Georg Ebers
Ein Wort
Georg Ebers

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Siebentes Kapitel

Der Herbst war gekommen. Im Schulgarten flatterten gelbe Blätter umher, auf dem Kirchendach sammelten sich die Stare zum Aufbruch, und Ulrich wär' am liebsten mit ihnen fortgezogen, gleichviel wohin. Er konnte nicht heimisch werden im Kloster und unter seinen Genossen. Was er auf dem Richtberge immer gewesen, der Erste, war er hier selten, und am seltensten in der Schule, denn sein Vater hatte dem Doktor gewehrt, ihn Latein zu lehren, und darum war er der Letzte von allen.

Oft saß der arme Schelm, wenn alles schlief, bei der ewigen Lampe im Vorhaus und lernte, aber es ging nicht, er kam den andern nicht nach; und die üble Empfindung, trotz der redlichsten Mühe zurückzubleiben, verdarb ihm das Dasein und machte ihn reizbar.

Die Kameraden schonten ihn nicht, und wenn sie ihn »Pferdeknecht« nannten, weil er dem Pater Benediktus oft helfen mußte, störrige Gäule zur Vernunft zu bringen, geriet er in Wut und gebrauchte seine überlegene Kraft.

Am schlechtesten stand er mit dem schwarzen Xaver, dem er den üblen Namen verdankte.

Der Vater dieses Knaben war Oberamtmann oder Vogt im Städtchen, und es wurde ihm zu Michaelis gestattet, den Sohn mit nach Hause zu nehmen.

Als der Schwarze zurückkam, wußte er über Ulrichs Eltern mancherlei zu erzählen, was er halbverstandenem Hörensagen entnahm. Nun fielen Worte, die Ulrich das Blut in die Wangen trieben und die er doch geflissentlich überhörte, weil er ihnen nicht zu widersprechen wagte, denn sie konnten wohl wahr sein. Er wußte recht gut, wer den anderen dies alles zugetragen, und darum erwiderte er die tückische Abneigung Xavers mit offener Feindschaft.

Graf Lips kümmerte sich nicht um das alles. Er blieb Ulrichs bester Kumpan und ließ sich auch gern von ihm zu den Rossen mitnehmen. Sein lebhafter Geist kam dem Handwerkerssohne froh entgegen, wenn er ihm von den Phantasiegebilden Ruths erzählte, und oft sonderte er sich mit Ulrich von den Kameraden ab, wenn sie sich auf dem Spielplatz ergingen; aber gerade diesen Umstand mochten viele, welche sonst dem vornehmen Knaben näher gestanden, dem Neuling ungern verzeihen.

Der Städter Xaver war dem Grafensohne nie hold gewesen, und es gelang ihm, manche gegen ihren früheren Liebling aufzubringen, weil er sich besser dünke als sie, und mehr noch gegen Ulrich, der ein halber Knecht sei und sich herausnehme, sie zu meistern und ihnen Gewalt anzutun.

Die in der Schule beschäftigten Patres bemerkten bald, wie übel der neue Zögling mit den Genossen stand, und es fehlte nicht an Gründen, bedenklich die Köpfe über ihn zu schütteln.

Benediktus hatte nicht verschweigen können, wer Ulrichs Lehrer auf dem Richtberg gewesen, und was der Jude in den Knaben gepflanzt, das schien ärgerliche Früchte zu tragen.

Pater Hieronymus, welcher die Schüler in der Religion unterwies, geriet außer sich, wenn er auf die verderblichen Lehren zu reden kam, die in dem Kopfe des neuen Schülers spukten.

Als er bald nach Ulrichs Aufnahme in die Schule von dem Erlösungswerk Christi gesprochen und den Knaben gefragt hatte: »Wovon soll denn die Welt durch die Leiden des Heilands befreit werden?« war die Antwort erfolgt: »Von dem Übermut der Großen und Reichen.«

Hieronymus hatte von den heiligen Sakramenten gehandelt und die Frage gestellt: »Wodurch kann der Christ sicher Gnade erwerben, wenn anders er ihr nicht den Riegel vorschiebt, das heißt eine Todsünde begeht?« und die Antwort Ulrichs hatte gelautet: »Wenn wir niemand etwas antun, was uns selbst kränken würde.«

Solche seltsame Worte gab es zu Dutzenden aus dem Munde des Knaben zu hören. Die einen sprach er dem Hangemarx, die anderen dem Doktor nach, und wenn er gefragt wurde, woher er sie habe, nannte er immer nur diesen, denn die Patres durften nichts von seinem Verkehr mit dem Wilddiebe wissen.

