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Auf der Fahrt durch die dunkle Stadt sprach Franz kein Wort, sein Geist beschäftigte sich mit dem, was er über Luigi Vampa gehört hatte, denn es war ihm befremdlich erschienen, daß Pastrini dabei den Namen seines Gastgebers auf Monte Christo genannt und diese Insel als Schlupfwinkel der Banditen bezeichnet hatte. Dabei erinnerte er sich, daß er bei seiner Landung auf Monte Christo bei den Matrosen auch zwei flüchtige Banditen getroffen hatte. So sehr auch alles dies seinen Geist beschäftigte, so war es doch völlig vergessen in dem Augenblick, wo er das düstere, riesige Gespenst des Kolosseums, auf das der Mond seine langen, bleichen Strahlen warf, vor sich sah. Der Wagen hielt, die jungen Leute sprangen heraus und standen vor einem Führer. Franz kannte das Kolosseum, denn er hatte es bereits mehr als zehnmal besucht; aber auf seinen Gefährten, der das gewaltige Monument zum erstenmal betrat, brachte der Anblick einen mächtigen Eindruck hervor. Man hat in der Tat, wenn man es nicht gesehen, keinen Begriff von der Majestät einer solchen Ruine, deren Verhältnisse in dieser geheimnisvollen Beleuchtung des südlichen Mondes verdoppelt erscheinen.
Kaum hatte Franz gedankenvoll hundert Schritt unter den inneren Säulengängen gemacht, als er, Albert seinem Führer überlassend, der ihm den Löwengraben, die Loge der Gladiatoren, das Podium der Cäsaren zeigen wollte, eine halb in Trümmer zerfallene Treppe hinaufstieg und sich im Schatten einer Säule vor einem Ausschnitte niederließ, der ihm den Granitriesen in seiner ganzen majestätischen Ausdehnung zu erfassen gestattete. Franz war ungefähr eine Viertelstunde hier und blickte jetzt nach Albert hinüber, der, begleitet von zwei Fackelträgern, aus einer Vertiefung am andern Ende des Kolosseums hervorkam. Die Führer stiegen eben wie Schatten, die einem Irrlichte folgen, von Stufe zu Stufe zu den den Vestalinnen vorbehaltenen Plätzen hinab, als es ihm schien, als hörte er in die Tiefen des Gebäudes einen von der gegenüberliegenden Treppe abgestürzten Stein rollen. Es kam ihm vor, als wäre der Stein unter dem Fuße eines Menschen gewichen, und als vernähme er ein Geräusch.
Nach einem Augenblick erschien wirklich ein Mensch; er trat allmählich aus dem Schatten hervor, während er die von dem Monde beleuchtete Treppe hinaufstieg. Es konnte ein Reisender sein, wie er, der eine einsame Betrachtung dem Geschwätz seiner Führer vorzog, aber aus dem vorsichtigen Zögern, mit dem er die letzten Stufen erstieg, aus der Art und Weise, wie er, auf der Plattform angelangt, still stand und zu horchen schien, ging klar hervor, daß er zu einem besonderen Zwecke gekommen war und auf jemand wartete. Unwillkürlich verbarg sich Franz so viel als möglich hinter der Säule. Zehn Schritte davon war das Gewölbe ausgebrochen, und eine runde Öffnung ließ den mit Sternen besäten Himmel hereinschauen. Um diese Öffnung her, die vielleicht schon seit Jahrhunderten den Mondstrahlen Durchgang gestattete, wuchsen Gesträuche, deren grüne Umrisse sich kräftig von dem matten Azur des Firmaments abhoben, während große Lianen und mächtige Efeuranken von der obern Terrasse herabhingen und sich, schwelgendem Tauwerk ähnlich, unter dem Gewölbe wiegten.
