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Franz hatte vielleicht in seinem Leben keinen so scharfen, schneidenden Eindruck, keinen so raschen Übergang von der Heiterkeit zur Traurigkeit erfahren, als in diesem Augenblick; es war, als hätte sich Rom unter dem magischen Hauche eines Dämons der Nacht in ein Grab verwandelt. Da der abnehmende Mond erst um elf Uhr abends aufging, so waren die Straßen, durch die der junge Mann fuhr, noch in die tiefste Finsternis versenkt. Nach Verlauf von zehn Minuten hielt sein Wagen oder vielmehr der des Grafen vor dem Gasthofe zur Stadt London.
Das Diner harrte der Freunde; da jedoch Albert erwähnt hatte, er gedenke nicht so bald zurückzukehren, so setzte sich Franz ohne ihn zu Tische. Gewohnt, sie miteinander speisen zu sehen, erkundigte sich Herr Pastrini nach der Ursache seiner Abwesenheit, aber Franz begnügte sich, ihm zu erwidern, Albert habe am Tage zuvor eine Einladung erhalten, der er Folge leiste. Das plötzliche Auslöschen der Moccoletti, die Dunkelheit, die auf den maßlosen Lärm folgende Stille hatten Franz in eine traurige Stimmung versetzt, die nicht ganz frei von Unruhe war. Er speiste also sehr schweigsam, trotz der Dienstfertigkeit seines Wirtes, der wiederholt erschien, um zu fragen, ob er nichts bedürfe.
Franz war entschlossen, solange als möglich auf Albert zu warten. Er bestellte daher den Wagen erst auf elf Uhr und beauftragte Pastrini, ihn sogleich benachrichtigen zu lassen, wenn Albert zurückkehrte. Um elf Uhr war dies noch nicht geschehen. Franz kleidete sich an und entfernte sich mit der Bemerkung, er würde die ganze Nacht bei dem Herzog von Bracciano, bei dem die Freunde zu einem Balle geladen waren, zubringen.
Das Haus des Herzogs von Bracciano gehörte zu den gesuchtesten Häusern Roms; die Herzogin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, war eine der gefeiertsten Damen der ewigen Stadt, und die Feste, die der Herzog gab, hatten europäischen Ruf. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an ihn nach Rom gekommen, er fragte deshalb Franz auch sogleich, wo sein Reisegefährte geblieben sei. Franz erwiderte dem Herzog, er habe ihn in dem Augenblick, wo man die Moccoletti ausgelöscht, verlassen und sei ihm bei der Via Macello aus dem Gesichte gekommen.
Er ist also nicht nach Hause zurückgekehrt? fragte der Herzog.
Ich erwartete ihn bis zu dieser Stunde.
Wissen Sie, wohin er gegangen ist?
Nicht genau; ich glaube jedoch, es handelt sich um ein Stelldichein.
Teufel! rief der Herzog; das ist ein übler Tag, oder vielmehr eine üble Nacht, um noch spät außen zu bleiben, nicht wahr, Frau Gräfin?
Diese Worte waren an die Gräfin G*** gerichtet, die soeben erschien und am Arme des Herrn Torlonia, des Bruders des Herzogs, auf und ab ging.
Mir scheint im Gegenteil, daß es eine bezaubernde Nacht ist, entgegnete die Gräfin, und die, welche sich hier befinden, werden nur klagen, daß sie so schnell vorübergeht.
Ich spreche auch nicht von den Personen, die hier sind, versetzte der Herzog lächelnd; die Männer laufen keine andere Gefahr, als die, in Sie verliebt zu werden, die Frauen keine andere, als vor Eifersucht zu sterben, wenn sie Ihre Schönheit erschauen; ich spreche von denen, die in den Straßen der Stadt umherlaufen.
Ei! guter Gott, fragte die Gräfin, wer läuft zu dieser Stunde auf den Straßen umher, wenn nicht, um auf den Ball zu gehen?
Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich heute abend um sieben Uhr, als er einer Unbekannten folgte, verlassen und seitdem nicht wieder gesehen habe, sagte Franz.
Er geht in der Tracht eines Bajazzo.
Sie hätten ihn nicht sollen gehen lassen, sagte der Herzog zu Franz, Sie, der Sie Rom besser kennen, als er.
