Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Zweiter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Die Erzählung.

Vor allem, Herr, sagte Caderousse, vor allem muß ich Sie bitten, mir zu versprechen, daß Sie, wenn Sie von den Umständen Gebrauch machen, die ich Ihnen mitteilen werde, nie sagen, von wem diese Mitteilung herrührt; denn die Leute, von denen ich zu sprechen habe, sind reich und mächtig, und wenn sie mich nur mit dem Finger berührten, würden sie mich wie Glas zerbrechen.

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, ich bin Priester, und die Bekenntnisse sterben in meiner Brust. Erinnern Sie sich, daß wir keinen andern Zweck haben als den, den letzten Willen unseres Freundes würdig zu erfüllen. Sprechen Sie also ohne Schonung, wie ohne Haß, sagen Sie die volle Wahrheit! Ich kenne die Personen nicht, von denen die Rede sein wird, und werde sie wohl nie kennen lernen; überdies bin ich Italiener und nicht Franzose; ich gehöre Gott und nicht den Menschen und kehre in mein Kloster zurück, das ich nur verlassen habe, um den letzten Willen eines Sterbenden zu vollziehen.

Dieses bestimmte Versprechen schien Caderousse einige Sicherheit zu verleihen. In diesem Falle, versetzte er, will und muß ich Ihnen die Täuschung über diejenigen benehmen, die der arme Edmond für treu und redlich hielt.

Fangen Sie mit seinem Vater an, bitte. Edmond hat mit mir viel von dem Greise gesprochen, für den er eine tiefe Liebe hegte.

Diese Geschichte ist traurig, mein Herr, erwiderte Caderousse seufzend. Sie kennen wahrscheinlich den Anfang?

Ja, versetzte der Abbé, Edmond hat mir die Sache bis zu dem Augenblick erzählt, wo er in einer kleinen Schenke in der Nahe von Marseille verhaftet wurde, und nie hat er eine von den fünf Personen wiedergesehen, die ich Ihnen nannte, nie hat er von ihnen sprechen hören.

Nun wohl, als Dantes einmal verhaftet war, lief Herr Morel weg, um Erkundigungen einzuziehen; sie fielen sehr traurig aus. Der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend seinen Hochzeitsrock zusammen, schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und ab und ging abends nicht schlafen; denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht umhergehen; ich muß sagen, ich schlief selbst auch nicht. Der Schmerz dieses armen Vaters tat mir sehr wehe, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz. Am andern Tage kam Mercedes nach Marseille, in der Absicht, den Staatsanwalt um seinen Schutz anzuflehen; sie erreichte nichts; sie besuchte zugleich auch den Greis. Als sie sah, daß er so düster und niedergeschlagen war, daß er die Nacht, ohne sich zu Bette zu legen, zugebracht und seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich nehmen, um ihn zu pflegen; aber der Greis willigte nicht ein. Nein, sagte er, ich werde das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armer Sohn vor allen andern, und wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er zuerst zu mir laufen. Was würde er sagen, wenn ich ihn nicht hier erwartete? Ich belauschte dies alles durch die Wand, denn es wäre mir lieb gewesen, Mercedes hätte ihn bestimmt, ihr zu folgen; der Tag und Nacht über mir erschallende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.

Aber gingen Sie denn nicht selbst zu dem Greise hinauf, um ihn zu trösten? fragte der Priester.

Ah! Herr, erwiderte Caderousse, man tröstet nur die, welche getröstet sein wollen, er aber wollte dies nicht. Überdies kam es mir vor, als hätte er einen Widerwillen gegen meinen Anblick. In einer Nacht jedoch, da ich sein Schluchzen hörte, konnte ich nicht widerstehen und ging hinauf; als ich jedoch an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, er betete. Ich kann Ihnen nicht wiederholen, welche beredten Worte, welche erbarmenswerten Bitten er fand; es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; ich, der ich kein Heuchler bin und die Jesuiten nicht liebe, sagte mir auch an diesem Tage: Es ist ein Glück, daß ich allein bin, und daß der liebe Gott mir keine Kinder geschenkt hat, denn wenn ich Vater wäre und empfände einen Schmerz, wie der arme Greis, und könnte weder in meinem Geiste, noch in meinem Herzen finden, was er dem guten Gotte sagt, so stürzte ich mich geradenwegs ins Meer, um nicht länger zu leiden.