Der Mann, dessen geheimnisvolles Erscheinen Franzens Aufmerksamkeit erregt hatte, stand so im Halbdunkel, daß man seine Züge nicht zu unterscheiden vermochte, doch war die Tracht des Unbekannten zu erkennen: er war in einen großen braunen Mantel gehüllt, dessen rechte Spitze, über die linke Schulter geworfen, den unteren Teil seines Gesichtes verbarg, während sein breitkrempiger Hut seinen Kopf bedeckte. Nur das äußerste Ende seiner Kleidung wurde von dem schiefen Lichte beleuchtet, das durch die Öffnung drang und ein schwarzes, einen Lackstiefel zierlich umschließendes Beinkleid gewahren ließ. Der Mann gehörte offenbar, wenn nicht der Aristokratie, doch wenigstens der guten Gesellschaft an. Er war ungefähr zehn Minuten anwesend und gab sichtbare Zeichen der Ungeduld von sich, als sich ein leichtes Geräusch auf der obern Terrasse hören ließ. In demselben Augenblick verdeckte ein Schatten den Lichtschein, ein Mann zeigte sich an der Öffnung, tauchte seinen durchdringenden Blick in die Finsternis und gewahrte den Mann im Mantel; sogleich ergriff er eine Handvoll herabhängender Lianen und Efeuranken, ließ sich hinabgleiten und sprang, sobald er nur noch drei Fuß vom Boden entfernt war, leicht zur Erde. Dieser Mann zeigte die vollständige Tracht eines Trasteveriners.
Entschuldigen Sie, Exzellenz, sagte er in römischem Dialekt, ich ließ Sie warten, doch nur ein paar Minuten, denn es hat soeben zehn Uhr geschlagen.
Ich kam zu früh und nicht Ihr zu spät, antwortete der Fremde, also keine Umstände; hättet Ihr mich übrigens auch warten lassen, so würde ich vermutet haben, ein von Eurem Willen unabhängiger Beweggrund halte Euch zurück.
Und Sie hätten recht gehabt, Exzellenz, ich komme vom Kastell St. Angelo, wo ich die größte Mühe hatte, bis es mir endlich gelang, mit Beppo zu sprechen.
Wer ist Beppo?
Beppo ist ein Angestellter beim Gefängnis, dem ich eine kleine Rente dafür zukommen lasse, daß ich erfahre, was im Innern der Burg Seiner Heiligkeit vorgeht.
Ah! ah! ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann, mein Lieber.
Man weiß nicht, was geschehen kann, Exzellenz; vielleicht werde ich auch eines Tages im Netze gefangen, wie der arme Peppino, und bedarf einer Ratte, um einige Maschen meines Gefängnisses zu durchnagen.
Sprecht, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?
Dienstag um zwei Uhr sollen zwei Hinrichtungen stattfinden, wie dies in Rom bei Eröffnung großer Feste gebräuchlich ist; einer von den Verurteilten wird durch Totschlag hingerichtet (mezzolato); er ist ein Elender, der einen Priester umgebracht hat, von dem er erzogen worden ist, und der keine Teilnahme verdient; der andere wird mit der Guillotine enthauptet, das ist der arme Peppino.
Was wollt Ihr, mein Lieber. Ihr flößt nicht nur der päpstlichen Regierung, sondern auch den benachbarten Staaten einen so großen Schrecken ein, daß man durchaus ein Beispiel geben muß.
Aber Peppino gehört nicht einmal zur Bande, er ist ein armer Hirte, der kein anderes Verbrechen beging, als daß er uns Lebensmittel lieferte.
Was ihn vollkommen zu Eurem Mitschuldigen macht. Es wird also ein Schauspiel stattfinden, das den Geschmack des römischen Volkes befriedigen wird.
Dazu soll dann noch ein unerwartetes Schauspiel kommen, das ich mir vorbehalte, versetzte der Trasteveriner.
Mein lieber Freund, entgegnete der Mann im Mantel, erlaubt mir die Bemerkung, daß Ihr mir ganz geneigt zu sein scheint, irgend eine Albernheit zu begehen.
Ich bin zu allem geneigt, um die Hinrichtung des armen Teufels zu verhindern, der in der Klemme steckt, weil er mir gedient hat. Bei der heiligen Jungfrau, ich müßte mich als feig betrachten, wenn ich nicht etwas für den braven Jungen unternähme.
Und was gedenkt Ihr zu tun?
Ich stelle etwa zwanzig Mann um das Schafott, und in dem Augenblick, wo man ihn herbeibringt, stürzen wir auf ein Signal, das ich geben werde, mit dem Dolche in der Faust auf die Eskorte los und entführen ihn.
Das scheint mir sehr unsicher, und mein Plan taugt entschieden mehr, als der Eurige.
Und worin besteht dieser Plan, Exzellenz?
Ich gebe irgend einem, den ich kenne, zweitausend Piaster; dafür bewirkt er, daß Peppinos Hinrichtung auf das nächste Jahr verschoben wird; im Verlaufe des Jahres gebe ich sodann weitere zweitausend Piaster einem andern, den ich ebenfalls kenne, und bringe es dahin, daß man ihn entschlüpfen läßt.
Sind Sie des Gelingens sicher?
