Georg Ebers
Die Frau Bürgemeisterin
Georg Ebers

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Es wird von einem Verurtheilten erzählt, welchen seine grausamen Henker in ein Gefängniß von künstlichem Bau geworfen hatten. Täglich schoben sich die Wände dieses Käfigs enger und enger zusammen, täglich drangen sie näher auf den Unglücklichen ein, bis er verzweifelnd den Geist aufgab und der Kerker sein Sarg wurde. So schoben sich auch von Stunde zu Stunde die eisernen Schranken der spanischen Regimenter näher und näher um Leyden zusammen, und wenn es ihnen gelang, den Widerstand ihres Opfers zu brechen, so drohte diesem ein Ende noch grausamer und schonungsloser als das des unseligen Gefangenen. Der Gürtel, welchen Valdez, der Maëstro del Campo des Königs Philipp, und sein geschickter Lieutenant, Don Ayala, in kaum zwei Tagen um die Stadt gezogen, war schon beinah geschlossen, das mit aller Sorgfalt verstärkte Bollwerk von Valkenburg gehörte den Feinden, und dazu war die Gefahr viel schneller und mit weit unwiderstehlicherer Gewalt hereingebrochen, als es selbst die Aengstlichen unter den Einwohnern befürchtet hatten. Wenn Leyden fiel, so waren seine Häuser den Flammen und der Plünderung, seine Männer dem Tode, seine Frauen der Schande preisgegeben, dafür bürgte das Schicksal der andern eroberten Städte und die spanische Art.

Wer mochte sich heute den Genius der geschäftigen Stadt anders denken, als unter einem finstern Himmel mit düsterer Stirn und angstvoll blickenden Augen, und doch sah es am weißen Thore an diesem Nachmittag so bunt und fröhlich aus, als fände ein Frühlingsfest mit einer glänzenden Schaustellung sein Ende. Wo sich auf den Wällen bis zum Katharinenthurm hin ein Plätzchen bot, stand es voll von Männern, Weibern und Kindern. Die alte Mauer gewährte den Anblick überfüllter Zuschauerbänke in einer Arena, und bis weit in die Stadt hinein ließ sich das Gesumm der vielköpfigen neugierigen Menge vernehmen.

Es ist gütig von der Schickung, daß sie den Menschen befähigt, sich eines kurzen Sonnenblicks mitten unter schrecklichen Wettern zu freuen, und so vergaßen die Gesellen und Burschen, die Weiber und Knaben da oben die drohende Gefahr und weideten das Auge an den schön gekleideten englischen Kriegsknechten, welche zu ihnen hinaufschauten, den Jungfrauen übermüthig zuwinkten und lachten, zum Theil freilich auch mit bedenklichen Mienen dem Ausfall der Unterhandlungen entgegensahen, welche innerhalb der Mauern gepflogen wurden.

Jetzt öffneten sich die Pforten des weißen Thores: der Kommissar van Bronkhorst, van der Werff, der Stadtsekretär van Hout und andere Leiter des Gemeindewesens begleiteten den britischen Obersten und seinen Trompeter auf die Brücke. Der Erstere schien von leidenschaftlichem Unwillen erfüllt zu sein und schlug mehrmals auf den Knauf seines Schwertes, die Leydener Herren sprachen ihm zu und verabschiedeten sich endlich von ihm mit tiefen Verneigungen, welche er nur mit einer stolzen Handbewegung erwiederte. Jetzt zogen sich die Bürger zurück, die Thorflügel schlugen zusammen, das alte Schloß knarrte, die mit Eisen beschlagenen Schutzbäume fielen in ihre Lager zurück, die Ketten an der Brücke rasselten weithin vernehmbar und die versammelte Menge wußte nun, daß den Engländern der Eintritt in die Stadt versagt worden sei.

