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Um halb ein Uhr nachts pochte es bei Leo Wartenstein heftig an die Türe. Er fuhr aus dem Schlafe empor:
»Was ist los? Wer ist es?«
»Eine Dame sitzt unten, sie muß noch heute Nacht mit dem Herrn Grafen unbedingt sprechen«, antwortete der Portier, der vor der Türe stand.
»Das wird wahrscheinlich meine Schwester sein. Da ist der Mutter was geschehen! Ich komme sofort!«
Er fuhr notdürftig in die Kleider und stürzte hinunter.
In einem der schäbigen roten Korbsessel, die vor der Portiersloge standen, fand er Marianne in erbarmungswürdigem Zustand. Die aufpeitschende Wirkung des Kokains hatte nachgelassen. Der körperliche und seelische Jammer war eingetreten.
Einem plötzlichen Impuls gehorchend, flog sie ihm an den Hals.
»Ich habe mit Kalmar gebrochen! Wir sind fertig! Jetzt habe ich keinen Menschen auf der Welt als Sie! Jagen Sie mich nicht davon! Lassen Sie mich da. Ich bin fertig – total fertig ...«
Leo hatte bis jetzt kein Wort herausgebracht. Er hatte die Schluchzende nur leise und beruhigend gestreichelt. Dann ließ er sie in den Korbstuhl zurückgleiten und wandte sich an den neugierig glotzenden Portier.
»Sperren Sie der Dame ein Zimmer auf und lassen Sie es heizen. Die Dame wird ein paar Tage hier bleiben, bis sie sich erholt hat.«
Nach einer Weile meldete der Portier, daß alles bereit sei.
Leo schleppte die schwankende und totmüde Marianne, die immer tiefer in den Erschöpfungszustand versank, der die Reaktion ihrer Erregungszustände darstellte, in ihr Zimmer.
Kaum, daß sie noch imstande war, sich halbwegs auszukleiden, und schon verfiel sie in einen tiefen, starrkrampfähnlichen Schlaf.
Leo zog ihr noch die Schuhe aus, löste die Nadeln aus dem Haar, deckte sie fest zu und löschte das Licht. Dann ging er zurück in sein Zimmer.
Was nun? Grübelnd lag er, bis es langsam tagte; hin- und hergerissen von widersprechenden Gefühlen, von höchster Seligkeit, herunterstürzend in eine Angsthölle, aus der es kein Entrinnen gab. Wie konnte er die Verantwortung für ein anderes Schicksal tragen? Er, der sein Leben spartanisch führt, der für eine dämmernde Idee sein Leben hingibt. Die Menschen retten, gut – aber darf man deshalb eine Frau verkommen und fallen lassen und in Verzweiflung stürzen? Eine Frau, die ihre ganze Hoffnung auf seine Güte gestellt hat?
Und außerdem – liebte er denn nicht diese Marianne? Hatte er sich denn nicht gesehnt nach ihr? War er vielleicht gar selbst ein wenig daran schuld, daß sie jetzt da war? Was hatte er ihr denn nicht alles gesagt? Damals in jenem Brief?
Und jetzt war sie da.
Sollte er sein Glück verjagen, das Glück, das in sein stilles, armes Leben gekommen war – mitten in der Nacht – im Schlaf – wie die Fee aus dem Märchen. War's eine gute oder böse Fee?
Und unwillkürlich formten sich ihm die Worte in rhythmischer Folge und lösten lind den Krampf seiner Seele.
»Ich will das Schicksal meiner Liebe tragen – wie es auch geartet sei. Auch Liebe – leiden.«
Dann entschlummerte auch er für eine kurze Stunde und versank in traumloses Vergessen ...
Am anderen Ende von Wien – quer durch die ganze Stadt, im stillen vornehmen Viertel des alten Adelsquartiers, im ehemaligen Palais Wartenstein, das jetzt Schwedisch-Österreichische Bank – oder weitaus öfter Bankhaus Kalmar genannt wurde, lag noch einer, der sich stundenlang hin und her gewälzt hatte.
Er konnte keinen Schlaf finden. Selbst nicht im Bette des großen Napoleon. Mit offenen Augen hatte Kalmar dem Tag entgegengesehen und ungeduldig auf den Augenblick gewartet, wo er ins »Hotel Bristol« hinübertelephonieren und die Kammerfrau nach Marianne fragen konnte.
Eine letzte, heimliche Hoffnung war ja doch noch in ihm wach, daß sie ganz normal in ihr Hotel zurückgekommen sei. Die Kammerfrau war erstaunt und erschrocken. »Nein, die Baronesse ist bis jetzt noch nicht erschienen.«
Nun glaubte Kalmar an den Ernst der Situation – und fühlte, was er verloren hatte. Aber er war fest entschlossen, sie sich wieder zu holen – koste es, was es koste – Nerven oder Geld.