Nun gab es für manches Wort, das er für schön und gottgefällig gehalten, scharfe Verweise und harte Bußen, und die arme, beängstigte junge Seele wußte sich oft keinen Rat in ihrer Not.

An den lieben Gott und den Heiland, die er gelästert haben sollte, mochte er sich nicht wenden, denn ihm bangte vor ihnen; aber wenn er nicht aus noch ein wußte vor Herzenspein und Entmutigung und drängender Sehnsucht, dann bat er die Madonna um Hilfe.

Das Bild der unglücklichen Frau, über die er nur böse Worte gehört hatte, die ihn verlassen und deren Untreue den anderen Knaben ein Recht gab, ihn zu verspotten, verschwand vor seinen Augen mit dem der reinen, heiligen Jungfrau in der Kirche, das Pater Lukas aus Welschland heimgebracht hatte.

Trotz aller Klagen, die dem Abt über ihn zugetragen wurden, hielt er ihn für einen irregeleiteten, aber vielverheißenden, guten Knaben, und in dieser Ansicht wurde er von dem Musikmeister und dem Maler Lukas bestärkt, deren bester Schüler er war; aber auch sie zeigten sich empört über den Juden, der dies schön begabte Kind auf den Weg zum Verderben gelockt hatte, und trieben den Abt, der nichts weniger als ein Eiferer war, häufig an, ihn einem peinlichen Verhör unterziehen zu lassen.

Im November wurde der Oberamtmann berufen und von den Irrlehren in Kenntnis gesetzt, mit denen der Hebräer die Seele eines Christenkindes gefährdet.

Der weise Abt wünschte in dieser Zeit des Widerstandes gegen die Macht der Kirche alles zu vermeiden, was Aufsehen erregte, aber der Vogt nahm für sich das Recht in Anspruch, gegen den Doktor einzuschreiten. Freilich, sagte er, müßten erst gültige Beweise gegen den Angeklagten herbeigebracht werden. Pater Hieronymus möge die lästerlichen Sätze, die er aus des Knaben Munde vor Zeugen vernommen, aufzeichnen, und in der Adventzeit würden der Schmied und sein Bube verhört werden müssen.

Der Abt, der am liebsten still bei seinen humanistischen Studien verweilte, war froh, diese Angelegenheit in der Hand der weltlichen Obrigkeit zu wissen, und schärfte Hieronymus Aufmerksamkeit ein.

Am dritten Adventsonntage kam der Vogt wiederum ins Kloster. Seine Gäule hatten sich mit dem Schlitten mühsam durch den hohen Schnee in dem Schluchtweg durchgearbeitet, und halb erstarrt ließ er sich zunächst in das Refektorium führen und fragte dort nach seinem Sohne.

Der lag mit einem verbundenen Auge in dem kalten Schlafsaal, und als der Vogt ihn aufsuchte, hörte er, daß Ulrich ihn mißhandelt habe.

Es hätte der bitteren Anklagen Xavers nicht bedurft, um seinen Vater aufs heftigste gegen den gewalttätigen Buben aufzubringen, und der Vogt gab sich keineswegs zufrieden, als er erfuhr, daß der Übeltäter auf mehrere Wochen von den Spielen der anderen ausgeschlossen und auf schmale Kost gesetzt worden sei. Entrüstet begab er sich zu dem Abte.

Gestern am Samstag war Ulrich um Mittag ohne den jungen Grafen, der wegen einer Untat im Verschluß saß, auf den verschneiten Spielplatz gekommen und dort von Xaver und einem Dutzend Kameraden überfallen, in einen Schneehaufen gestoßen und beinahe erstickt worden. Die Verschworenen hatten ihm Eisstücke und Schnee auf die warme Haut in die Kleider gestopft, ihm die Schuhe von den Füßen gezogen und sie mit Schnee gefüllt, und dabei war Xaver ihm auf den Rücken gesprungen und nicht müde geworden, sein Gesicht in den Schnee zu drücken, bis er den Atem verloren und geglaubt hatte, sein letztes Stündchen sei nahe.