Mein Lieber, ich sage, ich werde mit meinem Golde mehr bewirken, als Ihr und Eure Leute mit allen ihren Dolchen, Pistolen und Büchsen. Laßt mich also machen!
Vortrefflich; doch wenn Sie scheitern, sind wir immer noch bereit.
Haltet Euch immerhin bereit, wenn es Euch Vergnügen macht, doch seid überzeugt, daß ich die Freiheit für ihn erlange.
Vergessen Sie nicht, daß schon übermorgen Dienstag ist. Sie haben nur noch morgen.
Wohl, aber ein Tag besteht aus 24 Stunden, jede Stunde aus 60 Minuten, jede Minuten aus 60 Sekunden, und in 86 400 Sekunden bringt man viel zu Wege.
Wie werden wir es erfahren, Exzellenz, wenn es Ihnen gelungen ist?
Das ist ganz einfach: die drei letzten Fenster des Palastes Rospoli sind von mir gemietet; habe ich den Aufschub erlangt, so sollen die zwei Fenster an der Ecke mit gelbem, das in der Mitte aber mit weißem Damast mit rotem Kreuz behängt werden.
Gut; und durch wen werden Sie die Begnadigung in die betreffenden Hände gelangen lassen?
Schickt mir einen von Euren Leuten, als Büßer verkleidet, und ich gebe sie ihm. Mit seinem Gewande wird er bis zum Fuße des Schafotts vordringen, wo er die Bulle dem Obersten der Brüderschaft übergibt, der sie dem Nachrichter einhändigt. Mittlerweile laßt diese Kunde Peppino zu Ohren kommen, daß er nicht vor Angst stirbt oder ein Narr wird, sonst hätten wir eine unnötige Ausgabe für ihn gemacht.
Hören Sie, Exzellenz, sagte der Trasteveriner, ich bin Ihnen ergeben, und davon sind Sie überzeugt, nicht wahr?
Ich hoffe es wenigstens.
Nun! Wenn Sie Peppino retten, so wird meine Ergebenheit sich in Gehorsam wandeln.
Gebt wohl acht auf das, was Ihr sagt, mein Lieber! Ich werde Euch eines Tages daran erinnern, denn vielleicht bedarf ich Euer einst ebenfalls.
Wohl, Exzellenz, dann sollen Sie mich zur Stunde der Not finden, wie ich Sie zu derselben Stunde gefunden habe. Wären Sie am andern Ende der Welt, so brauchen Sie mir nur zu schreiben: Tue dies, und ich werde es tun, so wahr ich . . .
Still! sagte der Unbekannte, ich höre Geräusch.
Es sind Reisende, die das Kolosseum mit Fackeln besuchen.
Sie sollen uns nicht beisammen finden. Diese Spione von Führern könnten Euch erkennen, und so ehrenwert auch Eure Freundschaft ist, mein Lieber, so befürchte ich doch, es dürfte mir meinen Kredit nehmen, wenn man erführe, in welchem Grade wir miteinander verbunden sind.
Also, wenn Sie den Aufschub haben?
So ist am mittleren Fenster ein Damastvorhang mit rotem Kreuze.
Wenn Sie die Bulle nicht haben?
Drei gelbe Vorhänge.
Und dann?
Dann spielt mit dem Dolche nach Eurem Belieben, ich erlaube es Euch und werde da sein, um Euch zuzusehen.
Gott befohlen, Exzellenz, ich zähle auf Sie, zählen Sie auf mich!
Nach diesen Worten verschwand der Trasteveriner auf der Treppe, während der Unbekannte, sein Gesicht noch mehr als zuvor mit dem Mantel verhüllend, zwei Schritte entfernt an Franz vorüberging und auf den äußeren Stufen in die Arena hinabstieg. Eine Sekunde nachher hörte Franz seinen Namen unter dem Gewölbe erschallen; es war Albert, der ihn rief. Er wartete, um zu antworten, bis sich die beiden Männer entfernt hätten, denn er wollte nicht, daß sie erführen, sie hätten einen Zeugen gehabt, der, wenn er auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, wenigstens kein Wort von ihrem Gespräche verlor. Kaum waren zehn Minuten vergangen, als Franz nach dem Hotel Stadt London zurückfuhr. Er ließ Albert seine Eindrücke erzählen, ohne viel zu erwidern, denn er wollte sobald als möglich allein sein, um ungestört das, was in seiner Gegenwart vorgefallen war, überlegen zu können.
