Alexander Dumas Sohn
Die Dame mit den Kamelien
Alexander Dumas Sohn

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Armand war wirklich im Bett. Er reichte mir seine fieberglühende Hand.

»Sie sind sehr krank,« sagte ich zu ihm, indem ich vor dem Bett Platz nahm.

»Es ist nicht von Bedeutung,« antwortete er, »es ist nur die Ermüdung von der schnellen Reise.«

»Sie kommen von Margaretes Schwester?«

»Ja; wer hat es Ihnen gesagt?«

»Ich weiß es und Sie haben Ihren Zweck erreicht?«

»Ja; aber wer hat Sie von meiner Reise und von dem Zweck derselben unterrichtet?«

»Der Gärtner auf dem Friedhofe.«

»Sie haben das Grab gesehen?«

Ich getraute mich kaum zu antworten, denn der Ton dieser Worte bewies mir, daß Armands Stimmung noch keineswegs beruhigt war und daß seine Aufregung durch jede Anspielung auf die traurige Angelegenheit, die ihn nach Paris zurückgeführt hatte, nur vergrößert werden würde. Ich antwortete also durch ein stummes Kopfnicken.

»Hat er sie gut besorgt?« fragte Armand weiter.

Zwei Tränen perlten über die Wangen des Kranken, der sich abwendete, um sie vor mir zu verbergen. Ich gab mir das Ansehen, als ob ich seine Gemütsbewegung nicht bemerkt hätte und suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Es sind jetzt drei Wochen, als Sie abreisten,« sagte ich zu ihm.

»Ja, gerade drei Wochen,« antwortete er, mit der Hand über die Augen fahrend.

»Sie haben eine lange Reise gemacht.«

»Oh! ich war nicht immer auf der Reise,« setzte er hinzu, »ich war volle vierzehn Tage krank, sonst würde ich schon längst wieder zurückgekehrt sein, aber kaum war ich drüben angekommen, wurde ich vom Fieber befallen und mußte das Zimmer hüten.«

»Und Sie traten die Rückreise an, ohne vollkommen wiederhergestellt zu sein?«

»Wenn ich acht Tage länger dort geblieben wäre, so hätte ich sterben müssen.«

»Aber jetzt, da Sie wieder zu Hause sind, müssen Sie sich schonen; Ihre Freunde werden Sie besuchen und ich vor allen anderen, wenn Sie erlauben.«

»In zwei Stunden werde ich aufstehen.«

»Welche Unbesonnenheit!«

»Es muß sein.«

»Was haben Sie denn so Dringendes zu tun?«

»Ich muß zum Polizeikommissär gehen.«

»Warum beauftragen Sie nicht lieber einen anderen mit diesem Geschäft, das Ihren Zustand ohne Zweifel noch verschlimmern wird?«

»Weil es das einzige Mittel ist, das mich heilen kann. Ich muß sie sehen. Seitdem ich ihren Tod erfahren und zumal seitdem ich ihr Grab gesehen habe, kann ich nicht mehr schlafen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Margarete, die bei unserem Abschied so jung, so schön war, wirklich tot ist. Ich muß mich selbst davon überzeugen. Ich muß sehen, was Gott aus diesem heißgeliebten Wesen gemacht hat, und vielleicht wird der Abscheu, den mir der Anblick einflößt, meinen Schmerz mildern. Sie werden mich begleiten, nicht wahr, wenn es Ihnen nicht gar zu sehr unangenehm ist?«

»Was hat Margaretens Schwester gesagt?«

»Nichts. Sie schien sehr erstaunt, daß ein Fremder einen Begräbnisplatz kaufen und Margarete eine Ruhestätte bauen lassen wolle, und unterzeichnete sogleich die Vollmacht, die ich zu haben wünschte.«

»Folgen Sie meinem Rate und warten Sie mit der Übersiedlung, bis Sie genesen sind.«