Laute Vivatrufe, untermischt mit manch lebhafter Aeußerung des Mißfallens, ließen sich vernehmen; »Oranien soll leben!« schrieen die Knaben, unter denen sich auch Adrian und der Sohn des gefallenen Fechtmeisters Allertssohn befanden, die Weiber schwenkten Tücher, und aller Augen waren auf die Briten gerichtet. Jetzt erscholl eine laute Trompetenfanfare, die berittenen Offiziere der Engländer sprengten an den Obersten heran und hielten mit ihm einen kurzen, aber von heftigen Reden einiger Einzelnen gestörten Kriegsrath, und bald darauf wurden Signale geblasen. Nun tummelten sich die Kriegsknechte eilfertig durcheinander, und viele von ihnen drohten dabei mit der Faust nach der Stadt hin. Die zusammengestellten Hellebarden und Musketen wurden von ihren Besitzern ergriffen, und unter Trommel- und Trompetenschall klärte sich der Wirrwarr zur Ordnung. Die Einzelnen reihten sich zu Gliedern, die Glieder zu Schaaren zusammen, die bunten Tücher an den Fahnenstangen wurden gelöst und vom Abendhauche erfaßt, und mit lautem Hurrahgeschrei zog das Korps den Rhein entlang nach Südwesten, wo die spanischen Vorposten standen.

Die Leydener Buben stimmten laut in das Hurrah der Engländer ein.

Auch des Fechtmeisters Waise Andreas hatte mit ihnen zu schreien begonnen; als er aber einen großen Kapitän seinem Fähnlein stolz voranschreiten sah, versagte ihm die Stimme, und mit der Hand vor den Augen lief er zu seiner Mutter nach Hause.

Die andern Knaben bemerkten ihn nicht, denn die untergehende Sonne spiegelte sich so glitzernd in den Panzern und Helmen, den Hellebarden und dem Schwerterstahl der Soldaten, die Fanfaren schmetterten so lustig, die Hengste der Offiziere tanzten so muthig unter ihren Reitern, die bunten Federn und Fahnen und der Rauch der glimmenden Lunten gewannen so prächtigen Farbenglanz im Rosenroth der scheidenden Sonne, daß Auge und Ohr wie gebannt an diesem Schauspiele hing. – Nun zog wiederum etwas Neues die Aufmerksamkeit von Groß und Klein auf sich, Sechsunddreißig Engländer, und unter ihnen auch Offiziere, blieben hinter den andern zurück und näherten sich dem Thore. Wieder knarrte das Schloß und rasselten die Ketten. Die kleine Schaar wurde in die Stadt eingelassen und bei den ersten Häusern des Nordendes von Herrn van Bronkhorst und dem Bürgemeister willkommen geheißen.

Jedermann auf den Wällen hatte gedacht, es werde sich nun vor seinen Augen ein Scharmützel zwischen den abziehenden Briten und Kastilianern entwickeln. Aber, weit gefehlt! denn bevor die Ersteren den Feind erreicht hatten, sah man Lunten durch die Luft fliegen, Fahnen sich senken, und als es Nacht wurde und die Neugierigen sich zerstreuten, wußten sie, daß die Engländer von der guten Sache abgefallen und zu den Spaniern übergelaufen waren.

Die sechsunddreißig, welche man in das Thor eingelassen, waren die Einzigen gewesen, welche sich geweigert hatten, die Mitschuld an diesem Verrath zu tragen.

Dem Stadtsekretär war die Aufgabe zugefallen, für den Kapitän Cromwell und die andern treu gebliebenen Briten und Niederländer Quartiere zu besorgen. Van der Werff ging mit Herrn van Bronkhorst nach Hause. Manches leise, aber heftige Wort ward zwischen ihnen gewechselt. Der Kommissar versicherte, daß der Prinz höchst aufgebracht über die Abweisung der Engländer sein werde, denn er lege mit Recht schweres Gewicht auf die Geneigtheit der Königin Elisabeth für die Sache der Freiheit, der Bürgemeister und seine Freunde hätten derselben heute einen schlechten Dienst geleistet. Van der Werff leugnete dies, denn Alles komme darauf an, Leyden zu halten. Nach dem Fall dieser Stadt seien auch Delft, Gouda und Rotterdam verloren, und alle weiteren Versuche, die Freiheit Hollands zu erkämpfen, würden nutzlos sein; fünfhundert anspruchsvolle Esser mehr mußten den ohnehin ungenügenden Proviant vorzeitig erschöpfen. Man hatte auch Alles gethan, um der Zurückweisung der Engländer eine milde Form zu geben, ja es war denselben frei gestellt worden, sich im Schutze der Wälle unter den Kanonen der Stadt zu lagern.