Mit dem Aufgebot der letzten Kraft war es ihm geglückt, seinen Peiniger abzuwerfen und ihn festzuhalten.

Während die anderen sich aus dem Staube gemacht hatten, war es ihm vergönnt geblieben, seine Wut an dem Sohn des Vogtes erst mit den Fäusten und dann mit dem schweren Schuh, der neben ihm lag, nach Herzenslust auszulassen. Dabei waren ihm von allen Seiten Schneebälle auf den Leib und an den Kopf geflogen, und das hatte seinen Zorn gesteigert, und sobald Xaver sich nicht mehr unter ihm wehrte, war er aufgesprungen und hatte mit glühenden Wangen und hoch erhobenen Fäusten gerufen: »Wartet nur, wartet, ihr schlimmen Gesellen! Der Doktor drunten am Richtberg, der kennt ein Wort. Mit dem soll er euch allesamt in Kröten und Ratten verzaubern, ihr bösen Schelme!«

Diese Rede hatte Xaver wohl behalten und sie dem Vater fein ausstaffiert mit manchem erlogenen Worte wiedererzählt.

Der Abt nahm die Klage des Vogtes ruhig auf. Der empörte Vater war für ihn kein gültiger Zeuge, doch diese Sache schien ihm immerhin wichtig genug, um, obgleich das Konvikt schon begonnen, Ulrich holen zu lassen und ihn ins Verhör zu nehmen. Der Jude hatte wirklich von dem Zauberworte zu seiner Tochter geredet und der Klosterschüler die Kameraden mit demselben bedroht. So mochte denn die Untersuchung beginnen.

Ulrich wurde in die Strafkammer zurückgeführt. Dort wartete seiner ein dünnes Süppchen und Brot; aber er rührte beides nicht an. Essen und Trinken war ihm verleidet, und auch mit der Arbeit und dem Stillesitzen wollt' es nicht gehen.

Nun ließ sich zu ungewöhnlicher Stunde das Glöckchen vernehmen, das alle Klosterbewohner zusammenrief, und um die Vesperzeit zog ihn Schellengeläut ans Fenster. Der Abt und Pater Hieronymus sprachen leise mit dem Vogt, welcher sich anschickte, in den Schlitten zu steigen.

Sie redeten über ihn und den Doktor, und vorhin waren die Schüler zusammengerufen worden, um gegen ihn zu zeugen. Das hatte ihm keiner gesagt, aber er wußte es, und es überfiel ihn solche Angst um den Doktor, daß ihm der helle Schweiß auf die Stirne trat.

Es kam ihm klar ins Bewußtsein, daß er die Worte des Lehrers mit den Lästerreden des Wilddiebs zusammengeworfen und daß er auch sie dem Vater Ruths in den Mund gelegt hatte.

Er war ein Verräter, ein Lügner, ein elender Schelm!

Er wollte zum Abt und ihm alles bekennen, aber er wagte es doch nicht, und so schlichen die Stunden dahin bis zur Abendmesse.

In der Kirche versuchte er zu beten, nicht nur für sich, sondern auch für den Doktor, aber er fand keine Andacht, denn er konnte nur an das Gericht denken, und während er mit den Händen vor den Augen auf den Knien lag, sah er den Juden vor sich in Ketten und Banden und sich selbst im Verhör auf dem Rathaus.

Endlich nahm die Messe ein Ende.

Er stand auf, und gerade vor ihm hing das große Kruzifix, und der Heiland am Kreuze, der sonst mit dem auf die Seite geneigten Haupt so sanft und leidend zu Boden schaute, schien ihn heute strafend und klagend zugleich anzublicken.

Im Schlafsaal mieden ihn die Kameraden, als sei er verpestet, aber er bemerkte es kaum.

Durch die kleinen Fenster drang in hellem Glanz das Mondlicht und der Schneeschein; er aber sehnte sich nach tiefem Dunkel und drückte den Kopf in die Kissen.