Von den beiden Männern war ihm der eine offenbar fremd, und er sah und hörte ihn zum erstenmal; nicht so war es mit dem andern, und obgleich Franz sein beständig im Schatten oder durch den Mantel verborgenes Gesicht nicht hatte unterscheiden können, so war ihm doch der Ton dieser Stimme sofort zu sehr aufgefallen, als daß sie in ihm nicht bestimmte Erinnerungen geweckt hätten. Es lag in dieser Stimme etwas Scharfes, Metallisches, das ihn ebensosehr im Kolosseum, wie in der Grotte von Monte Christo hatte erbeben lassen; er war auch vollkommen überzeugt, daß dieser Mann Simbad der Seefahrer war.
Unter allen andern Umständen hätte er sich bei der Neugierde, die ihm dieser Mann eingeflößt, ihm zu erkennen gegeben; aber das Gespräch, das er bei dieser Veranlassung gehört, war so vertraulicher Natur, daß ihn die Überzeugung, seine Erscheinung müßte ihm unangenehm sein, zurückhielt. Doch während er fern blieb, gelobte er sich, daß er sich eine zweite Gelegenheit mit ihm zu sprechen, nicht entschlüpfen lassen wollte.
Franz war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu schlafen. Er brachte die Nacht damit hin, daß er alle Umstände, die sich auf den Mann in der Grotte und den Unbekannten im Kolosseum bezogen und die auf die Gleichheit beider Personen deuteten, in Erwägung zog; und je mehr Franz nachdachte, desto mehr wurde er in seiner Meinung, es sei ein und dieselbe Person, bestärkt. Er entschlummerte bei Tagesanbruch und erwachte daher sehr spät. Albert hatte als echter Pariser bereits seine Maßregeln für den Abend getroffen und eine Loge im Theater Argentina genommen. Franz mußte mehrere Briefe schreiben und überließ deshalb Albert den Wagen für den ganzen Tag. Um fünf Uhr kehrte Albert zurück; er hatte seine Empfehlungsbriefe abgegeben, Einladungen für alle Abende erhalten und Rom gesehen.
Albert war in der letzten Zeit sehr unzufrieden, denn seit den vier Monaten, wo er Italien in allen Richtungen durchkreuzte, hatte er nicht ein einziges galantes Abenteuer gehabt. Die Sache war um so peinlicher, als er, nach der bescheidenen Anschauung seiner Landsleute, von Paris mit der Überzeugung abgereist war, er würde in Italien die größten Erfolge erringen. Ach! es war dem nicht so gewesen; die reizenden genuesischen, florentinischen und neapolitanischen Gräfinnen hielten sich zwar nicht an ihre Ehemänner, aber an ihre Liebhaber, und Albert erlangte die grausame Überzeugung, die Italienerinnen hätten vor den Französinnen wenigstens den Vorzug, daß die meisten in ihrer Untreue treu blieben.
Und dennoch war Albert nicht nur ein vollkommen eleganter Kavalier, sondern auch ein Mann von viel Geist; ferner war er Vicomte, allerdings Vicomte von neuem Adel; doch heutzutage, wo man keine Ahnenproben mehr zu liefern hat, was liegt daran, ob der Adelstitel von 1399 oder von 1815 datiert? Dabei hatte er, was schwerer ins Gewicht fiel, fünfzigtausend Franken Rente, und das war mehr, als man brauchte, um in Paris Mode zu sein. Es erschien also einigermaßen demütigend, daß er in keiner von den Städten, die er besucht, Aufsehen erregt hatte.
Er hoffte sich in Rom zu entschädigen, da der Karneval in allen Ländern der Erde, die dieses herrliche Fest feiern, eine Zeit der Freiheit ist, wo sich die Strengsten zu einer Tollheit hinreißen lassen. Weil nun der Karneval am andern Tage begann, so war es für Albert von großer Wichtigkeit, sich der vornehmen Welt noch vorher bemerklich zu machen. Er hatte daher eine von den am meisten ins Auge fallenden Logen des Theaters gemietet, und eine tadellose Toilette gemacht. Indes hegte er noch eine andere Hoffnung: er dachte, wenn es ihm gelänge, einen Platz im Herzen einer schönen Römerin zu erobern, so würde er damit natürlich auch einen Platz in einem Wagen erlangen und er dann in der Lage sein, den Karneval von der Höhe eines aristokratischen Gefährtes oder eines fürstlichen Balkons herab zu genießen.