Armer Vater! murmelte der Priester.

Von Tag zu Tag lebte er einsamer und abgeschiedener; Herr Morel und Mercedes kamen oft, ihn zu besuchen, aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ich bestimmt wußte, daß er zu Hause war. Als er eines Tages, gegen seine Gewohnheit, Mercedes einließ und das arme Kind, selbst in Verzweiflung, ihn zu trösten suchte, sagte er: Glaube mir, meine Tochter, er ist tot . . . und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns. Ich bin sehr glücklich, denn ich bin älter und werde ihn folglich zuerst wiedersehen.

Bei aller Gutmütigkeit hört man am Ende doch auf, die Menschen zu besuchen, die einen traurig machen; so blieb der alte Dantes zuletzt ganz allein. Ich sah nur noch von Zeit zu Zeit unbekannte Leute zu ihm hinaufgehen, die mit irgend einem schlecht verborgenen Päckchen zurückkamen; ich begriff, welche Bewandtnis es mit diesen Päckchen hatte; er verkaufte nach und nach, was er besaß, um zu leben. Endlich nahm es bei dem guten Mann ein Ende mit seiner armseligen Habe . . . Er war drei Mietzinse schuldig, man drohte ihm mit Hinauswerfen. Er bat um acht Tage Geduld, die man ihm bewilligte. Ich erfuhr diesen Umstand, weil der Hauseigentümer mich gleich darauf besuchte. Während der drei ersten Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und ab gehen; am vierten . . . vernahm ich nichts mehr . . . Ich ging hinauf, die Tür war verschlossen; durch das Schlüsselloch sah ich den Greis jedoch so bleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt, Herrn Morel benachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide eilten herbei; Herr Morel brachte einen Arzt; der Arzt erkannte eine Magendarmentzündung und verordnete Diät. Ich war dabei, Herr, und werde nie das Lächeln des Greises bei dieser Verordnung vergessen. Von nun an öffnete er seine Tür, er hatte eine Entschuldigung, daß er nicht mehr aß; der Arzt hatte Diät verordnet.

Der Abbé stieß einen Seufzer aus.

Mercedes kam wieder; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erste Mal in ihr Haus bringen lassen wollte. Es war dies auch Herrn Morels Ansicht, der ihn mit Gewalt dorthin schaffen wollte; doch der Greis schrie dergestalt, daß sie Angst bekamen. Mercedes blieb an seinem Bett. Herr Morel entfernte sich, nachdem er Mercedes durch ein Zeichen bedeutet hatte, er lasse eine Börse auf dem Kamine. Aber auf Grund der Verordnung des Arztes wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Endlich, nach neun Tagen der Verzweiflung und Enthaltsamkeit, verschied er mit Flüchen für die Urheber seines Unglücks. Zu Mercedes aber sagte er noch: Wenn du meinen Edmond wiedersiehst, so sage ihm, ich sei, ihn segnend, gestorben.

Der Abbé stand auf und ging zweimal im Zimmer auf und ab, wobei er seine zitternde Hand an seine trockene Kehle legte.

Und Sie glauben, er starb . . .

Hungers, mein Herr, Hungers, dafür stehe ich, so wahr wir hier zwei Christen sind, antwortete Caderousse.

Der Abbé ergriff mit krampfhafter Hand noch das halbvolle Glas, leerte es auf einen Zug und setzte sich nieder, die Augen gerötet und die Wangen bleich.

Gestehen Sie, daß dies ein großes Unglück ist, sagte er mit heiserer Stimme.

Um so größer, mein Herr, als es nicht Gott herbeigeführt hat, sondern die Menschen allein schuld daran sind.

Wenden wir uns also diesen Menschen zu, doch vergessen Sie nicht, rief der Abbé mit beinahe drohender Miene, Sie haben mir alles zu sagen versprochen; wer sind die, denen es zuzumessen ist, daß der Sohn vor Verzweiflung und der Vater vor Hunger starb?

Zwei Menschen, die auf ihn eifersüchtig waren, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernand und Danglars.

Was haben sie aus Eifersucht getan?

Sie denunzierten Edmond als bonapartistischen Agenten.

Welcher von beiden tat es? Welcher von beiden ist der wahre Schuldige?

Beide, Herr; Danglars schrieb die Anzeige mit der linken Hand, um seine Schrift zu verstellen, und Fernand schickte sie ab.