Als beide Männer sich trennten, hatte keiner den andern überzeugt, aber jeder blieb der treuen Gesinnung seines Kampfgenossen versichert.

Zum Abschiede sagte Peter:

»Der Stadtsekretär soll dem Prinzen in einem klaren und überzeugenden Schreiben, wie nur er es zu verfassen vermag, die Gründe unseres Verhaltens darlegen, und Seine Excellenz wird sie am Ende doch billigen. Verlaßt Euch darauf.«

»Warten wir's ab,« entgegnete der Kommissar, »aber bedenkt, daß wir bald in diesen Mauern wie Sträflinge hinter Schloß und Riegel sitzen werden, und daß vielleicht schon übermorgen kein Bote den Weg zu ihm findet.«

»Der Staatssekretär ist schnell mit der Feder.«

»Und morgen früh laßt verlesen, daß wir den Frauen, Greisen und Kindern, kurz Allen, welche die Vorräthe schmälern und zur Verteidigung nichts nützen, den Rath ertheilen, die Stadt zu verlassen. Sie werden ungefährdet nach Delft gelangen, denn dahin stehen die Wege noch offen.«

»Ganz wohl,« entgegnete Peter. »Uebrigens sollen schon heute viele Frauen und Mädchen den Anderen vorangegangen sein.«

»Recht so,« rief der Kommissar. »Wir treiben auf einem gebrechlichen Fahrzeug auf hoher See. Hätte ich eine Tochter im Hause, so wüßte ich wohl, was ich thäte. Auf Wiedersehen, Meister. Wie mag es um Alfen stehen? Man hört keinen Schuß mehr.«

»Die Dunkelheit hat wohl den Kampf unterbrochen.«

»Hoffen wir denn auf morgen das Beste, und wenn die draußen auch allesammt unterliegen, wir hier drinnen wollen nicht wanken und weichen.«

»Wir halten fest bis an's Ende,« gab Peter entschieden zurück.

»Bis an's Ende, und so Gott will, bis an ein glückliches Ende.«

»Amen,« rief Peter, drückte dem Kommissar die Hand und vollendete den Heimweg. Auf der Treppe kam ihm Barbara entgegen. Sie wollte Maria rufen, welche sich bei dem Fräulein befand; er aber untersagte es ihr und ging nachdenklich auf und nieder. Dabei zuckten seine Lippen mehr als einmal so schmerzlich, als habe er große Pein zu erdulden. Als er nach einiger Zeit die Stimme seines Weibes im Speisezimmer hörte, nahm er sich gewaltsam zusammen, ging auf die Thür zu und öffnete sie langsam.

»Du schon zu Hause; und ich sitze hier ruhig und spinne!« rief sie überrascht.

»Ja, Kind. Ich bitte Dich, tritt zu mir ein, ich habe mit Dir zu reden.«

»Um Gottes willen, Peter, was ist geschehen? Wie Deine Stimme klingt, und wie bleich Du aussiehst!«

»Ich bin nicht krank, aber es wird Ernst, furchtbarer Ernst, Maria.«

»So ist es wahr, so hätten die Feinde . . .«

»Sie haben gestern und heute große Vortheile errungen, aber ich bitte Dich, unterbrich mich jetzt nicht, wenn Du mich lieb hast; denn was ich Dir jetzt sagen muß, das sagt sich nicht leicht, das ist schwer, schwer über die Lippen zu bringen. Womit fang' ich nur an? Wie wend' ich's nur, daß Du mich richtig verstehst? Sieh', Kind, ich nahm Dich in mein Haus aus einem warmen Neste. Was wir Dir bieten konnten, war wenig, und Du hattest wohl auch mehr zu finden erwartet. Ich weiß es: Du bist nicht zufrieden.«