Alle diese Gedanken trugen dazu bei, Albert lebhafter zu machen, als er es je gewesen war. Er wandte den Schauspielern den Rücken zu, neigte sich mit halbem Leibe aus der Loge heraus, lorgnettierte alle jungen Frauen, was aber keine bewog, ihn mit einem einzigen Blicke zu belohnen. Alle plauderten von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Liebschaften, von ihren Vergnügungen, vom Karneval, von der nächsten heiligen Woche, ohne nur einen Augenblick den darstellenden Künstlern oder dem Stücke die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen das Ende des ersten Aktes öffnete sich die Tür einer Loge, die bis jetzt leer geblieben war, und Franz sah eine Dame eintreten, der er in Paris vorgestellt zu werden die Ehre gehabt hatte; bis dahin war er der Meinung gewesen, sie befände sich noch in Frankreich. Albert sah, daß sein Freund beim Erscheinen der Dame erregt wurde, wandte sich zu ihm und fragte: Kennen Sie diese Frau?
Ja; wie finden Sie sie?
Reizend, mein Lieber. Es ist eine Französin?
Nein, eine Venetianerin!
Und sie heißt?
Gräfin ***.
Ah! ich kenne sie dem Namen nach, rief Albert; man sagt, sie sei ebenso geistreich als hübsch. Teufel! Wenn ich bedenke, daß ich mich ihr bei dem letzten Ball von Frau von Villefort hätte vorstellen lassen können, und daß ich Dummkopf dies versäumte!
In diesem Augenblick gewahrte die Gräfin Franz und machte ihm mit der Hand ein anmutiges Zeichen, das er mit einer höflichen Verbeugung erwiderte.
Ah! es scheint mir, Sie stehen sehr gut mit ihr? sagte Albert.
Mein Lieber, was Sie hier täuscht und was uns Franzosen im Auslande tausend Albernheiten begehen läßt, ist, daß wir alles von unserm Pariser Gesichtspunkt betrachten. In Spanien und in Italien besonders dürfen Sie die Vertrautheit der Leute nie nach der Freiheit in ihren Umgangsformen beurteilen. Wir haben eine gewisse Sympathie zu einander gehegt, das ist alles.
Endlich fiel der Vorhang zur großen Freude des Vicomte von Morcerf, der seinen Hut nahm und seinen Freund bat, ihn der Gräfin vorzustellen. Die beiden Freunde betraten die Loge der Gräfin, und Franz stellte Albert als einen durch gesellschaftliche Stellung und Geist ausgezeichneten Kavalier vor. Er fügte hinzu, in Verzweiflung darüber, daß er den Aufenthalt der Gräfin in Paris nicht benutzt, um sich ihr vorstellen zu lassen, habe er ihn beauftragt, diesen Fehler gutzumachen, und er entledige sich dieses Auftrags, indem er die Gräfin, bei der er selbst eines Fürsprechers bedurft hätte, bitte, seine Unbescheidenheit entschuldigen zu wollen. Die Gräfin antwortete, Albert anmutig begrüßend und Franz die Hand reichend. Von ihr eingeladen, nahm Albert den leeren Platz vorn ein, und Franz setzte sich in die zweite Reihe hinter die Gräfin.
Albert fand einen vortrefflichen Gegenstand zur Unterhaltung: Paris; er sprach mit der Gräfin von ihren gemeinschaftlichen Bekannten. Franz seinerseits ließ sich von seinem Freunde dessen Riesenlorgnette geben und fing ebenfalls an, sich im Saal umzusehen. Allein, auf dem Vordersitze einer Loge, im dritten Rang ihnen gegenüber, saß eine bewunderungswürdig hübsche Frau in griechischem Kostüm, das sie mit so viel Anmut trug, daß es offenbar ihre Landestracht sein mußte. Hinter ihr saß ein Mann, dessen Gesicht sich jedoch nicht erkennen ließ. Franz unterbrach das Gespräch Alberts mit der Gräfin, um diese zu fragen, ob sie die schöne Albanesin kenne, die wohl würdig wäre, nicht nur die Aufmerksamkeit der Männer, sondern auch die der Frauen zu erregen.
Nein, sagte sie, ich weiß nur, daß sie seit dem Anfange der Saison in Rom ist, denn bei Eröffnung des Theaters habe ich sie da gesehen, wo sie jetzt sitzt, und seit einem Monat versäumt sie keine Vorstellung; bald begleitet sie der Mann, der in diesem Augenblick bei ihr ist, bald folgt ihr nur ein schwarzer Diener.