Ja, so ist es, murmelte der Abbé . . . Oh! Faria! Faria! wie gut kanntest du die Menschen! Waren Sie auch dabei?

Ich? versetzte Caderousse erstaunt, wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?

Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war, und erwiderte: Niemand; doch um alle diese Einzelheiten so genau zu kennen, müssen Sie notwendig Zeuge gewesen sein.

Das ist wahr, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, ich war dabei.

Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt? Folglich sind Sie ein Mitschuldiger!

Herr, sie hatten mich so trunken gemacht, daß ich beinahe die Vernunft verlor. Ich sah nur noch durch eine Wolke. Alles, was ein Mensch in einem solchen Zustande sagen kann, sagte ich, aber beide erwiderten, sie hätten nur einen Scherz machen wollen, und dieser Scherz hätte keine Folgen.

Doch am andern Tage sahen Sie, daß er Folgen hatte; Sie sagten aber nichts und waren dabei, als man ihn verhaftete.

Ja, Herr, ich war dabei und wollte alles sagen, Danglars hielt mich jedoch zurück. Wenn er etwa schuldig ist, sagte er zu mir, wenn er wirklich an der Insel Elba angehalten, wirklich einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris mitgenommen hat, wenn dieser Brief bei ihm gefunden wird, so werden die, welche ihn unterstützt haben, als seine Mitschuldigen betrachtet werden. Ich fürchtete mich und schwieg; ich gestehe, es war Feigheit, aber kein Verbrechen.

Ich begreife, Sie ließen die Sache eben gehen.

Ja, Herr, und das plagt mein Gewissen bei Tag und bei Nacht. Ich schwöre Ihnen, ich bitte Gott sehr oft um Verzeihung, und zwar um so mehr, als diese Handlung, die einzige, die ich mir in meinem ganzen Leben vorzuwerfen habe, ohne Zweifel die Ursache meines Unglücks ist. Ich büße einen Augenblick der Selbstsucht und sage auch immer zu Carconte, wenn sie sich beklagt: Schweig, Frau, Gott will es so.

Und Caderousse neigte das Haupt mit allen Zeichen wahrer Reue.

Gut, sagte der Abbé, Sie haben offenherzig gesprochen; sich so anklagen heißt Verzeihung verdienen.

Leider ist Edmond tot und hat mir nicht verziehen.

Er wußte es nicht.

Aber nun weiß er es vielleicht, sagte Caderousse. Man sagt, die Toten wissen alles.

Es trat ein kurzes Stillschweigen ein; der Abbé war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab; dann kehrte er zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder.

Sie haben mir schon zwei- oder dreimal einen gewissen Herrn Morel genannt, sagte er. Wer war dieser Mann?

Der Reeder des Pharao, Dantes' Patron.

Und welche Rolle spielte er in dieser traurigen Geschichte?

Die Rolle eines redlichen, mutigen, liebevollen Mannes. Zwanzigmal verwendete er sich für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieb er, bat er, drohte er dermaßen, daß er bei der zweiten Restauration als Bonapartist hart verfolgt wurde. Zwanzigmal kam er, wie ich Ihnen sagte, zu Dantes' Vater, um ihn in sein Haus zu nehmen, und einen oder zwei Tage vor seinem Tode ließ er, wie ich ebenfalls erwähnte, eine Börse auf dem Kamine, womit man die Schulden des guten Mannes bezahlte und seine Beerdigung besorgte, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne jemand unrecht zu tun. Ich habe die Börse noch, eine große Börse von roter Seide.

Und dieser Herr Morel lebt noch? – Ja.

Dann muß er ein vom Himmel gesegneter Mann, er muß reich, er muß glücklich sein.

Caderousse lächelte bitter und erwiderte: Ja, wie ich.

Wie, Herr Morel wäre unglücklich? rief der Abbé.

Er ist der Armut nahe, mehr noch, er steht an der Grenze der Schande. Ja, nach 25jähriger Arbeit, nachdem er die ehrenvollste Stellung in der Marseiller Handelswelt erlangt hatte, ist Herr Morel völlig zu Grunde gerichtet. Er hat in zwei Jahren fünf Schiffe verloren, drei Bankerotte erlitten, und seine einzige Hoffnung steht nun auf eben diesem Pharao, den der arme Dantes kommandierte; dieses Schiff soll mit einer Ladung Cochenille und Indigo aus Indien zurückkommen; bleibt es auch aus, wie die andern, so ist er verloren.