Oh! es wäre ebenso leicht gewesen, Nummer 3 der Wettrenner, die heute den Preis gewonnen hat, aufzuhalten als ihn zu hindern; und dann, was soll ihm geschehen?
Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster, und der Tiber ganz nahe bei der Via Macello.
Franz fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Adern lief, als er fand, daß die Gedanken des Herzogs und der Gräfin so sehr mit seiner persönlichen Unruhe im Einklang standen.
Ich habe auch im Gasthofe bemerkt, ich würde die Nacht hier zubringen, und man benachrichtigt mich, sobald er zurückkommt, versetzte Franz.
Halt, sprach der Herzog, ich glaube, es kommt hier gerade einer von meinen Dienern, der Sie sucht.
Der Herzog täuschte sich nicht, der Diener näherte sich Franz und sagte: Exzellenz, der Gastwirt von der Stadt London läßt Ihnen melden, daß Sie ein Mann mit einem Briefe des Vicomte von Morcerf bei ihm erwarte.
Warum brachte er den Brief nicht hierher?
Der Bote hat mir keine Erklärung gegeben.
Und wo ist der Bote?
Er ging sogleich wieder weg, als er mich in den Ballsaal eintreten sah, um Sie zu benachrichtigen.
Oh! mein Gott! sagte die Gräfin zu Franz, gehen Sie schnell; es ist ihm vielleicht ein Unglück widerfahren, und kommen Sie bald zurück, uns Kunde zu geben.
Franz nahm seinen Hut und entfernte sich in größter Eile. Er hatte seinen Wagen weggeschickt und erst auf zwei Uhr wieder bestellt, aber zum Glück ist der Palast Bracciano kaum zehn Minuten von der Stadt London entfernt. Als sich Franz dem Gasthofe näherte, sah er einen Menschen mitten auf der Straße stehen, von dem er keinen Augenblick zweifelte, daß er der von Albert abgeschickte Bote sei. Er ging auf den Menschen, der in einen langen Mantel gehüllt war, zu; doch zu seinem großen Erstaunen richtete der Unbekannte zuerst das Wort an ihn.
Was wollen Sie von mir, Exzellenz? sagte er, einen Schritt zurückweichend, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist.
Seid Ihr es nicht, der mir einen Brief vom Vicomte von Morcerf bringt? entgegnete Franz.
Wie heißt Eure Exzellenz?
Baron Franz d'Epinay.
Dann ist dieser Brief wohl an Eure Exzellenz gerichtet.
Bedarf er einer Antwort? fragte Franz, den Brief aus den Händen des Unbekannten nehmend.
Ja, wenigstens hofft Ihr Freund auf eine Antwort.
So kommt mit mir herauf, und ich werde sie Euch geben.
Ich will lieber hier warten, sagte der Bote lachend.
Warum?
Eure Exzellenz wird die Sache begreifen, wenn sie den Brief gelesen hat.
Franz ging in den Gasthof; auf der Treppe begegnete er Pastrini, der ihn mit verstörter Miene erwartet hatte. Franz entfaltete rasch das Papier. Der Brief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet. Franz las ihn zweimal, so überrascht war er von seinem Inhalt. Er lautete:
»Lieber Freund!
Sobald Sie Gegenwärtiges empfangen, haben Sie die Gefälligkeit, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Kreditbrief zu nehmen; nehmen Sie den Ihrigen dazu, wenn meiner nicht reicht. Laufen Sie zu Torlonia, lassen Sie sich auf der Stelle viertausend Piaster geben, und händigen Sie dieselben dem Überbringer ein. Es ist dringend, daß mir diese Summe ohne Verzug zukommt. Ich sage nicht mehr, da ich auf Sie zähle, wie Sie auf mich zählen können.
N. S. I believe now in Italian bandits.Ich glaube nun an italienische Banditen.
Ihr Freund
Albert von Morcerf.«
Unter diese Zeilen waren von fremder Hand folgende italienische Worte geschrieben:
Se alle sei della mattina le quattro mille piastre non sono nelle miei mani, alle sette il conte Alberto avrà cessto di vivere.Wenn morgens sechs Uhr die viertausend Piaster nicht in meinen Händen sind, so hat Graf Albert um sieben zu leben aufgehört.
Luigi Vampa
Die zweite Unterschrift erklärte Franz alles, und er begriff das Widerstreben des Boten, zu ihm heraufzukommen; die Straße schien ihm sicherer als Franzens Zimmer. Albert war in die Hände des berüchtigten Banditenführers gefallen, an dessen Existenz er so lange nicht hatte glauben wollen.
