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Sicherlich war es für Cornelius van Baerle eine große Ehre, in demselben Gefängnis, welches den gelehrten Grotius aufgenommen hatte, eingesperrt zu werden.
Aber eine noch weit größere Ehre erwartete ihn bei seiner Ankunft im Gefängnis. Als die Gnade des Prinzen von Oranien den Tulpenzüchter van Baerle nach Löwenstein sandte, stellte es sich heraus, daß das von Barneveldts Freunde bewohnte Zimmer gerade unbesetzt war.
Seitdem Herr Grotius dank dem Einfalle seiner Frau in dem berüchtigten Bücherkoffer, den man zu besichtigen vergessen hatte, aus diesem Zimmer geflohen war, stand es im Schlosse in sehr schlechtem Rufe.
Andererseits erschien es für van Baerle als eine günstige Vorbedeutung, daß ihm dieses Zimmer zur Wohnung angewiesen wurde; denn nach seinen Vorstellungen hätte ein Kerkermeister nie einer zweiten Taube einen Käfig zur Wohnung geben müssen, aus dem die erste so schnell davongeflogen war.
Das Zimmer ist historisch. Wir wollen deshalb unsere Zeit nicht damit verlieren, es in seinen Einzelheiten zu beschreiben, sondern nur bemerken, daß ein Alkoven daran stieß, der für Frau Grotius eingerichtet war. Es war ein Gefängniszimmer wie alle übrigen, vielleicht nur etwas höher gelegen; auch hatte man von dem Gitterfenster aus eine reizende Aussicht.
Das Interesse unserer Geschichte besteht übrigens nicht in einer gewissen Zahl von Beschreibungen. Für van Baerle war das Leben etwas anderes als ein Respirationsapparat. Der arme Gefangene liebte außer seiner pneumatischen Maschine noch zwei Dinge, deren eingebildeten Besitz ihm von jetzt an nur der Gedanke, dieser sich frei umher bewegende Reisende, zu verschaffen vermochte.
Eine Blume und eine Frau, beide ihm auf immer verloren.
Er täuschte sich zum Glück, der gute van Baerle! Gott, der ihn in dem Augenblicke, wo er das Schafott betrat, mit Vaterlächeln angeblickt hatte, behielt ihm selbst in der Tiefe seines Gefängnisses, im dem Zimmer des Herrn Grotius, das abenteuerlichste Leben vor, das je einem Tulpenzüchter zuteil geworden ist.
Als er eines Morgens an seinem Fenster die frische Luft einatmete, die von der Waal zu ihm herüberwehte, welche er in weiter Ferne hinter einem Walde von Schornsteinen und den Mühlen seiner Vaterstadt Dordrecht bewunderte, sah er von jener Seite des Horizontes eine Schar Tauben herbeifliegen und sich in der Sonne leicht auf die spitzen Giebel des Schlosses Löwenstein hinablassen.
»Diese Tauben,« sagte sich van Baerle, »kommen von Dordrecht und können folglich dorthin zurückkehren. Wer ein Wort an einen Flügel dieser Tauben befestigte, hätte Aussicht, nach Dordrecht, wo man ihn beweint, Nachricht gelangen zu lassen.«
Nach einer kurzen Überlegung fügte van Baerle hinzu:
»Ich werde den Versuch machen.«
Wenn man achtundzwanzig Jahre zählt und zu ewiger Haft, das heißt zu etwa zweiundzwanzig- oder dreiundzwanzigtausend Tage Gefängnis verurteilt ist, so wird man geduldig.
In unaufhörlichen Gedanken an seine drei Brutzwiebeln, – denn wie das Herz in der Tiefe der Brust schlägt, so lebte dieser Gedanke beständig in der Tiefe seiner Erinnerung, – in unaufhörlichen Gedanken an seine drei Brutzwiebeln, sagen wir, errichtete van Baerle eine Taubenfalle. Er lockte diese zahmen Vögel durch alle Hilfsmittel seiner Küche, die täglich über achtzehn holländische oder zwölf französische Sous zu verfügen hatte, und nach monatelangen sinnreichen Lockversuchen fing er ein Weibchen.