Hat der Unglückliche Frau und Kinder? fragte der Abbé.

Ja, er hat eine Frau, die sich wie eine Heilige benimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten sollte, den sie liebt, den aber seine Familie ein zu Grunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will; er hat endlich einen Sohn, der Leutnant ist. Doch Sie begreifen: alles dies verdoppelt den Schmerz des Armen, statt ihn zu mildern. Wäre er allein, so würde er sich einfach die Hirnschale zerschmettern.

Das ist furchtbar! murmelte der Abbé.

So belohnt Gott die Tugend! sagte Caderousse. Ich, der, abgesehen von dem, was ich Ihnen erzählte, nie eine schlechte Handlung begangen hat, bin im Elend. Wenn ich meine arme Frau am Fieber habe hinscheiden sehen, ohne etwas für sie tun zu können, werde ich Hungers sterben, wie der alte Dantes, während Fernand und Danglars sich auf dem Golde wälzen.

Wieso?

Weil sich bei ihnen alles zum Guten gewendet hat, wie sich bei ehrlichen Leuten alles zum Schlimmen wendet.

Was ist aus Danglars, dem Schuldigsten, dem Anstifter, geworden?

Er hat Marseille verlassen und ist auf Herrn Morels Empfehlung, der nichts von seinem Verbrechen wußte, bei einem spanischen Bankier als Commis eingetreten. Zur Zeit des spanischen Krieges beteiligte er sich an den Lieferungen für das französische Heer und hatte Glück; mit diesem ersten Gelde spielte er in Papieren und verdreifachte, vervielfachte sein Vermögen. Witwer von der Tochter des Bankiers, heiratete er sodann eine Witwe, Frau von Nargonne, Tochter des Herrn von Servieux, der Kammerherr des gegenwärtigen Königs ist und sich der höchsten Gunst erfreut. Er hatte sich zum Millionär gemacht, erhielt dann den Grafentitel und hat nun einen Palast in der Rue du Mont Blanc, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lakaien in seinem Vorzimmer, und ich weiß nicht wieviel Millionen in seinen Kassen.

Ah! rief der Abbé mit einem seltsamen Ausdrucke, und er ist glücklich?

Glücklich . . . wer kann das sagen? Macht ein großes Vermögen das Glück aus, so ist Danglars glücklich.

Und Fernand?

Fernand war noch glücklicher, er hat zugleich Vermögen und Stellung; er wurde bald nach Dantes' Verhaftung zum Heere ausgehoben; ich ebenfalls, und da ich älter als Fernand und verheiratet war, so verwandte man mich beim Dienst an der Küste. Fernand wurde den aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze und wohnte der Schlacht bei Ligny bei. In der Nacht, die auf das Treffen folgte, stand er Schildwache vor der Tür eines Generals, der in geheimer Verbindung mit dem Feinde stand. In derselben Nacht sollte der General mit den Engländern eine Zusammenkunft haben; er schlug Fernand vor, ihn zu begleiten. Dieser willigte ein, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernand vor ein Kriegsgericht gebracht hätte, wenn Napoleon auf dem Throne geblieben wäre, diente ihm bei den Bourbonen zur Empfehlung. Er kehrte nach Frankreich als Unterleutnant zurück, und durch die Gunst des sehr angesehenen Generals wurde er 1823 Kapitän. Fernand war Spanier; er wurde deshalb in diplomatischen Diensten nach Madrid geschickt. Hier leistete er seinem Vaterlande so gute Dienste und bewährte sich in dem folgenden spanischen Feldzug so, daß er nach der Einnahme von Trocadero zum Obersten ernannt wurde und das Offizierskreuz der Ehrenlegion mit dem Baronentitel erhielt.

Verhängnis! Verhängnis! murmelte der Abbé.