Es war keine Zeit zu verlieren. Er lief an den Sekretär, öffnete ihn, fand in der bezeichneten Schublade das Portefeuille, und in dem Portefeuille den Kreditbrief; er war im ganzen auf 6000 Piaster ausgestellt; aber von diesen 6000 Piastern hatte Albert bereits 3000 verbraucht. Franz besaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und nur nach Rom gekommen war, um hier sieben bis acht Tage zu bleiben, so hatte er etwa 100 Louisd'or mitgenommen, und davon blieben ihm höchstens noch 50. Es waren also noch 7 bis 800 Piaster erforderlich, wenn Franz und Albert die verlangte Summe zusammenbringen sollten. Allerdings konnte Franz auf die Gefälligkeit des Herrn Torlonia rechnen, und er war daher auch schon im Begriff, in den Palast Bracciano zurückzukehren, als ein leuchtender Gedanke seinen Geist durchblitzte.
Der Graf von Monte Christo fiel ihm ein. Franz wollte eben den Wirt rufen lassen, als dieser auf der Türschwelle erschien.
Mein lieber Herr Pastrini, sagte er, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?
Ja, Exzellenz, er ist soeben zurückgekommen.
Ich bitte Sie, fragen Sie ihn für mich um Erlaubnis, ihn einen Augenblick sprechen zu dürfen.
Der Wirt beeilte sich, diesen Auftrag zu vollziehen; fünf Minuten nachher meldete er Franz, der Graf erwarte ihn. Franz durchschritt rasch den Gang, ein Diener führte ihn bei dem Grafen ein. Er befand sich in einem kleinen, ganz von Diwans umgebenen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte. Der Graf kam ihm entgegen.
Ei! welcher gute Wind führt Sie zu dieser Stunde hierher? sagte er. Sollten Sie das Abendessen mit mir nehmen wollen? Das wäre sehr liebenswürdig.
Nein, ich komme wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.
Wegen einer ernsten Angelegenheit! sagte der Graf, Franz mit dem ihm eigentümlichen tiefen Blicke anschauend; worum handelt es sich?
Franz übergab ihm Alberts Brief und sagte: Lesen Sie.
Ah! ah! rief der Graf.
Was sagen Sie dazu? fragte Franz.
Haben Sie die verlangte Summe?
Es fehlen mir achthundert Taler.
Der Graf ging an einen Sekretär, öffnete ihn, zog eine Schublade voll Gold heraus und sagte zu Franz: Ich hoffe, daß Sie mir nicht die Beleidigung antun werden, sich an einen andern, als mich zu wenden?
Sie sehen im Gegenteil, daß ich gerade zu Ihnen gekommen bin.
Dafür danke ich; nehmen Sie. Und er ersuchte Franz, das Gold zu nehmen.
Ist es denn durchaus notwendig, diese Summe Luigi Vampa zu schicken? fragte der junge Mann, den Grafen ebenfalls fest anschauend.
Bei Gott! rief dieser, urteilen Sie selbst, die Nachschrift klingt sehr bestimmt.
Es scheint mir, wenn Sie ein wenig nachdenken wollten, würden Sie ein Mittel finden, das die Unterhandlung sehr vereinfachen müßte? entgegnete Franz.
Welches? fragte der Graf erstaunt.
Wenn wir zum Beispiel Luigi Vampa miteinander aufsuchten . . . ich bin überzeugt, er schlüge es Ihnen nicht ab, Albert freizugeben.
Mir? Welchen Einfluß soll ich auf den Banditen ausüben?
Haben Sie ihm nicht einen von den Diensten geleistet, die man nie vergißt? – Einen Dienst?
Haben Sie nicht vor wenigen Tagen Peppino gerettet?
Ah! ah! rief der Graf, wer hat Ihnen das gesagt?
Was liegt daran? Ich weiß es.
Der Graf blieb einen Augenblick stumm.
Und wenn ich Vampa aufsuchte, würden Sie mich begleiten?
Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht zu unangenehm wäre.
Gut! Es sei; das Wetter ist schön, ein Spaziergang nach der Campagna kann uns nur wohltun. Wo ist der Mensch, der diesen Brief gebracht hat?
Er muß hören, wohin wir gehen; ich werde ihn rufen.
