den vermeintlichen Gesetzesübertretern zu erklären und all diesen unbarmherzigen und unversöhnlichen hochehrbaren Leuten ins Gesicht zu speien.

Und was litt ich innerlich, wenn man das Gespräch auf die Frauen und die Erfolge bei ihnen brachte! Ich mußte mitscherzen und mitlachen, ich mußte mich beteiligen, wenn sie sich in saftigen Geschichtchen überboten, ja ich mußte sogar meinerseits ein ausgelassenes Zötchen oder Abenteuer zum besten geben; hinterher schämte ich mich dann freilich vor mir selber: mein ganzes Innere empörte sich dagegen und ich warf mir dann selbst meine feige Nachgiebigkeit vor.

Der »feurige Hirt«, von dem du mich unlängst die Legende erzählen hörtest, weigerte sich, nach Rom zu pilgern, um sich dem Papst zu Füßen zu werfen und seine Gnade anzuflehen. Dieser Sünder lehnte jeden Schiedsrichter zwischen der Stimme seines Gewissens und der der großen Menge ab. Ich dachte nicht so stolz. Eines Tages schrieb ich an einen hervorragenden Revolutionär, eine jener Leuchten des Sozialismus, die als an der Spitze ihres Jahrhunderts stehend gelten und von einer Welt von Brüderlichkeit, Glück und Nächstenliebe träumen. Ich konsultierte ihn über meinen Zustand, als ob es sich um einen meiner Freunde handelte. Dieser Mann, von dem ich ein Wort des Trostes, ein Zeichen des Verständnisses erwartete, er antwortete mir mit einem Brief voll Ächtung und Verdammung. Er schrie ›Racha‹ über den Abtrünnigen der landläufigen Liebesmoral, indem er sich ebenso unversöhnlich gegen die Ausnahmenaturen bewies, wie der Papst in der Legende gegen den Tannhäuser. Ach ja! Der Papst der Revolution weihte mich dem Leben im Venusberg, oder vielmehr im Uraniaberg!

Diese gänzliche Exkommunkation, die mich völlig niederschmettern sollte, gab mir das Gefühl meiner persönlichen Würde, meiner Pflichten gegen die Natur wieder. Ich fand endlich die Kraft in mir, in Übereinstimmung mit meinem Gewissen, meinen körperlichen Bedürfnissen zu leben, trotz der Ungerechtigkeit, mit der mich die Humanität meiner Mitmenschen verfolgte; aber allein und verlassen, wie ich war, schwankte ich immer zwischen den Extremen äußerster Entmutigung und wildester Auflehnung hin und her; du wirst jetzt, mein armes Lieb, meinen Seelenzustand verstehen können, ebenso wie meine seltsamen Launen, meine Verschwendungssucht, meine Ausschweifungen, meine halsbrecherischen Heldenstückchen. Ach ja! Ich trachtete immer nach Vergessenheit, und mehr als einmal suchte ich den Tod!«

»Du hast mehr gelitten als ich«, sagte Blandine, als er erleichtert inne hielt mit einer Art heiteren Ausdrucks im Gesicht, mit leuchtenden Augen, mit freimütigen, offenen Mienen – »aber jetzt sollst du wenigstens durch meine Schuld nicht mehr leiden! – Ich bekehre mich zu deiner Religion der Liebe, ich sage mich los von meinen letzten Vorurteilen. Ich entschuldige dich nicht nur, da ich dich jetzt verstehe, ich preise dich, ich verehre dich! ... Ich bin mit allem einverstanden, was du thust ... Sei ganz ruhig, Heinrich, von mir sollst du nie mehr eine Klage, geschweige denn einen Vorwurf hören ...

Guido, den du mit Leib und Seele liebst, wird mein Freund sein. Ich werde seine Schwester sein. Wir verlassen dieses Land, wenn du willst, Heinrich, wir wollen alle drei wo anders leben, bescheiden, aber in Frieden und Eintracht ...«

Überwältigt von so viel Aufopferung rief der Deichgraf aus:

»O, daß ich dich nur wie eine Mutter lieben kann, eine Mutter, die zärtlicher ist als die beste der Mütter, meine anbetungswürdige Blandine, aber leider doch nur wie eine Mutter! ...«

Sie hielt ihm den Mund zu und rief:

»Ha! Jetzt weiß ich auch, warum eine innere Gewalt mich damals abhielt, zu jenem anderen ins Gefängnis zu gehen!«

Es lag wie Jubel, wie Triumph in der Verzweiflung Blandinens. Das war der erhabene Wahnsinn höchster Aufopferung. Das Weib hatte sich zum Engel erhoben.

Doch sie sollte sich noch höher erheben und alle, alle irdische Schwachheit und Eifersucht ablegen.

Mit einer verheißungsvollen Handbewegung bat sie Kehlmark, Guido herbeizurufen, und als der Jüngling erschien, ergriff sie seine Hände und legte sie in die seines Meisters; dann drückte sie einen keuschen Kuß, der wie das Grab Hilfe in letzter Not verhieß, auf die errötende Stirn des Schülers.


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