Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Zweiter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Der Schatz.

Die Sonne hatte ungefähr ein Drittel ihres Tageslaufes zurückgelegt, und ihre Strahlen fielen warm und belebend auf die Felsen. Tausende von Grillen ließen im Heidekraut ihr eintöniges, unablässiges Zirpen vernehmen, und in der Ferne sah man auf den Felsen wilde Ziegen springen, die zuweilen einen Jäger auf die Insel locken; mit einem Worte, das Eiland war voll Leben. Dennoch fühlte sich Edmond allein in Gottes Hand, und es erfaßte ihn etwas wie Furcht. Dieses Gefühl war so stark, daß er, als er zur Arbeit schreiten wollte, innehielt, seine Hacke niederlegte, die Flinte wieder aufnahm, zum letztenmal den höchsten Felsen der Insel erstieg und einen weiten Blick über seine Umgebung warf. Alles, was er sah, beruhigte ihn; die Brigantine, die bei Tagesanbruch die Anker gelichtet hatte, war am Horizont verschwunden, die Tartane fuhr in entgegengesetzter Richtung an Korsika hin. Er faßte nun seine nähere Umgebung ins Auge. Kein Mensch war auf der Insel sichtbar, keine Barke an ihrem Gestade, nichts als das azurblaue Meer, das den Strand peitschte. Dann stieg er mit raschen Schritten, aber vorsichtig hinab; er hütete sich ängstlich vor einem Unfall, wie er ihn so geschickt und erfolgreich seinen Gefährten vorgetäuscht hatte.

Dantes war, wie gesagt, den Spuren der in den Felsen gehauenen Zeichen rückwärts gefolgt und hatte gesehen, daß sie zu einer kleinen, verborgenen Bucht führten, die tief genug war, daß ein kleines Fahrzeug darin ankern konnte. Er sagte sich, der Kardinal Spada sei, in der Absicht, nicht bemerkt zu werden, in dieser Bucht gelandet, habe sein kleines Fahrzeug darin versteckt, die gezeichnete Linie verfolgt und an ihrem Ende seinen Schatz vergraben. In dieser Annahme war Dantes wieder zu dem runden Felsen gelangt. Nur eins beunruhigte ihn und machte ihn wankend in seiner Vermutung. Wie hatte man ohne gewaltige Kraftanstrengung diesen Felsen, der etwa fünfzig Zentner schwer war, auf die Stelle hinaufbringen können, auf der er jetzt ruhte?

Plötzlich kam Dantes ein Gedanke. Konnte man den Felsen nicht auch von oben heruntergebracht haben? Und er eilte hinauf, um die Stelle des ersten Standortes zu suchen. Er erkannte in der Tat bald, daß der Fels herabgeglitten war und an der Stelle Halt gemacht hatte, wo ihm ein anderer Fels als Untersatz diente. Steine und Kiesel waren sorgfältig wieder so gelegt worden, daß man die vorgenommene Änderung nicht merkte. Pflanzenerde war darauf gedeckt worden. Gras war gewachsen, und Moos hatte sich ausgebreitet. Dantes nahm vorsichtig die Erde weg und erkannte, wie sinnreich die Sache angelegt war. Dann fing er an, mit der Hacke die im Laufe der Zeit dicht gewordene Zwischenmauer anzugreifen.

Nach einer Arbeit von zehn Minuten gab die Mauer nach, und es entstand ein Loch, durch das man den Arm schieben konnte. Dantes fällte nun einen starken Olivenbaum, steckte ihn in das Loch und machte so einen Hebel daraus; aber der Fels war zu schwer und zu fest durch den unteren Felsen unterlegt, als daß eine menschliche Kraft ihn hätte erschüttern können. Da wurde ihm klar, daß er diese Unterlage selbst angreifen müsse, aber durch welches Mittel? Er schaute spähend umher, und sein Blick fiel auf sein Pulverhorn, das ihm sein Freund Jacopo zurückgelassen hatte; er lächelte: des Pulvers Kraft sollte das Werk verrichten.

Mit Hilfe seiner Hacke grub Dantes zwischen dem oberen und unteren Felsen einen Minengang, dann stopfte er ihn mit Pulver voll, fädelte sein Taschentuch aus, rollte es in Salpeter und machte eine Lunte daraus. Sobald die Lunte brannte, entfernte er sich. Die Explosion ließ nicht auf sich warten; der obere Fels wurde einen Augenblick durch die gewaltige Kraft aufgehoben, der untere zersprang in Stücke.

Dantes näherte sich. Nunmehr ohne Stütze, neigte sich der obere Fels gegen den Abgrund. Der unermüdliche Sucher ging um ihn herum, wählte eine von den schwankendsten Stellen, stützte seinen Hebel an eine der Ecken und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Felsen. Schon wankte dieser, und als Dantes seine Anstrengung verdoppelte, gab er endlich nach, rollte, stürzte nieder und verschwand, im Meer versinkend. Er ließ einen kreisförmigen Platz entblößt und brachte einen eisernen Ring an den Tag, der mitten in eine Platte von viereckiger Form gelötet war.