Der Graf trat an das Fenster des Kabinetts, das nach der Straße ging, und pfiff auf eine besondere Weise. Der Mann mit dem Mantel entfernte sich von der Mauer und schritt bis in die Mitte der Straße vor.
Salite! sprach der Graf mit einem Tone, als gäbe er seinem Bedienten einen Befehl. Der Bote gehorchte, ohne zu zögern, ja sogar mit einem gewissen Eifer, sprang die vier Stufen der Freitreppe hinauf und trat in den Gasthof. Fünf Sekunden nachher war er an der Tür des Kabinetts.
Ah! Du bist es, Peppino, rief der Graf.
Doch statt zu antworten, warf sich Peppino auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und drückte seine Lippen wiederholt darauf.
Oh! sagte der Graf, du hast noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben rettete! Das ist seltsam, es sind doch heute schon acht Tage vorüber.
Nein, Exzellenz, ich werde es nie vergessen, antwortete Peppino mit dem Tone der tiefsten Dankbarkeit.
Nie? Das ist sehr lange; doch schon genug, wenn du es nur glaubst. Steh auf und antworte.
Peppino warf einen unruhigen Blick auf Franz.
Oh! du kannst vor dem Herrn sprechen, versetzte der Graf, es ist einer meiner Freunde. Wie ist der Graf Albert in Luigis Hände gefallen?
Exzellenz, die Kalesche des Franzosen hat wiederholt den Wagen gekreuzt, worin Teresa saß.
Des Hauptmanns Geliebte?
Ja. Der Franzose liebäugelte mit ihr, Teresa machte sich den Spaß es zu erwidern: der Franzose warf ihr Sträuße zu und sie ihm, alles, wohlverstanden, mit Einwilligung des Hauptmanns, der sie, als Kutscher verkleidet, führte.
Und dann? fragte der Graf.
Nun, dann nahm der Franzose die Maske ab; Teresa tat dasselbe; der Franzose verlangte eine Zusammenkunft, Teresa sagte sie ihm zu; nur fand sich, statt Teresa, Beppo – verkleidet als Bäuerin – auf den Stufen der Kirche von San Giacomo ein; ein Wagen wartete am Ende der Via Macello, Beppo forderte den Franzosen auf, ihm zu folgen; er ließ sich dies nicht zweimal sagen und setzte sich neben ihn. Dieser sagte ihm nun, er führe ihn nach einer Villa, die eine Meile von der Stadt liege. Der Franzose versicherte Beppo, er sei bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Sogleich fuhr der Kutscher die Strada di Ripetta hinauf, erreichte die Porta di San Paolo, und als der Franzose, zweihundert Schritte in der Campagna, zu unternehmend wurde, setzte ihm Beppo ein paar Pistolen vor die Brust; rasch hielt der Kutscher seine Pferde an, wandte sich auf seinem Sitze um und tat dasselbe. Zu gleicher Zeit stürzten vier von den Unseren, die am Ufer des Almo verborgen waren, an den Kutschenschlag. Der Franzose hatte große Lust, sich zu verteidigen, würgte Beppo auch ein wenig, wie ich hörte; aber er konnte gegen fünf bewaffnete Männer nichts machen, er mußte sich ergeben. Man ließ ihn aussteigen, folgte dem Ufer des Flüßchens und führte ihn zu Teresa und Luigi, die ihn in den Katakomben von San Sebastiano erwarteten.
Ei, das ist eine romantische Geschichte, bemerkte der Graf. Was sagen Sie dazu, Sie, der Sie Kenner sind?
Ich würde sie sehr lustig finden, wäre sie einem anderen, als dem armen Albert begegnet.
Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, erwiderte der Graf, so würde dieses Liebesabenteuer Ihrem Freunde ziemlich teuer zu stehen gekommen sein; doch beruhigen Sie sich, er wird mit der Angst davon kommen.
Und wir suchen ihn auf? fragte Franz.
Bei Gott! Um so mehr, als er sich an einem sehr malerischen Orte befindet. Kennen Sie die Katakomben von San Sebastiano?
Nein, doch ich dachte, sie einmal zu besuchen.
Wohl, die Gelegenheit ist da, und es wäre schwer, eine bessere zu finden. Haben Sie Ihren Wagen?
Nein.
Gleichviel; es ist bei mir Gewohnheit, Tag und Nacht einen Wagen angespannt halten zu lassen.
