Georg Ebers
Ein Wort
Georg Ebers

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Einunddreißigstes Kapitel

In der Schmiede war das Feuer erloschen, kein Hammer fiel auf den Amboß; denn der Verwundete lag in heißem Fieber; und jedes laute Geräusch tat ihm weh. Das hatte Adam selbst bemerkt, und er gönnte sich keine Zeit zum Schaffen, denn er hatte bei der Pflege des Sohnes zu helfen, wenn es not tat, den schweren Körper aufzurichten und Ruth abzulösen, wenn ihr nach langen Nachtwachen die rüstige Kraft erlahmte.

Der Alte sah ein, daß des Mädchens Hände pflegsamer seien als seine gehärtete Faust, und er ließ sie walten – aber die Stunden, in denen sie in ihrer Kammer ausruhte, waren ihm doch die liebsten, denn dann war er mit seinem Ulrich allein, dann durfte er ungestört in dem Antlitz des Mannes lesen und sich an jedem Zuge erfreuen, der ihn an die Knabenzeit seines Kindes und an Flora erinnerte.

Oftmals drückte er die bärtigen Lippen auf die heiße Stirn oder die schlaffe Hand des Kranken, und wenn der Arzt mit bedenklicher Miene fortgegangen war, kniete er vor dem Lager Ulrichs nieder und drückte die Stirn in die Kissen und bat den Vater im Himmel inbrünstig, sein Kind zu erhalten und sein eigenes altes Leben und alles, was sein war, dafür zu nehmen.

Oft glaubte er, nun sei das Ende gekommen, und überließ sich widerstandslos seinem Schmerz; Ruth dagegen verlor nie die Hoffnung, auch nicht in den bedrohlichsten Stunden. Gott hatte sie Ulrich nicht finden lassen, nur um ihn ihr wieder zu nehmen. Das Ende der Gefahr war für sie schon der Anfang der Rettung. Als er sie zum erstenmal erkannte, sah sie ihn bereits, auf ihre Schulter gestützt, durch die Zimmer wandeln, wie er sich aufrichten konnte, hielt sie ihn für genesen.

Ihr Herz war so übervoll, und doch blieb auch ihr Geist bei der langen und schweren Pflege wach und besonnen.

Sie vergaß nicht das Kleinste; denn was sie zu verrichten hatte, sah sie, bevor sie es angriff, mit jeder Einzelheit vor sich, als habe sie es schon vollendet.

Keine Speise, die sie nicht mit eigener Hand bereitet, kein Trunk, den sie nicht selbst aus dem Keller oder vom Brunnen geholt, wurde von ihm genossen. Sie empfand ihm vor, was ihn störte, was ihm behagte und fehlte. Wenn sie den Vorhang öffnete oder schloß, gewährte oder entzog sie ihm nicht mehr Licht, als ihm genehm war, wenn sie die Kissen hinter ihm ordnete, legte sie ein jedes weder zu hoch noch zu niedrig, und wie ein erfahrener Arzt verband sie mit sanfter und dennoch fester Hand seine Wunden. Was er empfand: Schmerz oder Wohlsein, sie fühlte es mit ihm.

Nach und nach schwand das Fieber, kehrte ihm die Besinnung zurück, verminderten sich die Schmerzen, vermochte er sich wieder zu regen, begann er sich kräftiger zu fühlen.

Anfänglich wußte er nicht, wo er sich befand; dann erkannte er Ruth, und dann auch den Vater.

Wie still, wie dämmerig, wie rein war alles, was ihn umgab! Wunderbare Ruhe umfing ihn, süße Mattigkeit beschwichtigte jede stürmische Regung seines Herzens. So oft er die Augen aufschlug, begegneten ihm zärtliche, sorgende Blicke. Selbst wenn der Schmerz sich erneute, genoß er stilles, tröstliches Seelenglück. Auch das fühlte sie und empfand es als einen Lohn sondergleichen.

Wenn sie mit neuem Linnen in das Krankenzimmer trat und der Lavendelgeruch, der ihrer verstorbenen Mutter angenehm gewesen war, wallte ihm leis von der frischen Wäsche entgegen, meinte er, seine Knabenzeit habe sich erneuert, und das Haus des Doktors, der freundliche, weise Mann, Frau Elisabeth, der schattige Tannenwald der Heimat, die murmelnden Bäche und saftigen Wiesen traten wieder vor seine Seele, und er sah sich mit Ruth den Vögeln lauschen. Beeren lesen, Blumen pflücken und von dem »Worte« schöne Gaben erbitten. Der Vater war nicht nur wie damals, nein, noch freundlicher, liebevoller, besorgter. Aus dem Manne ward wieder der Knabe, und alles, was gut in ihm gewesen, wuchs nun frisch auf unter dem hellen Licht und belebenden Tau der Liebe.