»Aber es würde so leicht für Dich sein, mich zufrieden zu machen.«

»Du irrst, Maria. Mich nimmt in dieser schweren Zeit nur Eins in Anspruch, und was darüber und daneben ist, was meine Gedanken ablenkt, das ist vom Uebel. Aber gerade jetzt lähmt mir Eins den Muth und den schneidigen Willen: es ist die Angst um Dein Schicksal; denn wer weiß, was uns droht, und darum muß es denn gesagt sein, muß ich mein Herz auf die Schlachtbank führen und Dir einen Wunsch eröffnen . . . Einen Wunsch? O barmherziger Himmel, gibt es denn kein anderes Wort für das, was ich meine!«

»Sprich, Peter, sprich, und martere mich nicht!« rief Maria und schaute mit einem angstvollen Blick ihrem Gatten in's Antlitz. – Es konnte nichts Kleines sein, was den klaren und bestimmten Mann veranlaßte, in so gewundener Sprache zu reden.

Der Bürgemeister raffte sich zusammen und begann von Neuem.

»Du hast Recht, es frommt nicht, zurückzuhalten, was doch gesagt werden muß. Wir haben heut auf dem Rathhaus beschlossen, die Frauen und Mädchen aufzufordern, die Stadt zu verlassen. Die Straße nach Delft ist noch offen; übermorgen wird sie es vielleicht nicht mehr sein, und später – was später geschieht, wer kann das voraussehen? Wenn kein Entsatz kommt und die Vorräthe sind aufgezehrt, bleibt uns nichts übrig, als dem Feinde die Thore zu öffnen, und dann, Maria, stelle Dir vor, was dann geschieht! Der Rhein und die Grachten werden sich purpurn färben, denn viel Blut wird sich in sie ergießen, und sie werden einer Feuersbrunst sondergleichen zum Spiegel dienen. Wehe über die Männer, zehnfaches Wehe über die Frauen, gegen welche dann die Wuth des Siegers sich richtet. Und Du, Du – das Weib des Mannes, welcher Tausende zum Abfall von König Philipp bewogen hat, die Frau des Verbannten, der in diesen Mauern den Widerstand leitet . . .«

Maria hatte bei den letzten Worten die großen Augen weit geöffnet und unterbrach nun ihren Gemahl mit der Frage: »Willst Du prüfen, wie hoch mir der Muth steht?«

»Nein, Maria; ich weiß, daß Du treulich aushalten und wohl ebenso unverzagt wie Deine Schwester dem Tod in's Antlitz schauen würdest; aber ich, ich kann den Gedanken nicht tragen, Dich in die verfluchte Hand unserer Schlächter fallen zu sehen. Die Angst um Dich, die furchtbare Angst wird mir in den entscheidenden Stunden die rüstige Kraft zernagen, und darum muß es gesagt sein . . .«

Maria hatte ihrem Gatten bis dahin still zugehört; sie wußte, was er von ihr begehrte. Jetzt trat sie ihm näher und schnitt ihm das Wort ab, indem sie fest, ja in gebietendem Ton ausrief:

»Nicht weiter, nicht weiter, hörst Du! Ich ertrage kein Wort mehr!«

»Maria!«

»Still! Denn jetzt ist die Reihe an mir. Um der Angst zu entgehen, willst Du Dein Weib aus dem Hause stoßen; die Angst, sagst Du, würde Deine Kraft untergraben. Aber wird die Sehnsucht sie stärken? Wenn Du mich liebst, so bleibt sie nicht aus . . .«

»Ob ich Dich liebe, Maria!«

»Wohl, wohl. Aber das hast Du zu bedenken vergessen, wie es mir in der Verbannung zu Muthe sein wird, wenn ich Dich ebenso liebe. Ich bin Dein Weib. Wir haben einander vor dem Altare geschworen, daß nichts uns scheiden soll, als der Tod. Hast Du's vergessen? Sind Deine Kinder die meinen geworden? Hab' ich sie gelehrt, mich froh ihre Mutter zu nennen? Ja oder nein?«

