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Bei dem großen englischen Angriff vom 15. September 1916, wo die Engländer das erstemal Tanks verwendet haben, erhielt ich einen Lungendurchschuß. Da ich von früh acht Uhr bis zum späten Nachmittag vergeblich auf Hilfe wartete, versuchte ich nun, von meinem Wundbett wegzukommen, denn der Durst trieb mich fast zur Verzweiflung. Die Beine versagten aber ihren Dienst, denn ich hatte sehr starken Blutverlust, und nach einigen Schritten brach ich immer wieder zusammen. Ein englischer Posten, der meine Gehversuche und Anstrengungen beobachtete, rief mir aus einem Graben zu und gab mir Zeichen, daß ich zu ihm kommen sollte. Mit äußerster Kraftanstrengung und meistens durch Kriechen gelangte ich zu diesem Posten.
Was nun eintrat, hätte ich von einem Feinde nicht erwartet. Würde dieser Soldat mein Bruder gewesen sein, so hätte er mich auch nicht besser behandeln können. Als er sah, daß ich verwundet war, verband er meine Wunde, dann gab er mir seine Feldflasche, der ich einige kräftige Züge entnahm. Wie ich ihm die Flasche wieder zurückgeben wollte, gab er mir zu verstehen, daß ich sie ganz austrinken könne, was ich ob meines Riesendurstes gerne befolgte. Dann gab er mir Schokolade und Keks. Nachdem ich mich gut gestärkt hatte und es anfing dunkel zu werden, gab mir der englische Kamerad seinen Tornister als Kopfunterlage, holte in der Nähe von einem Toten einen Mantel und bettete mich darauf und deckte mich mit seinem Gummizelt zu. Bald schlief ich auch nach dem Tage, der wohl der schrecklichste meines Lebens war, neben dem Engländer ein.
Aber nicht lange sollte dieser Schlaf dauern, denn die deutsche Artillerie ließ noch ab und zu ihre Stimme erschallen und streute das Kampfgelände ab, wo am Vormittag der Angriff tobte. Ein Schrapnell kam angesaust, zerplatzte in unserer Nähe und machte dem Leben des englischen Soldaten durch einen Kopfschuß ein rasches Ende. Ich trug noch eine Verwundung am Arm davon. Ich konnte mich nicht über den Tod dieses Feindes freuen, und ich danke ihm über das Grab hinaus für seine gute Kameradschaft.
Karl Sachs, Steuerassistent, Landstuhl/Pfalz.
Es war im französischen Kriegsgefangenenlager bei Dombasle in der Nähe von Verdun. Die Lebenslage, in der wir uns zu dieser Zeit in genanntem Lager befanden, war keine rosige. Wir bekamen nicht die Lebensmittelrationen, die uns als Gefangenen zustanden, da ein großer Teil davon durch die französischen Posten beim Proviant-Empfangen – bzw. auf dem Transport von dem Proviantamt in Verdun nach dem Lager – an die Bauern wieder verkauft und in Wein und Tabak umgesetzt wurde. Zu diesem Proviantempfang nach Verdun gingen immer zwei und auch drei Leute von uns mit zum Aufladen. Dabei war auch ich. Wir mußten nun zusehen, wie die Posten jedesmal auf dem Heimweg die Speckseiten, große Stücke Pferdefleisch, Sandsäcke voll Reis, Bohnen, Erbsen sowie Kaffee den Bauern für billiges Geld abgaben, wofür sie sich namentlich Wein kauften, so daß sie auf dem Heimweg immer betrunken waren. Wir beschwerten uns dieserhalb beim Feldwebel; dieser gab die Beschwerde weiter, aber vergebens; sie ist wahrscheinlich auf dem Wege zum Chef de Camp festgehalten worden, denn diese Zustände hielten weiter an. Obwohl die Beschwerde oft wiederholt wurde, war es umsonst.