Zwei andere Monate brauchte er dazu ein Männchen zu fangen. Darauf schloß er sie zusammen ein und im Anfange des Jahres 1673, als sie Eier hatten, ließ er das Weibchen fliegen, das im Vertrauen auf das Männchen, welches an seiner Stelle brütete, ganz lustig mit seinem Billet unter seinem Flügel nach Dordrecht flog.
Am Abend kam es zurück.
Es hatte das Billet noch immer.
Vierzehn Tage lang behielt es dasselbe, anfangs zur großen Enttäuschung, dann zur großen Verzweiflung van Baerles.
Am fünfzehnten Tage kam es endlich leer zurück.
Van Baerle hatte dieses Billet an seine Amme, die alte Friesin gerichtet und bat die barmherzigen Seelen, die es finden sollten, es ihr so sicher und so schnell wie möglich zukommen zu lassen.
In diesem an seine Amme gerichteten Briefe lag ein an Rosa gerichtetes Billet.
Gott, der mit seinem Odem die Samenkörner über die Mauern der alten Schlösser trägt und sie bei etwas Regen blühen läßt, ließ zu, daß van Baerles Amme diesen Brief erhielt.
Man höre wie:
Als er Dordrecht verließ, um sich nach Haag zu begeben, und dann wieder Haag, um nach Gorkum zu übersiedeln, hatte Mynheer Isaak Boxtel nicht allein sein Haus, nicht allein seinen Diener, nicht allein sein Observatorium, nicht allein sein Fernrohr, sondern auch seine Tauben in Stich gelassen.
Der Diener, welcher ohne Lohn geblieben war, verzehrte zuerst seine geringen Ersparnisse, dann begann er Tauben zu essen.
Als die Tauben das merkten, wanderten sie von dem Dache Isaak Boxtels aus und ließen sich auf das Dach van Baerles nieder.
Die Amme war eine gutherzige Seele, die irgend etwas lieben mußte. Sie faßte Freundschaft für die Tauben, die ihre Gastfreundschaft in Anspruch genommen hatten, und als Isaaks Diener sie zurückverlangte, um die letzten zwölf oder fünfzehn zu verspeisen, wie er es mit den ersten zwölf oder fünfzehn gemacht hatte, so erbot sie sich, sie ihm Stück für Stück für sechs holländische Sous abzukaufen.
Es war das Doppelte von dem gewöhnlichen Taubenpreise; auch nahm der Diener das Anerbieten mit großer Freude an.
Die Amme war also in dem rechtmäßigen Besitze der Tauben des Neidhammels.
Diese Tauben befanden sich unter anderen, die auf ihrer Wanderschaft Haag, Löwenstein und Rotterdam besuchten und wahrscheinlich Getreide von einer anderen Natur, Hanfsamen von einem anderen Geschmacke suchen wollten.
Der Zufall, oder vielmehr der Gott, den wir bei allem als die eigentliche Ursache erkennen, hatte es gefügt, daß Cornelius van Baerle gerade eine dieser Tauben gefangen hatte.
Was ergiebt sich daraus? Hätte der Neider nicht Dordrecht verlassen, um seinem Rivalen zunächst nach Haag, darauf nach Gorkum oder, wie man sehen wird, nach Löwenstein zu folgen, da die beiden Orte nur durch den Zusammenfluß der Waal und der Maas getrennt sind: so wäre das von van Baerle geschriebene Billet anstatt in die Hände der Amme in seine eigenen gefallen, so daß der arme Gefangene wie der Rabe des römischen Schuhflickers seine Zeit und seine Mühe verloren hätte. Anstatt die wechselnden Ereignisse zu erzählen zu haben, die sich gleich einem tausendfarbigen Teppich unter unserer Feder entrollen werden, hätten wir nur eine lange Reihe farbloser, trauriger Tage, düster wie der Mantel der Nacht, zu schildern gehabt.
Das Billet fiel also in die Hände der Amme des Herrn van Baerle.