Er empfand das unermüdliche Walten Ruths mit heißem Dank, und wenn er ihr in die treuen Augen schaute, wenn ihre Hand ihn berührte, wenn ihre weiche, tiefe Stimme ihm in die Seele drang, dann erfüllte ihn ein Wohlgefühl ohnegleichen.

Alles, das Kleinste wie das Größte, umfaßte seine Seele mit den Armen der Liebe. Es war ihm, als reiche das warme Verlangen seines Herzens weit über die Erde hinaus, und bald erhob es sich auch zu Gott, der das All mit seiner ewigen Vaterliebe erfüllt. Jeder seiner Atemzüge, meinte Ulrich, müsse von nun an ein Gebet sein, ein Gebet des Dankes zu dem, der die Liebe selbst ist, die Liebe, durch die und in der er lebte.

Er hatte Liebe gesucht, um sich ihrer Gaben zu freuen, jetzt tat es ihm wohl, aus Liebe Opfer zu bringen. Er sah, wie das schöne Antlitz Ruths sich kummervoll trübte, wenn Schmerzen ihn quälten, und nun verbarg er mit männlicher Willenskraft unsägliche Pein unter einem dankbaren Lächeln. Er gab sich das Ansehen, zu schlafen, um ihr und dem Vater Ruhe zu gönnen, und wenn er von fieberiger Ungeduld erfaßt war, lag er still und regte sich nicht, um die geliebten Pfleger zufrieden zu stellen und ihre Sorgfalt zu lohnen. Die Liebe trieb ihn an, gut zu sein, und gab ihm Kraft zu allem, was gut ist.

Die Genesung schritt vorwärts, und als er das Lager verlassen durfte, führte ihn der Vater erst durch das Zimmer und dann die Treppe hinunter in den Hof. Manchmal fühlte er mit stiller Rührung, wie der Alte ihm die Hand, die auf seinem Arm ruhte, streichelte, und wenn er erschöpft in das Krankenzimmer zurücktrat, ließ er sich dankerfüllt in den bequemen Sitz nieder und warf einen freundlichen Blick auf die Blumen, die Ruth von ihrem Kammerfenster genommen und neben ihm auf den Tisch gestellt hatte.

Die Seinen wußten nun, was er erlebt und erfahren, und für alles, was dem Schmied noch vor wenigen Monaten sündhaft und unverzeihlich erschienen war, hatte er jetzt ein begütigendes, beruhigendes Wort.

Während eines solchen Gespräches rief Ulrich einmal:

»Der Krieg! Du weißt nicht, wie das mit sich fortreißt; es ist ein Spiel mit dem Leben. Das der anderen wird einem so wenig wert, wie das eigene; jedem das Schlimmste antun, ist da die Parole; aber jetzt – jetzt ist es hier drinnen so still geworden, und mir graut vor dem Treiben im Felde. Gestern sprach ich mit Ruth von ihrem Vater, und sie hat mich an seinen Lieblingsspruch erinnert, den ich lange vergaß. Weißt du, wie er lautet? »Niemand etwas antun, das uns selber kränken würde.« Ich bin nicht grausam gewesen, und aus Gefallen am Töten hab' ich das Schwert niemals gezogen; aber es schmerzt mich jetzt, daß ich so vielen wehe getan! Wie ist es in Haarlem hergegangen! Wenn ihr nun statt nach Antwerpen dorthin gezogen wäret, und du und Ruth ... Ich darf an das alles nicht denken! In mancher schlaflosen Stunde quälen mich die Erinnerungen von damals, und vieles erfüllt mich mit bitterer Reue. Aber ich darf ja noch leben, und es ist mir, als sei ich neu geboren und als müsse von nun an Leben und Gutestun eins für mich sein. Gewiß, du hattest recht, mir zu zürnen ...«

»Vergeben, vergessen,« unterbrach ihn der Schmied mit volltönender Stimme und drückte ihm die Hand mit der harten Rechten.

Diese Worte wirkten wie kräftige Arznei auf den Genesenden, und als sich in der Schmiede die Hämmer wieder regten, da wollte Ulrich das müßige Leben nicht mehr behagen, und er begann mit Ruth in die Zukunft zu schauen und über künftige Zeiten zu reden.