Dantes stieß bei diesem glänzenden Erfolge einen Schrei der Freude und des Erstaunens aus. Dann steckte er seinen Hebel in den Ring und hob ihn kräftig empor. Die Platte öffnete sich, und eine Art von Treppe wurde sichtbar, die sich im Schatten einer immer dunkler werdenden Grotte verlor.

Dantes blieb eine Minute unbeweglich. Dann aber stieg er hinab, ein Lächeln auf den Lippen, und murmelte das letzte Wort der menschlichen Weisheit: Vielleicht . . .

Aber statt der Finsternis, die er zu finden erwartet hatte, statt einer undurchsichtigen, schlechten Atmosphäre, sah er nur einen Schimmer sanften, bläulichen Tageslichtes. Luft und Licht drangen nicht nur durch die Öffnung, die er gemacht hatte, sondern auch durch Felsspalten des oberen Bodens, durch die man das Azur des Himmels erblickte, auf dem die zitternden Zweige der grünen Eichen und die dornigen Brombeerstauden spielten. Nach einem Aufenthalte von ein paar Sekunden, vermochte sein an die Finsternis gewöhnter Blick die entferntesten Winkel der aus glitzerndem Granit bestehenden Höhle zu erforschen. Dantes erinnerte sich des Testaments, das er auswendig wußte: In der entferntesten Ecke der zweiten Öffnung.

Er war aber nur in die erste Grotte gedrungen und mußte nun den Eingang in die zweite suchen. Diese mußte natürlich in das Innere der Insel verlaufen. Er untersuchte die Steinlagen und schlug an eine Wand, von der er bestimmt glaubte, daß sich hinter ihr die zweite Höhle befinde. Die Hacke entlockte dem Felsen einen matten Ton. Endlich kam es dem beharrlichen Gräber vor, als ob ein Teil der Granitmauer ein dumpferes, tieferes Echo gebe. Er näherte seinen glühenden Blick der Wand und erkannte mit den scharfen Augen des Gefangenen, daß hier eine Öffnung sein mußte. Um sich jedoch keine unnötige Arbeit zu machen, untersuchte er auch die anderen Wände mit seiner Hacke, prüfte den Boden mit dem Schafte seiner Flinte, durchwühlte den Sand an verdächtigen Stellen und kehrte, als er nichts fand, nichts erkannte, zu dem Teile der Wand zurück, der den tröstlichen Ton von sich gab. Hier mußte er wühlen und ging kräftig an die Arbeit. Nach einigen Schlägen bemerkte er, daß die Steine nicht festgemauert, sondern nur übereinander gelegt und mit einem Anwurf bedeckt waren. Edmond steckte das Eisen der Hacke in eine Spalte, drückte auf den Stiel und sah zu seiner großen Freude den Stein wie auf Angeln rollen und zu seinen Füßen fallen. Nun hatte er nur noch jeden Stein mit dem eisernen Zahn der Hacke an sich zu ziehen, und einer nach dem andern rollte zu dem ersten.

Die zweite Grotte war niedriger, düsterer und sah furchtbarer aus als die erste. Die Luft, die nur durch die soeben gemachte Öffnung eindrang, erfüllte schwefliger Geruch, den Dantes zu seinem Erstaunen in der ersten nicht gefunden hatte. Er ließ der äußeren Luft Zeit, diese tote Atmosphäre wieder zu beleben, und trat dann ein. Links von der Öffnung war eine tiefe, finstere Ecke, die jedoch für Dantes' scharfe Augen nicht undurchdringlich war. Er untersuchte die zweite Grotte, aber auch sie war leer wie die erste. Der Schatz mußte also, wenn überhaupt vorhanden, in der düstern Ecke vergraben sein.

Nun ergriff ihn aber die Angst der Bangigkeit; er hatte nur noch zwei Fuß Erde zu durchwühlen, und der Erfolg mußte ihm entweder die höchste Freude oder die höchste Verzweiflung bereiten. Unverzüglich griff er zur Hacke und schlug auf den Boden. Beim fünften oder sechsten Hiebe erklang Eisen. Daneben fand er denselben Widerstand, aber nicht denselben Ton. Es ist eine hölzerne Kiste mit eisernen Reifen, sagte er.

