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1871 – 1914
Christian Morgenstern wurde am 6. Mai 1871 in München als Sohn eines Kunstmalers geboren. Er widmete sich in Breslau dem Studium der Rechte und der Nationalökonomie, darauf anderthalb Jahre dem der philosophischen und kunstgewerblichen Fächer, ging 1894 nach Berlin. Wie er selbst schreibt, führten ihn »fortwährend schwankende Gesundheitsverhältnisse« nach der Schweiz und Italien (1901 bis 1903). Von 1906-1910 hielt sich Morgenstern vorwiegend in Südtirol auf. Er kehrte dann nach Berlin zurück. Am 31. März 1914 ist er in Meran im Alter von 43 Jahren gestorben. Die letzten zwanzig Jahre seines Leben war er schwer krank.
Im Jahre 1906 äußerte er: »Wenn ich heute stürbe, glaube ich, alt genug geworden zu sein. Ich bin dann wenigstens alt genug geworden, um sterben zu können.« (Aus: Stufen. München 1918. S. 15) und ein andermal (ebenda S. 18): »Es ist bitter sich sagen zu müssen, daß man zwischen 35 und 45 zu erledigen hat, was man zwischen 45 und 60 hätte sollen erledigen können.«
Im Winter 1905/06, in den Wäldern von Birkenwerder, vollzog sich »die entscheidende Wendung: die Natur, die Welt vergeistigten sich ihm völlig.«
»Es kamen nun – äußerlich in Südtirol verlebte – Jahre des Austragens, des Ausreifens, Zu-Ende Denkens, und diese Jahre überstand er so, wie er sie überstand, eigentlich nur, weil ihm Gesundheit und Mittel fehlten, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo er in völliger Unbekanntheit seine Tage hätte vollenden dürfen. Er war doppelt geworden und in der wunderlichen Verfassung, sich sozusagen groß oder klein schreiben zu können.« (Morgenstern über sich selbst, in: Die Propyläen. 1929. Nr. 26, S. 204-205.)
Oft hat Morgenstern an die zwei köstlichen Meraner Winter gedacht. Dort wurde 1910 – vier Jahre vor des Dichters Tod – seine Trauung mit Margarete vollzogen (1910). (G. Jsolani, Morgenstern-Briefe, Vossische Zeitung 1930, Nr. 25.)
Sehr interessant und charakteristisch ist einer der letzten Briefe Chr. Morgensterns, der aus dem Sanatorium Gries bei Bozen vom 22. Januar 1914 datiert ist. (Das Goetheanum, 3. Jahrg. 1923. Nr. 4, S. 27 f): »Gewiß, ich bin seit zwanzig Jahren leidend, wie sich ja neuerdings in einem öffentlichen Almanach nachlesen läßt, aber so paradox es klingen mag, es sträubt sich alles in mir, von irgend jemanden als krank empfunden zu werden. Denn ein Gefühl wirklichen Krankseins ist bisher meiner noch nicht Herr geworden, trotz allem, und natürliche Depressionen abgerechnet, und wird es hoffentlich auch nie werden.
»Leiden« kann man an allem, aber um »krank« zu sein, muß einen ein fremdes Etwas besitzen, muß man der Sklave seiner Krankheiten geworden sein. Nun, was mich betrifft, so müssen's meine Werke von der ersten bis zur letzten Zeile bezeugen.«
Aus Morgensterns letzten Lebenstagen sei hier noch folgendes Gedicht mitgeteilt (ebenda 1927. Nr. 16):
Gewaltiger, der Du aus Geisteshöhn
auf Deinen armen Sohn der Erde schaust: –
Ich sah!
Und kann nun fürder nimmer leben mehr,
Wie ich bisher gelebt.
Wie gründlich zuwider Morgenstern jegliches Biographentum war, erhellt aus folgenden Worten, die ehrlich gemeint waren: »Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was ich je gesagt, geschrieben oder getan. Glaubet nicht, daß in der Breite meines Lebens das liegt, was Euch wahrlich dienlich sein kann. – Ißt man denn an einem Apfel auch alles mit: die Kerne, das Kerngehäuse, die Schale, den Stengel. Also lernt auch mich essen und schlingt mich nicht hinunter mit allem, was nun zwar zu mir gehört und gehörte, aber von dem ich selbst so wenig wissen will, wie ihr davon sollt wissen wollen. Laßt mein allzuvergänglich Teil ruhen und zerfallen: dann erst liebt Ihr mich wirklich, habt Ihr mich wirklich verstanden.« (1908, zitiert nach Ger Trud – Gertrud Jsolani – Malererbe. Studie zum Lebenswerke Chr. Morgensterns. Pfeil-Verlag, Berlin 1920. S. 5 f.)
Auf den verschiedenen Photographien Morgensterns, sieht man, wie sich die Schmerzensfalte über dem Mund immer tiefer einkerbt. Aus seinem Tagebuch mag noch eine bemerkenswerte Stelle über sein Leiden wiedergegeben werden:
»(1906) ... ich bin krank, wenn ich es auch fortwährend wieder vergesse und mitten in meiner Krankheit Stunden, Tage, Wochen vollkommener Gesundheit durchlebe, Zeiten voll herrlichsten Blühens, in denen der Zerfall in mir gleichsam überblüht, hinweggesiegt wird, von einem Frühling, der Herbst und Winter des Lebens nicht anerkennt ... Aber dann kommt ein Spätnachmittag mit seiner gefährlichen Muse, dann kommt ein nasser, trübseliger Tag wie dieser, und mit dem Vergessen dessen, ›was ist‹, ist es vorbei ... Ich sehe ihn vor mir, meinen treuesten Begleiter und Verfolger, den seltsamsten Kauz der Welt. Seine Beschäftigung besteht seit zehn, seit vierzehn Jahren darin, mich mit einer feinen Federpose in der Luftröhre zu reizen, als wünschte er auf Erden nichts, als immer von neuem, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr meine Stimme zu hören, lediglich die Stimme, unartikuliert, tierisch, ohne Form, ohne Inhalt, wie er dann wohl auch selbst nur ein tierischer Geist sein mag, ein Gespenst ohne Hirn, nichts als die fixe Idee von oben bis unten, und ich sein einziges Ziel, sein einziger Lebenszweck.« (Vgl. W. Eidlitz, in: Die schöne Literatur 1924. Nr. 3. S. 81 ff.)
Wunderbar, daß trotzdem in Morgensterns Dichtungen nichts Hinfälliges, Krankes zu merken ist, höchstens etwas Fiebriges.