»Die Worte: Glück, Ruhm, Macht,« sagte er einmal, »haben mich alle betrogen; aber die Kunst! Du weißt nicht, Ruth, was die Kunst ist! Alles gewährt auch sie nicht, aber doch viel, sehr viel. Meister Moor, das war ein Lehrer! Ich bin zu alt, um noch einmal von vorn zu beginnen. Wenn das nicht wäre ...«

»Nun, Ulrich?«

»Dann möcht ich's wieder mit dem Malen versuchen.«

Das Mädchen sprach ihm Mut ein und erzählte dem Vater von ihrem Gespräch. Da zog der Schmied das Sonntagshabit an und ging in das Haus des Malers. Der war in Brüssel, aber man erwartete ihn bald zurück.

Von nun an begab sich Adam an jedem dritten Tage in den guten Kleidern, die er sonst nur ungern antat, zu dem Künstler; aber immer vergebens.

Im Februar saß der Genesende mit Ruth beim Schachspiel, das sie von dem Schmiede und Ulrich von ihr erlernt hatte. Da trat Adam ins Zimmer und sagte: »Wenn das Spiel beendet ist, hab' ich mit dir zu reden, mein Sohn.«

Das Mädchen war im Vorteil, aber sie warf sogleich die Figuren zusammen und ließ die beiden allein.

Sie wußte wohl, was der Vater im Sinn trug, denn gestern hatte er allerlei Malergerät nach Hause gebracht und ihr befohlen, das Giebelstübchen mit dem großen Fenster, das nach Norden schaute, herzurichten und die Staffelei und die Farben hinauszuschaffen. Dabei hatten sie einander nur angelächelt; aber sie verstanden sich längst auch ohne Worte.

»Was gibt es?« fragte Ulrich erstaunt.

Da eröffnete ihm der Meister, was er besorgt und angeordnet hatte, und fuhr dann fort: »Das Bild auf der Standarte – du sagst, du hättest es selber gemalt.«

»Ja, Vater.«

»Es war deine Mutter, ganz so wie damals ... Sie hat nicht recht an uns beiden gehandelt. – Aber sie! – Der Christ soll vergeben; – und weil sie doch deine Mutter war – so – möchte ich wohl ... Vielleicht ist es nicht möglich; aber wenn du ihr Bild malen könntest, nicht als Madonna, nur so wie sie als junge Meisterin aussah ...«

»Ich kann's, ich werde es können!« rief Ulrich freudig erregt. »Führ mich hinauf. Ist die Leinwand fertig?«

»Am Rahmen, fest auf dem Rahmen! Ich bin ein alter Mann und ... Siehst du, Kind, ich weiß wohl noch, wie wunderhold deine Mutter war; aber es glückt mir nimmer, mir so recht vorzustellen, wie sie damals ausgesehen hat. Versucht hab' ich es freilich, tausend- und abertausendmal hab' ich's versucht: am Richtberg und hier und überall – so groß auch mein Groll war!«

»Du sollst sie wiedersehn, gewiß – gewiß!« unterbrach ihn Ulrich. »Ich sehe sie vor mir, und was ich hier drinnen schaue, das kann ich auch malen!«

Das Werk wurde noch am nämlichen Tage begonnen. Es ging Ulrich wunderbar von der Hand, und er legte all die reiche Liebe hinein, von der sein Herz nun erfüllt war.

So freudig hatte er noch nie den Pinsel geführt. Mit diesem Bilde wollte er geben, nur geben – dem teuren Manne das Beste geben, was er vermochte, und so gelang es.

In bürgerlicher Tracht stand die junge Meisterin da, mit herzgewinnenden Augen und einem wehmutvollen, halb wonnigen, halb betrübten Lächeln am Munde.

Adam durfte die Werkstätte erst wieder betreten, als das Bildnis vollendet war, und wie Ulrich endlich das Tuch von der Leinwand zog, wußte sich der alte Mann nicht zu halten und brach in lautes Schluchzen aus und fiel dem Sohne um den Hals, und es war ihm, als habe er dem lieblichen Wesen dort in dem goldenen Rahmen nicht zu grollen und zu verzeihen, sondern für viele selige Stunden zu danken.

Bald darauf traf Adam Moor zu Hause, und wenige Stunden später führte er Ulrich ihm zu. Das gab ein frohes und doch ernstes Wiedersehen, dem bald ein zweites im Hause des Schmiedes folgte.