In den ersten Tagen des Februars, als sich die ersten Abendstunden vom Himmel herabsenkten und die Sterne hervorzuschimmern begannen, vernahm Cornelius auf der Turmtreppe eine Stimme, die ihn mit Beben erfüllte.
Er führte die Hand nach seinem Herzen und lauschte.
Es war Rosas liebliche, melodische Stimme.
Gestehen wir es, Cornelius war nicht von so großem Erstaunen, von so außerordentlicher Freude ergriffen, wie er es ohne den Vorfall mit der Taube gewesen wäre. Für seinen bestellten Brief hatte ihm die Taube unter ihrem leeren Flügel Hoffnung zurückgebracht, und da er Rosa kannte, machte er sich, wenn das Billet ihr zugestellt war, täglich darauf gefaßt, über seine Liebe und seine Brutzwiebeln Nachricht zu erhalten.
Er erhob sich, lauschte und bog sich nach der Thür vor.
Ja, es waren die Töne, die ihn so wunderbar in Haag gerührt hatten.
Würde es aber jetzt Rosa, welche die Reise von Haag nach Löwenstein gemacht hatte, Rosa, der es, Cornelius wußte nicht wie, geglückt war, in das Gefängnis einzudringen, würde es ihr auch gelingen, bis zu dem Gefangenen zu gelangen?
Während in Cornelius Seele ein Gedanke nach dem andern, eine Sehnsucht und eine Angst nach der andern vorüberzog, öffnete sich plötzlich der Schalter an seiner Thür, und strahlend vor Freude und Putz, schön namentlich vor dem Kummer, der seit fünf Monaten ihre Wangen gebleicht hatte, lehnte Rosa ihr Gesicht an Cornelius Gitter und sagte:
»Da bin ich, mein Herr, da bin ich.«
Cornelius breitete die Arme aus, blickte gen Himmel und stieß einen Freudenschrei aus.
»Still, sprechen wir leise, mein Vater folgt mir,« sagte das junge Mädchen.
»Ihr Vater?«
»Ja, er steht auf dem Hofe unten an der Treppe und empfängt die Verhaltungsbefehle vom Gouverneur. Gleich folgt er mir.«
»Die Verhaltungsbefehle vom Gouverneur?«
»Hören Sie zu: ich will mich bemühen, Ihnen alles in zwei Worten zu sagen. Der Statthalter besitzt eine Stunde von Leyden ein Landhaus, eine bloße Molkerei. Meine Tante, seine Amme, führt die Aufsicht über alle Tiere, die zu dieser Meierei gehören. So bald ich Ihren Brief erhielt, Ihren Brief, den ich leider nicht lesen konnte, den mir aber Ihre Amme vorlas, eilte ich zu meiner Tante und wollte bei ihr bleiben, bis der Prinz nach seiner Molkerei käme. Und als er nun wirklich hinkam, bat ich ihn, er möchte gestatten, daß mein Vater seine Stelle als erster Beschließer zu Haag mit der Kerkermeisterstelle in der Festung Löwenstein vertauschte. Er ahnte meinen Zweck nicht; hätte er ihn gekannt, würde er vielleicht einen ablehnenden Bescheid gegeben haben; aber er erfüllte im Gegenteile meine Bitte.«
»So sind Sie also hier?«
»Ei natürlich, wie Sie sehen.«
»So werde ich Sie täglich sehen?«
»So oft es mir möglich sein wird.«
»O Rosa, meine schöne Madonna Rosa,« sagte Cornelius, »so lieben Sie mich also ein wenig?«
»Ein wenig . . .« versetzte sie, »ei Sie sind nicht sehr viel verlangend, Herr Cornelius.«
In leidenschaftlicher Erregung streckte ihr Cornelius beide Hände entgegen, aber nur ihre Fingerspitzen konnten sich durch das Gitter berühren.
»Da kommt mein Vater,« sagte das junge Mädchen.
Und schnell verließ Rosa die Thür und eilte dem alten Gryphus entgegen, der oben auf der Treppe erschien.