»Ja, Maria, ja, ja, und hundertmal ja.«

»Und Du hast das Herz, mich der zehrenden Sehnsucht in die Arme zu werfen! Und Du willst mich hindern, den heiligsten der Schwüre zu halten? Du kannst es über Dich gewinnen, mich von den Kindern zu reißen? Du hältst mich für zu gering und zu schwächlich, Noth und Tod für die heilige Sache zu tragen, die die meine so gut ist wie die Deine! Du nennst mich gern Dein Kind, aber ich kann auch stark sein und, was nun auch komme, ich werde nicht weinen. Du bist der Mann und hast zu befehlen; ich bin nur die Frau und werde gehorchen. Soll ich gehen? Soll ich bleiben? Ich erwarte die Antwort.«

Sie hatte die letzten Worte mit bebender Stimme gesprochen, er aber rief in tiefer Bewegung:

»Bleib', bleib', Maria! Komm', komm', und vergib mir.«

Peter ergriff ihre Hand und rief noch einmal:

»Komm', komm'!«

Sie aber machte sich frei, trat von ihm zurück und sagte bittend:

»Laß mich, Peter; ich kann nicht; ich brauche Zeit, um das zu verwinden.«

Er ließ die Arme sinken und schaute ihr tief bekümmert in's Antlitz, sie aber wandte sich um und verließ schweigend das Zimmer.

Er folgte ihr nicht, sondern begab sich still in sein Arbeitsgemach und bemühte sich, Mancherlei, was sein Amt betraf, zu erwägen, aber die Gedanken kehrten stets zu Maria zurück. Seine Liebe bedrückte ihn wie eine Schuld, und er kam sich vor wie ein Eilbote, der die Blumen am Wege pflückt und bei diesem müßigen Thun die Zeit verzettelt und den Zweck seiner Sendung vergißt. Ihm war unsagbar schwer und wehe um's Herz, und es erschien ihm fast wie eine Erlösung, als kurz vor Mitternacht die Glocke vom Pankratiusthurm ihre Unheil kündende Stimme erhob. In der Noth, das wußte er, fühlte und dachte er nichts, als was die Pflicht von ihm heischte, und so nahm er denn auch mit erneuter Kraft den Hut vom Haken und verließ festen Schrittes das Haus.

Auf der Straße begegnete er dem Junker van Duivenvoorde, welcher ihn zu dem Hohenort'schen Thore berief, denn vor demselben waren wiederum Engländer erschienen; wenige und brave Männer, welche Alfen und die Gouda'sche Schleuse in heißem, blutigem Kampf so lange gegen die Spanier gehalten hatten, bis ihnen das Pulver ausgegangen war und die Noth sie gezwungen hatte, sich zu ergeben oder ihr Heil in der Flucht zu suchen. Der Bürgemeister folgte dem Kriegsmann und ließ den wackeren Soldaten die Thore öffnen. Es waren einige zwanzig, und unter ihnen der niederländische Hauptmann van der Laen und ein junger Offizier von deutscher Herkunft. Peter befahl, sie für diese Nacht im Rathhause und auf der Thorwache unterzubringen. Am andern Morgen sollten passende Quartiere für sie in Bürgerhäusern ausgesucht werden. Janus Dousa bat den Hauptmann, bei ihm vorlieb zu nehmen, der Deutsche kehrte im Gasthaus zum Wechsel ein. Allen wurde befohlen, sich am folgenden Mittag bei dem Bürgemeister zu melden, um sich die Herbergen anweisen und in Freiwilligenfähnlein einreihen zu lassen.

Auch den Frauen im van der Werff'schen Hause störte das Stürmen vom Pankratiusthurme die nächtliche Ruhe. Barbara suchte Maria auf, und erst nachdem sich Beide über die Ursache des Geläutes unterrichtet und Henrika beruhigt hatten, kehrten sie in ihre Gemächer zurück.