Moor betrachtete dort Ulrichs Werk lange und mit prüfenden Blicken. Als er genug gesehen hatte, reichte er dem Schüler die Hand und sagte warm:

»Ich hab' es immer gesagt: du bist ein Maler! Von morgen ab arbeiten wir wieder täglich zusammen, und mit dem Pinsel wirst du schönere Siege erkämpfen als mit dem Schwerte.«

Die Wangen Ulrichs glühten vor Glück und Stolz. So hatte ihn Ruth noch niemals gesehen, und wie sie ihm freudig in die Augen blickte, streckte er ihr beide Hände entgegen und rief: »Ein Maler, wieder ein Maler! Oh, wär' ich's immer geblieben! Nun fehlt mir nur eins noch; – und das bist du!«

Da flog sie ihm an die Brust und rief jubelnd: »Dein, dein! Ich bin es ja immer gewesen und will es auch bleiben, heute, morgen, bis in den Tod, immer und ewig!«

»Ja, ja!« entgegnete er mit ernstem Gefühl. »Unsere Herzen sind eins und bleiben es ewig, und nichts kann sie scheiden; aber dein Schicksal wird nicht eher an das meine gekettet, bis Moor mich selbst einen Meister nennt. Die Liebe stellt keine Bedingung, ich halte dich, und du bist mein; – aber ich lege die Probe mir selbst auf, und diesmal, das weiß ich, wird sie bestanden!«

Ein neuer Geist beseelte den Schüler. Mit unermüdlichem Fleiß stürzte er sich auf die Arbeit, und auch das Schwerste wurde ihm leicht, wenn er des Preises gedachte, um den er warb. Nach einem Jahre entließ ihn Moor aus der Lehre, und Ruth ward das Weib des Meisters Ulrich Schwab.

Die berühmte Malerzunft von Antwerpen zählte ihn bald mit Stolz zu den Ihren, und seine Gemälde werden heute noch von den Kennern hoch geschätzt, aber man schreibt sie anderen Meistern zu, denn er hat kein Werk mit seinem Namen bezeichnet.

Von den vier Worten, die ihm auf der Bahn des Lebens als Leitstern vorangeleuchtet, hatte er Ruhm und Macht gering schätzen gelernt; Glück und Kunst blieben ihm treu, aber wie die Erde nicht aus eigener Kraft leuchtet, sondern ihr Licht von der Sonne erhält, empfingen sie Glanz, Reiz und beständige Kraft durch die Liebe.

Der wilde Eletto, dessen Schwert im Kriege gewütet, wurde ein gütiger Menschenfreund im Sinne der reinen Lehre Christi und seines edlen Lehrers.

Mit stillem Entzücken hat mancher das herrliche Gemälde gesehen, das eine schöne, sinnig heitere Mutter darstellt, die ihre blühenden Kinder einem freundlichen Greise zuführt, der ihnen die Arme entgegenstreckt. Der Alte ist Adam, die Mutter Ruth, die Kinder sind die Enkel des Waffenschmieds; Ulrich Schwab hat es gemalt.

Meister Moor entschlummerte bald nach der Vermählung Ulrichs, und einige Jahre später kam Sofonisba di Moncada nach Antwerpen, um das Grab des geliebten Mannes aufzusuchen.

Sie wußte von dem Verstorbenen, daß er seinen lieben Madrider Schüler wiedergefunden, und diesem galt ihr erster Besuch.

Nachdem sie seine Werke betrachtet hatte, rief sie freudig:

»Das Wort! Wißt Ihr noch, Meister? Ich sagte Euch damals schon, daß Ihr das rechte gefunden. Ihr habt Euch sehr verändert, sehr, und es ist schade um Eure wallenden Locken; aber Ihr seht dennoch aus wie ein glücklicher Mann, und wem verdankt Ihr's? Dem Worte, dem einzig rechten Worte: der Kunst!«

Er ließ sie zu Ende reden, dann aber entgegnete er ernst:

»Es gibt noch höheres Wort, edle Dame! Wer das voll und ganz sein nennt, der ist wohl aufgehoben und braucht nicht länger zu irren, zu suchen, zu zweifeln.«

»Und das hieße?« fragte sie abweisend und mit einem überlegenen Lächeln.

Er aber entgegnete fest: »Ich hab' es gefunden; es heißt: die Liebe

Da neigte sie das Haupt und sagte wehmütig und leise: »Ja, ja – die Liebe


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