Tag und Nacht angespannt?
Ja, ich bin ein sehr launenhafter Mensch und muß Ihnen sagen, daß mir zuweilen, wenn ich aufstehe, nach der Mahlzeit oder auch mitten in der Nacht, die Lust ankommt, nach irgend einem Punkte der Welt zu reisen, und dann reise ich auch.
Der Graf läutete, sein Kammerdiener erschien.
Lassen Sie den Wagen vorfahren, sagte der Graf zu ihm, nehmen Sie die Pistolen heraus, die in den Taschen sind! es ist nicht nötig, den Kutscher zu wecken, Ali fährt.
Nach einem Augenblick hörte man den Wagen.
Halb ein Uhr, sagte der Graf, auf seine Uhr blickend, wir hätten erst um fünf Uhr fahren können und wären noch zu rechter Zeit gekommen; doch dann würde Ihr Gefährte vielleicht eine schlimme Stunde durchgemacht haben, und es ist daher besser, ihn auf der Stelle den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie immer noch entschlossen, mich zu begleiten?
Mehr als je.
Franz und der Graf verließen das Zimmer, gefolgt von Peppino. Vor der Tür fanden sie den Wagen, Ali saß auf dem Bocke; Franz erkannte den stummen Sklaven der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali, und man fuhr im Galopp fort. Ali hatte vorher Befehle erhalten, denn er fuhr über den Korso und erreichte die Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwart einige Schwierigkeiten machen, aber der Graf von Monte Christo zeigte ihm einen Erlaubnisschein vom Gouverneur der Stadt, der ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ungehinderten Aus- und Einlaß zusicherte; das Fallgatter wurde also aufgehoben, der Torwart erhielt einen Louisd'or für seine Mühe, und man fuhr hinaus.
Die Straße war die alte, beiderseits von Gräbern begrenzte Via Appia. Von Zeit zu Zeit kam es Franz beim Lichte des aufgehenden Mondes vor, als ob eine Schildwache hinter einer Ruine hervorträte; doch auf ein zwischen Peppino und dieser Schildwache ausgetauschtes Zeichen kehrte sie in den Schatten zurück und verschwand. Wenige Schritte vor dem Zirkus des Caracalla hielt der Wagen an, Peppino öffnete den Schlag, und Franz und der Graf stiegen aus.
In zehn Minuten sind wir an Ort und Stelle, sagte der Graf zu seinem Begleiter. Dann nahm er Peppino beiseite, gab ihm leise einen Befehl, und der Bandit entfernte sich, nachdem er sich mit einer Fackel versehen hatte, die er aus einem Kistchen hervorzog. Es vergingen fünf Minuten, während Franz Peppino auf einem schmalen Fußpfade fortschreiten und dann in hohem rötlichem Grase verschwinden sah. Franz und der Graf schlugen denselben Fußpfad ein, der sie nach hundert Schritten auf einen sich in ein Tälchen senkenden Abhang führte.
Exzellenz, sagte Peppino, der stehen geblieben war, folgen Sie mir, bitte, die Öffnung der Katakomben ist nur zwei Schritte von hier.
Gut, sagte der Graf, geh voraus!
Es bot sich in der Tat hinter einem Gebüsch und mitten unter einigen Felsen eine Öffnung, durch die kaum ein Mann dringen konnte. Peppino schlüpfte zuerst hinein; aber kaum hatte er einige Schritte getan, als der unterirdische Gang sich erweiterte. Er blieb nun stehen und zündete seine Fackel an. Der Graf war zuerst in eine Art von Luftloch gedrungen, und Franz folgte ihm. Das Terrain vertiefte sich allmählich und wurde immer weiter, je mehr man vorrückte. Franz und der Graf waren jedoch genötigt, gebückt zu marschieren, und konnten nur mit Mühe nebeneinander gehen. Sie machten auf diese Weise noch ungefähr fünfzig Schritte, dann wurden sie durch den Ruf: Wer da? angehalten. Zu gleicher Zeit sahen sie inmitten der Finsternis den Lauf eines Karabiners im Schimmer ihrer eigenen Fackel aufblitzen.