Die Bürgemeisterin konnte nicht schlafen. Ihres Gatten Vorsatz, sich während der drohenden Gefahr von ihr zu trennen, hatte ihr ganzes Wesen in Aufruhr versetzt und sie auf's Tiefste gekränkt. Sie fühlte sich herabgesetzt, und wenn auch nicht verkannt, so doch unerkannt von Dem, für den es sie freute, wenn sie ein hohes Streben und große Regungen in der eigenen Seele wahrnahm. Was frommt dem schönen Weib eines Blinden der Reiz seiner Formen; was nützte ihr der reiche, in ihrem Busen vergrabene Schatz, wenn er ihn nicht sehen und heben wollte! – »Zeig' ihm, sag' ihm, wie hoch dir der Sinn steht,« mahnte die Liebe; aber der weibliche Stolz rief dazwischen: »Dräng' ihm nicht auf, was er zu suchen verschmäht.« So zogen die Stunden an ihr vorüber und brachten ihr weder Schlaf noch Frieden, noch den Willen, die ihr angethane Demüthigung zu vergessen.

Endlich trat Peter in das Schlafgemach, behutsam und leise, um sie nicht zu wecken. Sie gab sich das Ansehen, im Schlaf zu liegen, aber mit den halb geschlossenen Augen konnte sie ihn sehen. Der Lichtschimmer fiel auf sein Antlitz, und die Falten, welche sie schon früher wahrgenommen hatte, lagen ihm als tiefe Schatten zwischen Auge und Mund. Sie prägten auf seine Züge den Stempel schwerer, schmerzlicher Sorge und erinnerten Maria an das »zu schwer«, und »wenn ich's nur trage«, welches er in der vergangenen Nacht aus dem Schlafe gerufen. Jetzt näherte er sich ihrem Lager und blieb hier lange stehen; sie aber sah ihn nicht mehr, denn sie hielt die Augen fest geschlossen, aber der Schimmer des ersten liebreichen Blickes, mit dem er zu ihr niedergesehen hatte, war ihr nicht entgangen. Er leuchtete vor ihrem inneren Auge fort, und sie meinte zu fühlen, daß er sie zärtlich betrachte und wie für ein Kind für sie bete.

Der Schlaf hatte ihren Gatten schon längst übermannt, als sie noch immer wach wie am Tage in die Morgendämmerung hineinsah. Um seiner Liebe willen mußte sie ihm wohl Vieles vergeben, aber die Demüthigung, welche sie erfahren hatte, konnte sie doch nicht vergessen. Ein Spielzeug, sagte sie sich, ein Kunstwerk, an dem man sich freut, bringt man in Sicherheit, wenn dem Hause Gefahr droht; die Axt und das Brod, das Schwert und den Talisman, welcher uns schützt, kurz, das, was wir nicht entbehren können zum Leben, das geben wir nicht aus der Hand bis an's Ende. Nothwendig, unentbehrlich war sie ihm nicht. Hätte sie ihm den Willen gethan und ihn verlassen, dann – ja dann . . .

Hier stockte der Strom ihrer Gedanken, denn zum ersten Male warf sich die Frage in ihr auf: »Hatte er deine helfende Hand, dein ermuthigendes Wort wirklich entbehrt?«

Beunruhigt wandte sie sich um, und das Herz schlug ihr ängstlich, als sie sich sagte, daß sie wenig gethan habe, um ihm seinen steinigen Pfad zu ebnen. Die dunkle Empfindung, daß ihm doch nicht die ganze Schuld zufalle, wenn sie kein volles Glück an seiner Seite gefunden, stieg beängstigend in ihr auf. Berechtigte ihn nicht gar ihr früheres Verhalten, eher Hinderung als Erhebung und Hülfe in den drohenden Tagen der schwersten Gefahr von ihr zu erwarten?

Von der tiefen Sehnsucht erfüllt, Klarheit über sich selbst zu gewinnen, setzte sie sich hoch in den Kissen auf und ließ ihr vergangenes Leben an sich vorüberziehen.