Ja, doch hören Sie, das ist noch nicht alles. Als der Krieg beendigt war, fand Fernand, daß er bei dem langen Frieden, der in Westeuropa nun vorauszusehen war, wenig Aussicht auf Beförderung habe. Er erbat demnach von der Regierung die Erlaubnis, in den Reihen der griechischen Freiheitskämpfer gegen die Türkei zu dienen, während er doch in der französischen Armeeliste fortgeführt wurde. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß der Baron von Morcerf, dies war der Name, den er führte, in die Dienste Ali Paschas mit dem Grade eines Generalinstruktors eingetreten war. Ali Pascha wurde getötet; aber ehe er starb, belohnte er Fernands Dienste, indem er ihm eine beträchtliche Summe zustellen ließ, mit der er nach Frankreich zurückkehrte, wo ihm sein Grad als Generalleutnant bestätigt wurde.

Und heute? fragte der Abbé.

Heute ist er Graf, Deputierter und besitzt ein prachtvolles Haus in Paris, Rue du Helder Nr. 27.

Der Abbé öffnete den Mund, zögerte einen Augenblick und sagte dann, sich selbst bezwingend: Und Mercedes? Man hat mir versichert, sie sei verschwunden.

Verschwunden, wie die Sonne verschwindet, um am andern Tage glänzender aufzugehen.

Sie hat also ebenfalls ihr Glück gemacht? fragte der Abbé mit ironischem Lächeln.

Mercedes ist in diesem Augenblicke eine der vornehmsten Damen von Paris, antwortete Caderousse.

Fahren Sie fort, sagte der Abbé; es ist mir, als hörte ich die Erzählung eines Traumes. Aber ich habe selbst so außerordentliche Dinge erlebt, daß mich die, welche Sie mir mitteilen, weniger in Erstaunen setzen.

Mercedes war anfangs in Verzweiflung über den Schlag, der ihr Edmond raubte. Ich sprach bereits von ihren Bitten bei dem Staatsanwalt und von ihrer Ergebenheit für Dantes' Vater. Mitten in ihrer Verzweiflung traf sie ein neuer Schmerz, das Scheiden Fernands, den sie, mit seinem Verbrechen nicht bekannt, als ihren Bruder betrachtete. Fernand reiste als Konskribierter zum Heer, Mercedes blieb allein.

Drei Monate verliefen für sie in Tränen; keine Kunde von Edmond, keine Nachricht von Fernand, nichts vor Augen, als einen Greis, der in seiner Verzweiflung hinstarb. Weder Geliebter, noch Freund war ihr geblieben. Plötzlich kam es ihr vor, als hörte sie einen bekannten Tritt; sie wandte sich ängstlich um, die Tür ging auf, und Fernand erschien in seiner Unterleutnants-Uniform. Es war nicht die Hälfte dessen, was sie beweinte, aber es war doch ein Teil ihres vergangenen Lebens, was zu ihr zurückkehrte. Sie faßte Fernands Hände mit einem Entzücken, das dieser für Liebe hielt, während es nur die Freude war, nicht mehr allein auf der Welt zu sein und endlich nach langen Stunden einsamer Trauer einen Freund wiederzusehen. Auch muß ich sagen, Fernand war ihr nie verhaßt gewesen, nur hatte sie ihn nie geliebt. Ein anderer besaß ihr ganzes Herz; dieser andere aber war abwesend, verschwunden, vielleicht tot. Bei diesem letzten Gedanken brach Mercedes in Schluchzen aus und rang die Hände vor Schmerz; aber der Gedanke, den sie verwarf, wenn er ihr von einem andern zugeflüstert wurde, kehrte jetzt von selbst in ihrem betrübten Geiste ein. Überdies sagte der alte Dantes unablässig zu ihr: Unser Edmond ist tot, denn wenn er nicht tot wäre, käme er zu uns zurück.

Der Greis starb, wie gesagt; hätte er gelebt, so würde Mercedes vielleicht nie die Frau eines andern geworden sein; denn er wäre da gewesen, um ihr ihre Untreue vorzuwerfen. Fernand sah dies ein. Als er daher den Tod des Greises erfuhr, kehrte er zurück. Diesmal war er Leutnant. Bei seiner ersten Reise hatte er Mercedes kein Wort von Liebe gesprochen, bei der zweiten erinnerte er sie an seine heiße Zuneigung. Ein Jahr war inzwischen vergangen; sie forderte noch sechs Monate, um Edmond zu erwarten und zu beweinen.

Das macht im ganzen achtzehn Monate, sagte der Abbé mit bitterem Lächeln. Was kann der angebetetste Geliebte mehr fordern? Dann murmelte er die Worte des englischen Dichters: Schwachheit, dein Name ist Weib.