Gut Freund! antwortete Peppino, und sagte einige Worte mit leiser Stimme zu der Schildwache, die, wie die erste, grüßte und dann den nächtlichen Gästen durch ein Zeichen bedeutete, sie könnten weitergehen. Hinter der Wache war eine Treppe von ungefähr zwanzig Stufen. Franz und der Graf stiegen die zwanzig Stufen hinab und befanden sich an einem Kreuzweg. Fünf Wege liefen wie Strahlen von dieser Stelle aus, und an den Wänden, in denen sargartige Nischen ausgegraben waren, erkannte man, daß man in den Katakomben angelangt war. In einer von diesen Höhlen, deren Ausdehnung sich nicht erkennen ließ, gewahrte man einige Lichtstrahlen. Der Graf legte die Hand auf Franzens Schulter und sagte: Wollen Sie ein Lager ruhender Banditen sehen, so folgen Sie mir! Peppino, lösche deine Fackel aus!
Peppino gehorchte, und Franz und der Graf befanden sich in der tiefsten Finsternis; nur tanzte fortwährend etwa fünfzig Schritte vor ihnen längs den Wänden ein rötlicher Schein nach dem andern hin. Sie rückten langsam vor, wobei der Graf Franz leitete, als besäße er die seltene Fähigkeit, in der Finsternis zu sehen. Drei Arkaden, von denen die mittlere als Tür zu betrachten war, gewährten ihnen Durchlaß. Diese Arkaden öffneten sich einerseits nach dem Gange, wo Franz und der Graf sich befanden, andererseits nach einem großen viereckigen Gemache, das ganz von Nischen, den vorhergehenden ähnlich, umgeben war. Mitten in diesem Gemach erhoben sich vier Steine, die einst als Altar gedient hatten, wie das überragende Kreuz andeutete. Eine einzige auf einem Säulenschafte stehende Lampe beleuchtete mit bleichem, flackerndem Lichte die seltsame Szene, die sich den Augen der im Schatten verborgenen Gefährten bot. Den Ellenbogen auf diese Säule gestützt, saß ein Mann und las, den Rücken den Arkaden zuwendend, durch deren Öffnung die Ankömmlinge ihn betrachteten. Es war der Anführer der Bande, Luigi Vampa. Ringsumher sah man in ihren Mänteln liegend oder an eine Steinbank gelehnt etwa zwanzig Räuber; jeder hatte seinen Karabiner im Bereiche der Hand. Im Hintergrunde ging schweigsam, kaum sichtbar und einem Schatten ähnlich, eine Schildwache vor einer Öffnung auf und ab, die man kaum zu unterscheiden vermochte.
Als der Graf glaubte, Franz hätte seine Blicke hinreichend an diesem malerischen Bilde geweidet, legte er den Finger an seine Lippen, um ihm Stillschweigen zu empfehlen, trat, die drei Stufen hinabsteigend, die von dem Gange ins Lager führten, durch die mittlere Arkade in das Gemach und ging auf Vampa zu, der so tief in das Lesen versunken war, daß er das Geräusch seiner Tritte nicht hörte.
Wer da? rief die Schildwache, die bei dem Schimmer der Lampe etwas wie einen Schatten sah, der hinter ihrem Hauptmann immer größer wurde. Bei diesem Ruf erhob sich Vampa rasch und zog gleichzeitig eine Pistole aus seinem Gürtel. In einem Augenblick waren alle Banditen auf den Beinen, und zwanzig Karabinerläufe richteten sich auf den Grafen.
Nun! sagte dieser mit vollkommen ruhiger Stimme und ohne daß eine Muskel seines Gesichtes sich rührte; nun, mein lieber Vampa, es scheint, Ihr macht Euch große Unkosten, um einen Freund zu empfangen.
'runter die Gewehre! rief der Anführer mit einem gebieterischen Zeichen einer Hand, während er mit der andern ehrfurchtsvoll seinen Hut abnahm. Dann, sich gegen den hinwendend, der diese ganze Szene beherrschte, sagte er: Verzeihen Sie, Herr Graf, aber ich war so weit entfernt, die Ehre Ihres Besuches zu erwarten, daß ich Sie nicht erkannte.
Es scheint, Ihr habt in allen Dingen ein kurzes Gedächtnis, Vampa, entgegnete der Graf, und Ihr vergeßt nicht nur das Gesicht der Menschen, sondern auch die Bedingungen, die Ihr mit ihnen eingegangen seid.
Welche Bedingungen habe ich vergessen, Herr Graf? fragte der Bandit, wie ein Mensch, dem alles daran liegt, einen etwa gemachten Fehler wieder gutzumachen.