Ihre Mutter war in ihrer Jugend katholisch gewesen und hatte ihr oft, erzählt, wie frei und leicht ihr zu Muthe gewesen sei, wenn sie Alles, was ein Frauenherz beunruhigen mag, einem verschwiegenen Dritten anvertraut und aus dem Munde des Dieners der Gottheit die Versicherung erhalten habe, daß sie nun, sicher der Vergebung, ein neues Leben beginnen könne. »Wir haben's jetzt schwerer,« hatte ihr die Mutter vor der ersten Abendmahlsfeier gesagt, »denn wir Reformirten sind auf uns selbst und unsern Gott angewiesen, und mit ihm und uns sollen wir völlig im Reinen sein, ehe wir vor den Tisch des Herrn treten. Das ist freilich genug, denn wenn wir dem Richter in unserem eigenen Innern Alles offen und unbemäntelt bekennen, was uns, sei es in Gedanken, sei es in Thaten, das Gewissen beschwert, und es aufrichtig bereuen, so sind wir um der Wunden des Heilandes willen der Vergebung gewiß.«

Zu solcher stillen Beichte faßte Maria sich jetzt zusammen und prüfte streng und schonungslos ihr Verhalten. Ja, sie hatte viel zu unverwandt auf sich selbst gesehen, und viel verlangt und wenig gegeben. Die Schuld war erkannt, und nun sollte das Bessermachen beginnen.

Nach dieser Selbstschau wurde ihr wieder leicht um's Herz, und als sie sich endlich, um den Schlaf zu suchen, von dem dämmernden Morgenlicht abwandte, freute sie sich auf den liebreichen Gruß, welchen sie Peter am Morgen bieten wollte, aber bald darauf war sie entschlummert: als sie erwachte, hatte ihr Gatte das Haus längst verlassen.

Wie immer, so stellte sie auch heute vor jedem andern Geschäft die Ordnung in Peter's Arbeitszimmer her, und dabei warf sie einen freundlichen Blick auf das Bild der verstorbenen Eva. Auf dem Schreibtische lag die Bibel, das einzige, den Angelegenheiten seines Berufes fremde Buch, in dem ihr Mann zu lesen pflegte. Auch Barbara schöpfte bisweilen aus demselben Trost und Erhebung, aber sie benützte es auch als Orakel, denn bei offenen Fragen schlug sie es auf und wies mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle. Diese deutete sich meist von selbst, und was sie gebot, darnach pflegte sie gewöhnlich, wenn auch nicht immer, zu handeln. Auch heute war sie unfolgsam gewesen, denn auf ihre Frage, ob sie es wagen dürfe, jetzt noch an ihren Sohn, den Wassergeusen, trotz der die Stadt umzingelnden Spanier, einen Sack mit allerlei guten Dingen zu senden, hatte sie des Jeremias Worte zur Antwort erhalten: »Man wird ihnen die Hütten und Heerden nehmen, ihre Gezelte, alle Geräthe und Kameele werden sie wegführen.« Dennoch war der Sack in aller Frühe einer Wittwe anvertraut worden, die sich mit ihren heranwachsenden Töchtern, der Aufforderung des Rathes gemäß, nach Delft zu retten gedachte. – Die gute Gabe konnte doch wohl nach Rotterdam gelangen; hofft doch eine Mutter für ihr Kind immerdar auf ein Wunder.

Bevor Maria die Bibel an ihren alten Platz zurückstellte, schlug sie das dreizehnte Kapitel im ersten Briefe Pauli an die Korinther auf, welches über die Liebe handelt, und das ihr besonders werth war. Da stand geschrieben: »Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht,« und dann: »die Liebe verträgt Alles, sie glaubt Alles, sie hofft Alles, sie duldet Alles.«

Freundlich und langmüthig zu sein, Alles zu hoffen und Alles zu dulden, das war die Pflicht, welche die Liebe auch ihr auferlegte.