»Fürchten Sie nichts, ich bin stärker als Sie glauben. Überdies würde ich den Verstand verlieren, wenn ich diesen Gedanken, der mich verfolgt und dessen Verwirklichung ein Bedürfnis für meinen Schmerz geworden ist, nicht sogleich ausführte. Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht ruhig sein kann, bis ich Margarete gesehen habe. Es ist vielleicht ein Durst des Fiebers, das in mir glüht, ein Traum meiner schlaflosen Nächte, eine Folge meines Fieberwahnsinnes; aber wenn ich auch Trappist werden müßte, wie Rancé, so muß ich sie sehen!«

»Ich begreife das,« sagte ich zu Armand, »und stehe Ihnen ganz zu Diensten. Haben Sie Julie Duprat gesehen?«

»Ja. Oh, ich habe sie schon am Tage meiner ersten Rückkehr aufgesucht.«

»Hat sie Ihnen die Papiere übergeben, welche Margarete für Sie bestimmt hatte?«

»Hier sind sie.«

Armand zog unter seinem Kopfkissen eine Papierrolle heraus und steckte sie sogleich wieder darunter.

»Seit drei Wochen,« sagte er, »habe ich diese Papiere zehnmal täglich gelesen. Sie sollen sie auch lesen, aber später, wenn ich ruhiger bin und Ihnen sagen kann, welches innige Gefühl aus diesen Bekenntnissen spricht. Heute vermag ich es nicht. Jetzt habe ich Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«

»Reden Sie, ich bin bereit.«

»Sie haben unten einen Wagen?«

»Ja.«

»Wollen Sie meinen Reisepaß nehmen und auf der Post fragen, ob Briefe für mich da sind? Mein Vater und meine Schwester haben mir gewiß nach Paris geschrieben, und ich bin in solcher Hast abgereist, daß ich mir nicht die Zeit genommen habe, vorher nachzufragen. Wenn Sie zurückkommen, so fahren wir miteinander zu dem Polizeikommissär, um ihn von der morgen stattfindenden Zeremonie in Kenntnis zu setzen.«

Armand übergab mir seinen Paß und ich begab mich nach dem Postbureau.

Es waren zwei Briefe unter dem Namen Duval da, ich nahm sie und kehrte zurück, Armand war angekleidet und zum Ausgehen bereit.

»Ich danke Ihnen,« sagte er, indem er seine Briefe nahm. »Ja, ganz recht,« setzte er hinzu, nachdem er die Adresse angesehen hatte, »sie sind von meinem Vater und meiner Schwester. Beide müssen mein Stillschweigen unbegreiflich gefunden haben.«

Er erbrach die Briefe und erriet sie mehr als er sie las, denn jeder derselben enthielt vier Seiten, und er legte sie sogleich wieder zusammen.

»Kommen Sie,« sagte er, »ich werde morgen antworten.«

Wir begaben uns zu dem Polizeikommissär, dem Armand die von Margaretens Schwester erhaltene Vollmacht übergab.

Der Kommissär gab ihm dafür einen Brief an den Aufseher des Friedhofes. Es war verabredet, daß die Übersiedlung des Leichnams am folgenden Morgen um zehn Uhr stattfinden sollte; ich versprach, ihn eine Stunde zuvor abzuholen und ihn dann auf den Friedhof zu begleiten.

Ich war ebenfalls begierig, diesem Schauspiel beizuwohnen, und ich gestehe, daß ich die Nacht vor dem Stelldichein nicht schlief. Nach den Gedanken, die meinen Schlaf verscheuchten, zu urteilen, mußte die Nacht für Armand entsetzlich lang sein.

Als ich am folgenden Morgen um neun Uhr zu ihm kam, war er sehr blaß, aber er schien ruhig und gefaßt.

Er lächelte mir entgegen und reichte mir die Hand.

Seine Wachskerzen waren tief herabgebrannt, und ehe wir fortgingen, nahm Armand einen sehr dicken Brief, in welchem er vielleicht seine Nachtgedanken niedergeschrieben hatte. Der Brief war an seinen Vater adressiert.

Eine halbe Stunde nachher kamen wir auf den Friedhof Père-Lachaise. Der Polizeikommissär erwartete uns schon. Wir gingen langsam auf Margaretens Grab zu, der Kommissär voran, Armand und ich folgten in geringer Entfernung.