In diesem Augenblick zog ein rascher Schatten vorüber. Dantes ließ seine Hacke fallen, ergriff seine Flinte, schlüpfte durch die Öffnung und stürzte hinaus. Eine wilde Ziege war beim Eingang zur ersten Grotte vorüber gesprungen und weidete einige Schritte davon. Dantes schnitt einen harzigen Baum ab, entzündete ihn an dem noch rauchenden Feuer, an dem die Schmuggler ihr Frühstück bereitet hatten, und kehrte mit dieser Fackel zurück. Er näherte die Fackel der Ecke und erkannte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Seine Streiche hatten abwechselnd das Eisen und das Holz getroffen. Er steckte nun seine Fackel in die Erde und ging wieder ans Werk. In einem Augenblicke war eine drei Fuß lange und etwa zwei Fuß breite Stelle frei, und Dantes vermochte eine Kiste zu erkennen, die mit Reifen von ziseliertem Eisen umlegt war. In der Mitte des Deckels glänzte auf silberner Platte das Wappen der Familie Spada, ein pfahlartig auf ovalem Wappenschild ruhendes Schwert und darüber ein Kardinalshut.

Im Augenblick war die ganze Umgebung der Kiste abgeräumt, und Dantes sah nach und nach das mittlere Schloß, das zwischen zwei Vorlegschlössern angebracht war, und die beiden Griffe an der Seite erscheinen. Er faßte die Kiste an den Griffen und suchte sie aufzuheben; es war unmöglich. Er wollte sie öffnen, aber die Schlösser waren geschlossen und schienen als getreue Wächter ihren Schatz nicht herausgeben zu wollen. Er schob die schneidende Seite seiner Hacke zwischen die Kiste und den Deckel, drückte auf den Stiel, und der Deckel krachte und zersprang.

Ein schwindelartiges Fieber ergriff Dantes, er nahm seine Flinte und stellte sie mit gespanntem Hahn neben sich. Anfangs schloß er die Augen, wie es Kinder tun, um in der funkelnden Nacht ihrer Einbildungskraft mehr Sterne zu sehen, als sie am gestirnten Himmel zählen können, dann öffnete er sie wieder und blieb geblendet.

Drei Abteilungen enthielt die Kiste; in der ersten glänzten die Goldtaler mit ihren rötlichgelben Reflexen, in der zweiten befanden sich in guter Ordnung aufgereihte, aber schlecht geglättete Goldstangen, aus der dritten endlich, die halb voll war, zog Dantes handvollweise Diamanten, Perlen, Rubine heraus. Nachdem er berührt, betastet, seine bebenden Hände in Gold und Edelsteinen gebadet hatte, erhob er sich wieder und lief durch die Höhlen, vor Erregung zitternd, wie ein Mensch, der dem Wahnsinne nahe ist. Er sprang auf einen Felsen, von wo er das Meer überschauen konnte, und sah nichts; er war allein, ganz allein mit diesen unberechenbaren, unerhörten, fabelhaften Reichtümern, die ihm gehörten. Er war ungewiß, ob er wache oder träume. War es ein flüchtiger Traum, oder umfaßte er die Wirklichkeit?

Er mußte sein Gold wiedersehen, und dennoch fühlte er, daß er in dieser Minute nicht die Kraft hatte, seinen Anblick zu ertragen. Er drückte einen Augenblick beide Hände an den Kopf, als wollte er die Vernunft nicht entfliehen lassen; dann stürzte er durch die Insel, ohne einer bestimmten Richtung zu folgen, scheuchte die wilden Ziegen auf und erschreckte die Seevögel durch sein Geschrei und seine heftigen Gebärden. Endlich kehrte er noch zweifelnd auf einem Umwege zurück, eilte von der ersten Grotte in die zweite und befand sich wieder im Angesichte der ungeheuren Gold- und Diamantenmine. Diesmal fiel er auf die Knie, preßte seine Hände krampfhaft an sein springendes Herz und murmelte ein für Gott allein verständliches Gebet. Bald fühlte er sich ruhiger und folglich auch glücklicher, denn jetzt erst fing er an, an sein Glück zu glauben.

Er begann, sein Vermögen zu zählen; er fand tausend Goldstangen, jede von zwei bis drei Pfund; dann häufte er fünfundzwanzigtausend Goldtaler auf, je im Werte von etwa achtzig Franken und alle mit dem Bildnis Papst Alexanders VI. und seiner Vorgänger, und er bemerkte, daß das Fach nur halb leer war; endlich maß er zweimal die Weite seiner beiden Hände in Perlen, in Edelsteinen, in Diamanten, von denen viele, von den besten Goldschmieden ihrer Zeit gefaßt, abgesehen von ihrem Preise an sich, einen besonderen Wert durch die Arbeit besaßen.

Dantes sah den Tag sich neigen und allmählich erlöschen. Er befürchtete, überrascht zu werden, wenn er in der Höhle bliebe, und ging, seine Flinte in der Hand, hinaus. Ein Stück Zwieback und einige Schluck Wein waren sein Abendbrot. Dann setzte er den Stein wieder an seine Stelle, legte sich darauf und schlief, mit seinem Leibe den Eingang der Höhle bedeckend, nur wenige Stunden.


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