Franz und die Gräfin tauschten ein Lächeln aus, dann setzte die Gräfin ihr Gespräch mit Albert fort, während Franz wieder seine Albanesin betrachtete. Die Ouverture des zweiten Aktes begann. Bei den ersten Bogenstrichen sah Franz den Herrn aufstehen und sich der Griechin nähern, die sich umwandte, um einige Worte an ihn zu richten, und sich abermals mit dem Ellenbogen auf die Brüstung der Loge stützte. Das Gesicht ihres Begleiters war immer noch im Schatten, und Franz vermochte seine Züge nicht zu unterscheiden.
Der Vorhang ging auf, Franzens Aufmerksamkeit richtete sich nun selbstverständlich auf die Schauspieler, und seine Augen verließen für kurze Zeit die Loge der schönen Griechin, um sich nach der Szene zu richten.
Als der zweite Akt zu Ende war, wollte er eben Beifall spenden, als das Bravo, das seinem Munde entschlüpfen wollte, auf seinen Lippen erstarb.
Der Mann in der Loge war völlig aufgestanden, und Franz erkannte nun in ihm, da sein Kopf vom Licht getroffen wurde, den geheimnisvollen Bewohner von Monte Christo, den Mann, dessen Stimme er am Abend zuvor in den Ruinen des Kolosseums wiederzuhören geglaubt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, der fremde Reisende wohnte in Rom. Wahrscheinlich drückte sich auf Franzens Gesicht die Unruhe aus, die diese Erscheinung in seinem Innern hervorrief, denn die Gräfin schaute ihn an und fragte ihn, was er hätte.
Frau Gräfin, antwortete Franz, wenn ich Sie vorhin fragte, ob Sie jene albanesische Frau kennen, so frage ich Sie nun, ob Sie ihren Gatten kennen.
Ebensowenig als sie. Jedenfalls, sagte sie, mit Alberts Glas nach der Loge sehend, muß es aber ein Abgeschiedener sein, der mit Erlaubnis des Totengräbers aus seinem Sarge gestiegen ist, denn er sieht furchtbar blaß aus.
So sieht er immer aus, sagte Franz.
Sie kennen ihn also? sagte die Gräfin; dann ist es an mir, Sie zu fragen, wer er ist.
Ich habe ihn, glaube ich, bereits gesehen und erkenne ihn wieder.
In der Tat, sagte die Gräfin, während sie mit den Schultern eine Bewegung machte, als durchliefe ein Schauer ihre Adern, ich begreife, daß man einen solchen Menschen nie vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat.
Die Wirkung, die Franz an sich empfunden, war also keine besondere, da sie sich auch bei einer andern Person fühlbar machte.
Nun! fragte Franz die Gräfin, als sie zum zweiten Male zu dem Fremden hinübersah, was denken Sie von diesem Manne?
Hören Sie, erwiderte die Gräfin, der verstorbene Lord Byron hat mir geschworen, er glaube an Vampire, er sagte mir sogar, er habe welche gesehen. Er schilderte mir ihr Gesicht, und wahrhaftig, gerade so, wie ich's dort drüben sehe: die schwarzen Haare, die großen, von seltsamem Feuer glänzenden Augen, die Totenblässe; bemerken Sie ferner, daß er mit keiner gewöhnlichen Frau zusammen ist, es ist eine Fremde, eine Griechin, . . . eine Abtrünnige . . . eine Magierin ohne Zweifel, wie er . . .
Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, was bei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durch bestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Er begleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.
In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl und bedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.
Franz versuchte zu lachen.
Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.
Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zu bekommen sei.
Auch Franz bedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sich befinden, gehört und bietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.
Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.
Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.
Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.
Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie ein Borghese und reich wie eine Goldmine.
In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.
Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d'Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.
Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.
Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnis bitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sich bei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.
Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsern Besuch zu machen.
Der Bediente entfernte sich.
Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von der besten Lebensart.
Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde in Bezug auf seine Person zu befriedigen.
Franz brachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal – besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen – würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.
Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?
Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zu bekommen, so wird es zu spät sein.
Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.
Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.
Was ist das: Tavolette?
Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zu beten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.
Einen Augenblick später brachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:
Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigen Banditen Luigi Vampa und den Leuten seiner Bande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteilten bitten.
Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als der Bandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.
Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf die Beine gebracht, als sein Freund dies hoffte.
Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich und bedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf dem Boden ausgebreitet, und die behaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.
Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrn benachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.
Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?
Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.
Still! Wir werden es bald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hob sich, und der Besitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aber blieb wie an seinen Platz genagelt.
Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.