Von Zeit zu Zeit fühlte ich den Arm meines Begleiters krampfhaft zittern, als ob er von Fieberschauern geschüttelt würde. Ich sah ihn an; er verstand meinen Blick und lächelte mir zu, aber seit wir seine Wohnung verlassen, hatten wir kein Wort miteinander gewechselt.

Als wir das Grab beinahe erreicht hatten, blieb Armand stehen, um sich den Schweiß vom Gesichte zu wischen.

Ich benützte diesen Augenblick, um aufzuatmen, denn auch mein Herz war zusammengepreßt wie in einem Schraubstock. Woher kommt das schmerzliche Vergnügen, das man an derlei Gemütsbewegungen findet?

Der Gärtner hatte alle Blumenstöcke von dem Grabe genommen, das Eisengitter war losgebrochen und zwei Männer hackten die Erde auf.

Armand lehnte sich an einen Baum und sah zu. Seine ganze Seele schien aus seinen Augen zu sprechen.

Plötzlich schlug der eine Arbeiter mit der Hacke auf einen Stein. Bei diesem Geräusch zuckte Armand, als ob er von einem elektrischen Schlag getroffen wäre, und er drückte mir so fest die Hand, daß er mir weh tat.

Ein Totengräber nahm eine große Schaufel und räumte nach und nach die Grube aus; dann nahm er die Steine, mit denen der Sarg belegt war und warf sie einen nach dem anderen heraus.

Ich beobachtete Armand, denn ich fürchtete, er werde die heftige Gemütsbewegung nicht ertragen können; aber seine weit geöffneten Augen starrten wie im Wahnsinn in das Grab und nur ein leichtes Zittern der Wangen und Lippen zeigte, wie heftig seine Nervenkrisis war. Ich selbst fing nun an zu bereuen, daß ich gekommen war. Als der Sarg völlig von Erde und Steinen entblößt war, sagte der Kommissär zu den Totengräbern: »Öffnet«.

Die Leute gehorchten, als ob es die einfachste Sache von der Welt gewesen wäre.

Der Sarg war von Eichenholz, und sie fingen an, den Deckel loszuschrauben. Die Feuchtigkeit der Erde hatte die Schrauben mit Rost bedeckt und der Sarg wurde nicht ohne Mühe geöffnet. Ein pestartiger Modergeruch stieg empor, trotz der aromatischen Kräuter, mit denen der Sarg halb gefüllt war.

»O mein Gott! Mein Gott!« seufzte Armand.

Er wurde noch blässer und hielt sich das Schnupftuch vor die Nase.

Selbst die Totengräber wichen zurück.

Ein großes, weißes Grabtuch bedeckte den Leichnam, dessen Umrisse deutlich sichtbar waren. Dieses Tuch war an einem Ende gänzlich zerfressen und ließ die Fußspitzen der Toten sehen.

Ich war einer Ohnmacht nahe, und noch jetzt, wo ich dieses schreibe, steht mir der Anblick mit seiner ganzen entsetzlichen Wirklichkeit vor der Seele.

»Geschwind, beeilt Euch!« sagte der Kommissär.

Einer der beiden Totengräber streckte nun die Hand aus, faßte einen Zipfel des Grabtuches und entblößte plötzlich das Gesicht Margaretens.

Es war ein schrecklicher Anblick, die Feder sträubt sich ihn zu beschreiben. Die Augen bildeten nur zwei Höhlungen, die von Würmern wimmelten, die Lippen waren verschwunden und die weißen Zähne waren aufeinandergepreßt. Die langen schwarzen Haare lagen fest auf den Schläfen und hingen bis auf die grünlichen Höhlungen der Wangen hinunter, und dennoch erkannte ich in diesem Gesichte das jugendlich frische, heitere Antlitz, das ich so oft gesehen hatte.

Armand starrte dieses Gesicht mit unverwandten Blicken an und drückte sein Schnupftuch zwischen die Zähne. Mir war es, als ob mir ein eiserner Reif den Kopf umspannte; ein grauer Schleier schien sich vor meinen Augen herabzusenken, ich glaubte ein starkes Brausen zu hören und vermochte nur noch ein Riechfläschchen, das ich aufs Geratewohl mitgebracht hatte, zu öffnen und das darin enthaltene flüchtige Salz einzuatmen.