Sind wir nicht miteinander übereingekommen, daß Euch nicht nur meine Person, sondern auch die meiner Freunde heilig sein soll?
In welcher Beziehung habe ich mich gegen diesen Vertrag verfehlt, Exzellenz?
Ihr habt den Vicomte Albert von Morcerf entführt und hierher gebracht; nun, so wißt, fuhr der Graf mit einem Tone fort, der Franz erbeben ließ, dieser junge Mann gehört zu meinen Freunden, er wohnt in demselben Gasthofe wie ich, er hat acht Tage lang in meinem Wagen den Korso mitgemacht, und dessenungeachtet, ich wiederhole es, habt Ihr ihn entführt, hierher geschleppt und – der Graf zog den Brief aus der Tasche – ein Lösegeld wie für den nächsten besten festgesetzt.
Warum habt ihr mich nicht davon in Kenntnis gesetzt? sagte der Anführer, sich gegen seine Leute wendend, die sämtlich vor seinem Blicke zurückwichen; warum habt ihr mich dem ausgesetzt, daß ich mein Wort breche gegen einen Mann, der unser aller Leben in seinen Händen hat? Bei dem Blute Christi! Wenn ich dächte, einer von euch hätte gewußt, der junge Mann sei der Freund Seiner Exzellenz, ich würde ihm die Hirnschale zerschmettern.
Nun! sprach der Graf, sich an Franz wendend, ich sagte Ihnen, es walte irgend ein Irrtum ob.
Sind Sie nicht allein? fragte Vampa unruhig.
Die Person ist bei mir, an die der Brief gerichtet war; ich wollte ihr beweisen, daß Luigi Vampa ein Mann von Wort ist. Kommen Sie, Exzellenz, sagte er zu Franz, hier ist Luigi Vampa, der Ihnen selbst zu sagen wünscht, er sei in Verzweiflung über den Irrtum, den er begangen hat.
Franz näherte sich; der Banditenführer trat ihm entgegen und sagte: Seien Sie uns willkommen, Exzellenz; Sie haben gehört, was der Herr Graf sagte, und was ich antwortete; ich füge hinzu, gern gäbe ich viertausend Piaster her, könnte ich das Geschehene ungeschehen machen.
Doch wo ist der Gefangene? versetzte Franz, unruhig umherschauend, ich sehe ihn nicht.
Es ist ihm hoffentlich nichts widerfahren, fragte der Graf, die Stirn faltend.
Der Gefangene ist dort antwortete Vampa, auf die Vertiefung deutend, vor welcher der Bandit als Schildwache auf und ab ging; ich werde ihm selbst ankündigen, daß er frei ist.
Der Anführer schritt dem von ihm bezeichneten Orte und zu, und Franz folgte ihm mit dem Grafen.
Der Graf und Franz stiegen, dem Hauptmann folgend, sieben bis acht Stufen hinauf; sobald Vampa einen Riegel gezogen und eine Tür aufgestoßen hatte, konnte man beim Schimmer einer Lampe Albert sehen, der, in einen Mantel gehüllt, in einem Winkel im tiefsten Schlafe lag.
Sieh da, sagte der Graf mit eigentümlichem Lächeln, nicht übel für einen Menschen, der um sieben Uhr erschossen werden sollte.
Vampa schaute den schlafenden Albert mit einer gewissen Bewunderung an; man sah, daß er für einen solchen Beweis von Mut nicht unempfindlich war.
Sie haben recht, Herr Graf, sagte er, dieser Mann muß zu Ihren Freunden gehören. Dann, sich Albert nähernd und ihn an der Schulter berührend, fügte er hinzu: Exzellenz, ist's gefällig, aufzuwachen?
Ah! ah! sagte Albert, Ihr seid es, Hauptmann? Ihr hättet mich, bei Gott! sollen schlafen lassen; ich hatte einen entzückenden Traum; es träumte mir, ich tanze mit der Gräfin G***. Er zog seine Uhr, die man ihm gelassen hatte.
Halb zwei Uhr morgens . . . warum zum Teufel weckt Ihr mich zu dieser Stunde?
Um Ihnen zu sagen, daß Sie frei sind, Exzellenz.