Sechs Monate nachher, fuhr Caderousse fort, fand die Hochzeit in der Kirche des Accoules statt.

Es war dieselbe Kirche, in der sie Edmond heiraten sollte, murmelte der Abbé, nur war's ein anderer Bräutigam.

Mercedes heiratete also, sagte Caderousse; doch obgleich sie allen Augen ruhig erschien, wurde sie doch ohnmächtig, als sie vor der Reserve vorbeikam, wo achtzehn Monate vorher ihre Verlobung mit dem gefeiert worden war, den sie noch liebte, wenn sie in den Grund ihres Herzens zu sehen wagte. Glücklicher, aber nicht ruhiger, – denn ich sah ihn in jener Zeit, und er fürchtete beständig die Rückkehr Edmonds, – war Fernand sogleich darauf bedacht, seine Frau aus der Gegend zu entfernen und sich selbst zu verbannen; er hatte zugleich zu viele Gefahren zu befürchten und zu viele Erinnerungen zu bekämpfen, wenn er bei den Kataloniern blieb. Acht Tage nach der Hochzeit reisten sie ab.

Sahen Sie Mercedes wieder? fragte der Priester.

Ja, zur Zeit des spanischen Krieges, in Perpignan, wo Fernand sie zurückgelassen hatte; sie beschäftigte sich damals mit der Erziehung ihres Sohnes.

Der Abbé bebte. Ihres Sohnes? sagte er.

Ja, antwortete Caderousse, des kleinen Albert.

Aber um den Sohn zu erziehen, sagte der Abbé, muß sie wohl selbst erst noch eine Ausbildung erhalten haben? Es ist mir, als hätte ich von Edmond gehört, sie sei die Tochter eines einfachen Fischers, schön, aber ungebildet gewesen?

Oh, kannte er denn seine Braut so schlecht? versetzte Caderousse. Mercedes hätte Königin werden können, wenn die Krone nur auf den schönsten und gescheitesten Köpfen getragen werden sollte. Als ihre Verhältnisse besser wurden, lernte sie wohl auch zeichnen, Musik und was weiß ich alles, aber ich glaube, unter uns gesagt, daß sie dies alles nur tat, um sich zu zerstreuen, um zu vergessen, und daß sie nur so viele Dinge in ihren Kopf brachte, um das zu betäuben, was ihr Herz erfüllte. Nun scheint es jetzt, Vermögen und Ehre haben sie ohne Zweifel getröstet. Sie ist reich, sie ist Gräfin, und dennoch . . . – Caderousse schwieg.

Was dennoch?

Dennoch bin ich überzeugt, daß sie nicht glücklich ist.

Warum glauben Sie das?

Als ich selbst gar sehr im Elend war, dachte ich, meine ehemaligen Freunde würden mich unterstützen. Ich begab mich zu Danglars, der mich nicht einmal empfing. Ich ging zu Fernand, und dieser ließ mir hundert Franken durch seinen Kammerdiener zustellen.

Also sahen Sie weder den einen noch den andern?

Nein, aber Frau von Morcerf hat mich gesehen. – Während ich hinausging, fiel eine Börse zu meinen Füßen! Sie enthielt fünfundzwanzig Louisd'or. Ich schaute rasch empor und erblickte Mercedes, die den Laden wieder schloß.

Und der Staatsanwalt, Herr von Villefort? fragte der Abbé.

Oh! er war nicht mein Freund gewesen, ich kannte ihn nicht und hatte nichts von ihm zu fordern.

Doch wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist, und welchen Teil er an Edmonds Unglück gehabt hat?

Nein, ich weiß nur, daß er einige Zeit, nachdem er Edmond hatte verhaften lassen, Fräulein von Saint-Meran heiratete und bald darauf Marseille verließ. Ohne Zweifel hat ihm das Glück gelächelt, wie den anderen, ohne Zweifel ist er reich wie Danglars, geachtet wie Fernand; ich allein bin, wie Sie sehen, arm, elend und von Gott vergessen geblieben.

Sie täuschen sich, mein Freund, sagte der Abbé, Gott kann zuweilen scheinbar vergessen, wenn seine Gerechtigkeit ruht, aber es kommt immer ein Augenblick, wo er sich erinnert, und hier ist der Beweis davon.