In diesem halb besinnungslosen Zustande hörte ich den Kommissär zu Duval sagen:

»Erkennen Sie?«

»Ja,« antwortete Armand mit dumpfer Stimme.

»So schließet den Sarg und traget ihn fort,« sagte der Kommissär.

Die Totengräber warfen das Grabtuch wieder über das Gesicht der Leiche, schlossen den Sarg und trugen ihn zu der ihnen angezeigten Stelle.

Armand regte sich nicht. Seine Blicke waren fest auf das leere Grab gerichtet und er war so blaß wie die Leiche, die wir soeben gesehen hatten. Man hätte ihn für versteinert halten können. Ich sah voraus, was sich ereignen mußte, wenn der aufs höchste gesteigerte Schmerz nachlassen und dieser furchtbaren Aufregung die Erschlaffung folgen würde.

Ich trat auf den Kommissär zu.

»Ist die Anwesenheit des Herrn Duval noch notwendig?« fragte ich ihn.

»Nein,« erwiderte er, »und ich rate Ihnen sogar, ihn von hier wegzuführen, denn erscheint sehr ergriffen zu sein.«

»Kommen Sie,« sagte ich zu Armand, indem ich seinen Arm faßte.

»Was?« fragte er, mich anstarrend, als ob er mich nicht erkannt hätte.

»Es ist jetzt geschehen,« setzte ich hinzu; »Sie müssen jetzt nach Hause fahren, lieber Freund; Sie sind blaß und zittern vor Fieberfrost, eine längere Dauer dieser heftigen Erschütterung würde Ihnen das Leben kosten.«

»Sie haben recht, wir wollen fort,« antwortete er gedankenlos, aber ohne von der Stelle zu gehen.

Ich faßte ihn beim Arm und zog ihn fort. Er ließ sich führen wie ein Kind und murmelte nur von Zeit zu Zeit:

»Haben Sie die Augen gesehen?«

Er wendete sich um, als ob diese Erscheinung ihn gerufen hätte.

Sein Gang wurde indessen unregelmäßig, er schien nur noch stoßweise zu gehen, seine Zähne klapperten, seine Hände waren kalt und sein ganzer Körper wurde von einem heftigen Nervenanfall ergriffen.

Ich redete ihm zu, aber er antwortete nicht. Alles, was er tun konnte, war willenloses Hingeben.

Am Tore des Friedhofes fanden wir unseren Wagen. Es war Zeit. Kaum hatte er sich in den Fiaker gesetzt, so wurde der Fieberfrost heftiger und er bekam einen wirklichen Nervenanfall. Er fürchtete, es werde mir bange um ihn werden, denn er drückte mir wiederholt die Hand und sagte:

»Es ist nichts – es hat nichts zu bedeuten. Ich wollte, daß ich weinen könnte,«

Er seufzte tief auf und seine Augen röteten sich, aber die Tränen kamen nicht.

Ich hielt ihm das Riechfläschchen vor, das mich selbst meinem bewußtlosen Zustande entrissen hatte, und als wir in seiner Wohnung ankamen, zeigte sich nur noch der Fieberschauer.

Mit Hilfe des Dieners brachte ich ihn ins Bett; ich ließ in seinem Kamin Feuer anzünden und holte meinen Arzt, dem ich das Vorgefallene erzählte.

Armand war glühend rot, er phantasierte und stammelte unzusammenhängende Worte, unter denen sich nur der Name Margaretens deutlich unterscheiden ließ.

»Nun, was ist Ihre Meinung?« sagte ich zu dem Doktor, als er den Kranken untersucht hatte.

»Er hat eine Gehirnentzündung und es ist ein Glück, denn ich glaube, er wäre sonst wahnsinnig geworden. Glücklicherweise aber wird die Geisteskrankheit durch diesen Fieberausbruch gehoben werden und in einem Monate wird er genesen sein.«


 << zurück weiter >>