Mein Lieber, erwiderte Albert mit vollkommener Geistesfreiheit, befolgt künftig den Grundsatz des großen Napoleon! Weckt mich nur wegen schlimmer Nachrichten! Hättet Ihr mich schlafen lassen, so würde ich meinen Tanz fortgesetzt haben und wäre Euch mein Leben lang dankbar . . . Man hat also mein Lösegeld bezahlt?
Nein, Exzellenz, einer, dem ich nichts verweigern kann, hat Sie zurückgefordert.
Ah! bei Gott, dieser jemand ist sehr liebenswürdig.
Albert schaute umher, erblickte Franz und rief: Wie, mein lieber Freund, Sie treiben die Ergebenheit so weit?
Nein, nicht ich, sondern der Herr Graf von Monte Christo.
Ah! bei Gott! Herr Graf, sagte Albert heiter, während er seine Krawatte und seine Manschetten ordnete, Sie sind wahrlich ein kostbarer Mann, und ich hoffe, daß Sie mich als Ihnen ewig verbunden ansehen werden. Er reichte dem Grafen die Hand, der sie bebend in die seine nahm.
Der Bandit sah mit erstaunter Miene zu; er war offenbar gewohnt, seine Gefangenen vor sich zittern zu sehen, und hier fand er einen, den seine heitere Laune nicht verlassen hatte. Franz war entzückt, daß Albert selbst einem Banditen gegenüber die Ehre der Nation aufrecht erhielt.
Mein lieber Albert, sagte er zu ihm, wenn Sie sich beeilen wollten, so haben wir noch Zeit, die Nacht bei Torlonia zu beschließen. Sie nehmen Ihren Galopp wieder auf, wo Sie ihn unterbrochen haben, und werden somit keinen Groll gegen den edlen Herrn Luigi bewahren, der sich in der Tat bei dieser ganzen Angelegenheit auf das artigste benommen hat.
Ah! gewiß, versetzte Albert, Sie haben recht, wir können um zwei Uhr dort sein. Herr Luigi, ich wünsche Ihnen ein lustiges Leben. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!
Und Franz und dem Grafen voran ging Albert die Treppe hinab und durchschritt den großen viereckigen Saal. Alle Banditen standen mit dem Hut in der Hand. Der Hauptmann nahm die Fackel aus den Händen des Hirten und ging den Gästen voran, nicht wie ein Diener, sondern wie ein König, der seinen Botschaftern voranschreitet. An der Tür verbeugte er sich und sagte: Und nun, Herr Graf, wiederhole ich meine Entschuldigung, und ich hoffe, daß Sie mir wegen dessen, was geschehen ist, nicht ferner grollen werden.
Nein, mein lieber Vampa, sagte der Graf; Ihr sühnt überdies Eure Irrtümer auf eine so artige Weise, daß man versucht ist, Euch auch dafür, daß Ihr sie begangen habt, Dank zu wissen.
Meine Herren, sagte der Banditenführer, sich nach den jungen Männern umwendend, vielleicht kommt Ihnen mein Anerbieten nicht sehr lockend vor, aber wenn Sie je Lust verspüren, mir einen zweiten Besuch zu machen, so werden Sie, wo ich auch sein mag, stets willkommen sein.
Franz und Albert grüßten, und alle drei gingen hinaus. Sie fanden den Wagen, wo sie ihn gelassen hatten. Der Graf sagte zu Ali ein einziges arabisches Wort, und die Pferde setzten sich in schnellsten Galopp. Es war zwei Uhr, als die Freunde wieder im Tanzsaal erschienen; ihre Rückkehr machte das größte Aufsehen; da sie aber miteinander kamen, so hörte im Augenblick jede Unruhe wegen Alberts auf.
Gnädige Frau, sagte der Vicomte von Morcerf, auf die Gräfin zuschreitend, Sie haben gestern die Güte gehabt, mir einen Galopp zu versprechen, ich komme etwas spät, um Sie an diese entzückende Zusage zu erinnern; doch hier ist ein Freund, dessen Wahrheitsliebe Sie kennen; er wird Ihnen bestätigen, daß ich nicht schuld daran bin.
Und da die Musik in diesem Augenblick mit einem Galopp einsetzte, schlang Albert seinen Arm um die Hüfte der Gräfin und verschwand mit ihr im Wirbel der Tänzer. Während dieser Zeit dachte Franz an den seltsamen Schauder, der den ganzen Leib des Grafen in dem Augenblicke durchlaufen hatte, wo er Albert die Hand gereicht hatte.