Als sie die Bibel geschlossen hatte und sich anschickte, zu Henrika zu gehen, führte Barbara Janus Dousa zu ihr hinein. Der junge Edelmann trug heute Harnisch und Halsberge und hatte weit eher das Aussehen eines Soldaten, als das eines Gelehrten oder Dichters. Er hatte Peter vergeblich auf dem Rathhause gesucht und gehofft, ihn in seinem Hause zu finden. Einer der an den Prinzen gesandten Boten war aus Dortrecht zurückgekehrt, und zwar mit einem Schreiben, welches den durch den Tod Allertssohn's erledigten Befehlshaberposten ihm übertrug. Er sollte nicht nur die Stadtsoldaten sondern die gesammte bewaffnete Macht kommandiren. Mit froher Bereitwilligkeit hatte er diese Berufung angenommen und bat Maria, dies ihrem Gatten zu künden. »Nehmt meinen Glückwunsch,« sagte die Bürgemeisterin. »Was wird aber nun aus Eurer Devise: Ante omnia Musae?«

»Ich verändere die Worte ein wenig und sage: Omnia ante Musas

»Verstehst Du das Kauderwälsch, Kind?« fragte Barbara. »Den Musen wird bis auf Weiteres der Laufpaß gegeben,« entgegnete Maria heiter.

Janus freute sich über die rasche Antwort und rief: »Wie froh und munter Ihr dreinschaut! In diesen ernsten Tagen sind sorgenfreie Gesichter seltene Vögel.«

Maria erröthete, denn sie wußte nicht, wie sie die Worte des Edelmanns, der mit seinem Spott den Tadel zu geben verstand, zu deuten habe, und entgegnete treuherzig: »Haltet mich nicht für leichtfertig, Junker. Ich kenne den Ernst dieser Tage, aber ich bin just mit einer stillen Beichte zu Ende gekommen und habe viel Arges in mir gefunden, aber auch den Willen, Löblicheres an seine Stelle zu setzen.«

»Seht, seht,« gab Janus zurück. »Ich weiß ja längst, daß Ihr in der Delfter Schule mit meinen Alten Freundschaft geschlossen. ›Erkenne dich selbst‹, war die vornehmste Lehre der Griechen, und Ihr folget ihr weislich. Jede stille Beichte, jedes Verlangen nach innerer Läuterung muß doch mit dem Vorsatz, sich selbst zu erkennen, beginnen, und wenn man dabei auf Dinge stößt, welche dem lieben Ich zur Unzier gereichen, und man hat den Muth, sie an sich selbst so häßlich wie an Anderen zu finden . . .«

»Dann kommt der Abscheu von selbst, und man hat die erste Stufe zum Besserwerden betreten.«

»Nein, werthe Frau, dann steht man schon auf einer der höheren Staffeln. Nach stundenlangem, tiefem Denken erkannte Sokrates, wißt Ihr auch was?«

»Daß er gar nichts wisse. Ich bringe es schneller fertig, zu dieser Erkenntniß zu gelangen.«

»Und der Christ lernt das schon in der Schule,« sagte Barbara, um sich auch an dem Gespräch zu betheiligen. »Alles Wissen ist Stückwerk.«

»Und wir sind allesammt Sünder,« fügte Janus hinzu. »Das spricht sich leicht aus, liebe Mutter, und man versteht das auch leicht, wenn man die Anderen betrachtet. ›Er ist ein Sünder‹ ist schnell gerufen, aber ›ich bin ein Sünder‹, das geht schwer über die Lippen; und wer es sich im stillen Kämmerlein mit Schmerzen zuruft, bei dem mischen sich schon in die schwarzen Teufelsflügel die weißen Federn der Engelsschwingen. Verzeiht! Daß sich doch in diesen Tagen Alles, was man denkt und sagt, in schweren Ernst verwandelt. Mars ist da, und die heiteren Musen schweigen. Grüßt Euren Gatten und sagt ihm noch, die Leiche des Hauptmanns Allerts sei eingebracht, und die Bestattung auf morgen anberaumt worden.«

Der Junker verabschiedete sich, und Maria sandte, nachdem sie ihre Pflegebefohlene besucht und sie wohl und heiter gefunden hatte, Adrian und Lieschen in den Garten vor der Stadtmauer, um Blumen und Laub zu pflücken, die sie dann mit ihnen zu Kränzen für den Sarg des braven Gefallenen winden wollte. Sie selbst begab sich zu der Wittwe des Hauptmanns.


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