Da schlug die Turmuhr zehn.

Er richtete sich auf und lauschte auf die tiefen Atemzüge der Schläfer zu seiner Rechten und Linken und das Nagen der Mäuse unter den Betten.

Das Herz pochte ihm immer schneller und banger, aber plötzlich war es ihm, als stehe es still, denn eine leise Stimme hatte seinen Namen gerufen.

»Ulrich!« flüsterte es noch einmal, und der junge Graf, welcher neben ihm ruhte, richtete sich auf und neigte sich zu ihm.

Ulrich hatte ihm von dem Worte erzählt und sich mit ihm, wie sonst mit Ruth, gar häufig in Wünschen ergangen. Nun flüsterte Philipp ihm zu:

»Sie gehen dem Doktor zu Leibe. Der Abt und der Vogt haben uns ausgefragt, als ging es auf Leben und Tod. Was ich von dem Worte weiß, hab' ich fein für mich behalten, denn mich dauert der Jude, aber der Xaver, der tückische Schalk, hat das Ding so gewandt, als ob du den Zauber wirklich besäßest, und vorhin ist er zu mir gekommen und hat mir verraten, daß sein Vater morgen früh den Juden greifen lasse, und dann würd' er gefoltert. Ob sie ihn hängen oder brennen, das ist noch die Frage. Um sein Leben soll es sicher geschehen sein, das sagt sein Vater; und der Schwarze hat sich darüber gefreut.«

»Silentium turbatores!« rief die verschlafene Stimme des wachhaltenden Paters, und beide Knaben zogen sich schnell in die Federn zurück und regten sich nicht.

Der Junker war bald wieder entschlummert, Ulrich aber vergrub den Kopf noch tiefer in die Kissen, und es war ihm, als sähe er das milde, sinnige Antlitz des freundlichen Mannes, von dem er so viel Liebes erfahren, und als blicke es ihn vorwurfsvoll an, und dann erschien ihm die stumme Frau vor dem inneren Auge, und es war ihm, als striche ihre weiche Hand wie sonst liebkosend über seine Wange, und auch Ruth erschien ihm, aber sie hatte nicht das gelbseidene, sondern ein fadenscheiniges Bettlerkleid an, und sie weinte und verbarg den Kopf in dem Schoß der Mutter.

Da stöhnte er laut auf. Die Uhr schlug elf. Er erhob sich und lauschte, und als sich nichts regte, schlüpfte er in die Kleider und nahm die Schuhe in die Hand und versuchte das Fenster am Kopfende seines Bettes zu öffnen. Es hatte bei Tage offen gestanden, aber der Frost hielt es doch fest am Rahmen. Ulrich stemmte den Fuß an die Wand und zog mit aller Kraft, aber es widerstand einem Ruck nach dem anderen; doch endlich, plötzlich gab es nach und flog auf. Ein leises Krachen, Knacken und Klirren hatte sich erhoben, aber der Wachthabende war nicht munter geworden, sondern murmelte nur leis aus dem Schlafe.

Mit angehaltenem Atem blieb der Knabe eine Weile regungslos stehen, dann schwang er sich auf die Brüstung und schaute ins Freie. Der Schlafraum lag im zweiten Stockwerk des Klosters über dem Walle, doch ein breiter Schneehaufen erhob sich neben der Schutzmauer, und das stärkte ihm den Mut.

Mit fliegenden Fingern schlug er ein Kreuz, ein leises »Maria, bitte für mich!« klang von seinen Lippen, dann schloß er die Augen und wagte den Sprung.

Es sauste und brauste ihm vor den Ohren, das Bild seiner Mutter verschwamm in bunter Verzerrung mit dem des Juden, und dann verschlang ihn ein eisiges Meer, und es war ihm, als ob ihm Leib und Seele erstarrten. Aber nur wenige Augenblicke beherrschte ihn diese Empfindung, dann arbeitete er sich aus der Schneemasse heraus, zog die Schuhe an seine Füße und jagte, als ob ihn ein Rudel Wölfe verfolge, in die Nacht hinein, den Berg hinunter, durch den Kohlweg, über die Höhe und endlich den Fluß entlang nach der Stadt und zum Richtberg.


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