Bei diesen Worten zog der Abbé den Diamanten aus der Tasche, reichte ihn Caderousse und sagte: Nehmen Sie diesen Diamanten, er gehört Ihnen.

Wie, mir allein? rief Caderousse; oh! Herr, Sie scherzen?

Dieser Diamant sollte unter Edmonds Freunde verteilt werden! Edmond hatte nur einen Freund, die Verteilung wird also unnötig. Nehmen Sie den Stein und verkaufen sie ihn; ich wiederhole, er ist fünfzigtausend Franken wert, und diese Summe wird hoffentlich genügen, um Sie der Armut zu entziehen.

Oh! Herr, sagte Caderousse schüchtern, eine Hand ausstreckend und mit der andern den Schweiß abwischend, der auf seiner Stirn perlte, oh! Herr, treiben Sie nicht Spott mit dem Glück und der Verzweiflung eines Menschen.

Ich weiß, was Glück und was Verzweiflung ist, und werde nie damit Kurzweil treiben. Nehmen Sie; dagegen . . .

Caderousse, der bereits den Diamanten berührte, zog seine Hand zurück.

Dagegen, fuhr der Abbé lächelnd fort, geben Sie mir die rote seidene Börse, die Herr Morel auf dem Kamin des alten Dantes zurückließ.

Immer mehr erstaunt, ging Caderousse an einen großen Schrank von Eichenholz, öffnete ihn und reichte dem Abbé eine lange Börse von erbleichter roter Seide; der Abbé nahm sie und gab dafür Caderousse den Diamanten.

Oh! Sie sind ein Mann Gottes, rief Caderousse, denn es wußte in der Tat niemand, daß Edmond Ihnen den Diamanten übergeben hatte, und Sie konnten ihn behalten.

Gut, sagte der Abbé zu sich selbst, du hättest es getan, wie mir scheint.

Der Abbé stand auf, nahm seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: Ist alles, was Sie gesagt haben, wahr, und kann ich Ihnen in allen Punkten glauben?

Sehen Sie, Herr Abbé, antwortete Caderousse, dort in jener Ecke ist ein Christus von geweihtem Holze, hier auf dieser Kiste liegt das Evangelienbuch meiner Frau, öffnen Sie dieses Buch, und ich will Ihnen darauf schwören, ich schwöre Ihnen bei dem Heile meiner Seele, bei meinem christlichen Glauben, daß ich Ihnen alles so gesagt habe, wie es vorgefallen ist.

Es ist gut, sagte der Abbé, überzeugt, daß Caderousse die Wahrheit gesagt habe, es ist gut; möge Ihnen dieses Geld Nutzen bringen! Leben Sie wohl, ich kehre zurück, um fern von den Menschen zu leben, die so viel Böses tun.

Und sich mit Mühe den begeisterten Ergüssen Caderousses entziehend, verließ der Abbé das Zimmer, stieg zu Pferde, grüßte zum letztenmal den Wirt, der sich in geräuschvollen Abschiedsworten sozusagen verwickelte, und entfernte sich in der Richtung, in der er gekommen war.

Als sich Caderousse umwandte, sah er hinter sich die Carconte, bleicher und zitternder als je.

Ist es wahr, was ich gehört habe? sagte sie.

Was? Daß er uns den Diamanten für uns ganz allein gegeben hat? entgegnete Caderousse beinahe närrisch vor Freude.

Und wenn er falsch wäre? sagte sie.

Falsch, murmelte er, falsch . . . Und warum sollte mir dieser Mann einen falschen Diamanten gegeben haben?

Um dein Geheimnis zu besitzen, ohne es zu bezahlen, Schwachkopf!

Caderousse blieb einen Augenblick wie betäubt von dem Gewichte dieser Mutmaßung, bald aber nahm er seinen Hut, setzte ihn auf das rote um seinen Kopf gewickelte Taschentuch und rief: Oh! das werden wir wohl erfahren.

Auf welche Art?

Es ist Messe in Beaucaire, es sind Pariser Juweliere dort, ich will ihnen den Stein zeigen. Hüte das Haus, Frau, in zwei Stunden bin ich zurück.

Und er stürzte aus dem Hause und lief auf der Straße fort. Fünfzigtausend Franken, murmelte die Carconte, als sie allein war, das ist Geld . . . aber es ist kein Vermögen.


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