Wir hatten uns nun schon damit abgefunden, als plötzlich ein Engel in der Person eines neuen Chef de Camp bei uns im Lager erschien und sich als unseren neuen Lager-Adjutanten vorstellte. Aus sich heraus frug er uns, ob wir mit der Behandlung und unserer Nahrung zufrieden wären. Als er ganz bestürzte Gesichter sah, wollte er natürlich wissen, weshalb wir nicht antworteten. Unser Lagerfeldwebel erklärte ihm nun die Behandlung, die wir bis zu diesem Tage im Lager gehabt hätten und erzählte ihm auch von den Lebensmittelverkäufen der Posten. Da war er sehr erbost darüber und ließ uns auf seine Schreibstube kommen, um alles zu Protokoll zu nehmen. Zum Schluß gab er sich sogar soweit her, daß er sich im Namen seiner Nation entschuldigte; es sei bedauerlich, daß so etwas vorgekommen wäre und versicherte uns, für Abhilfe zu sorgen.
Es dauerte auch keine acht Tage, als sämtliche Posten durch neue abgelöst wurden. Dann einige Zeit später mußten wir in Begleitung unseres neuen Chef de Camp nach Verdun zur Gerichtsverhandlung fahren. Wir durften sogar im Wagen des Adjutanten Platz nehmen, wozu wir unsere Gala-Kriegsgefangenen-Uniform anzogen. Wir waren nun nicht wenig erstaunt, auf dem Gerichtshof unsere früheren Posten als Arrestanten zu sehen. Sie sahen uns natürlich wütend an; ich glaube, wenn einer von uns in die nächste Nähe gekommen wäre, die hätten sich gerächt. Aber unser Adjutant blieb bei uns und beschützte uns. Die Verhandlung selbst dauerte gar nicht allzu lange; das Protokoll wurde noch einmal vorgelesen und einige Zwischenfragen gestellt; und am Schluß mußten wir alles beschwören, was wir ja mit reinem Gewissen tun konnten. Auf der Heimfahrt erzählte uns nun unser Lager-Adjutant, daß die Posten sämtlich vier Wochen strengen Arrest erhalten hätten und nicht mehr zur Bewachung von Kriegsgefangenen zugelassen würden.
Unsere Lage bzw. die der ganzen Kompagnie wurde von dem Tage an bedeutend besser. Wir bekamen das uns zustehende Essen, jeden Tag unser Stück Fleisch, zwei Mann ein ganzes Brot; früher erhielten drei Mann ein Brot. Wir bekamen einen Fußball gestellt, durften Theater spielen, so daß sich unter diesen Umständen die Gefangenschaft noch ertragen ließ. Leider mußte uns dieser seelengute Lager-Adjutant einige Monate später wieder verlassen, da er entlassen wurde, um seinen Zivilberuf als Rechtsanwalt wieder zu ergreifen. Er besuchte uns später noch mit seiner Familie; und da stellte sich heraus, daß die Frau mit Kind während des Krieges ebenfalls interniert war und es ihr in Deutschland, den Zeiten angemessen, sehr gut ergangen war.
Richard Dörnfeld, Kaufmännischer Beamter, Frankfurt a. M.
Da ich ein Flandrische Mädel bin und als solche den Krieg mit seinem Grauen in der Heimat erlebt habe, könnte ich Euch manche schöner Artikel für das Buch der guten Werke schreiben. Es war in Mai 1915, wir wohnte in der Hypersteenweg, ein kleines Haus mit große Schild darauf stand zu lesen: »Hier wird für Deutsche Soldaten gewaschen«. Kommt als neuer Kunde eine Marine herein und frägt, ob wir auch ihm seine Wäsche waschen wollen, natürlich. Ich bitte ihm plaßt zu nehmen weil ich in seiner gegenwart seine Wäsche aufschreiben. Ich war gerade dabei andere Wäsche zu Bügeln, hatte aber sehr slechtes feuer da unser Ofen kaputt war, dazu noch Wind von See aus, so das wir die ganze Stube voll kwalm hatte. Dies merkte nun der Marine und frug mich ob unser ofen immer so slecht brennen. Ich sagte ihm denn die Uhrsache und das wir kein Möglichkeit hätte ausbessern zu lassen, der Schmied nicht mehr im Dorfe war. Da versprach mir der Marine abends 12 Uhr zu kommen. (Er mußte zuerst an die front) der Ofen zu holen und da er Schlosser war, wollte er es selber machen. Abends warteten nun meine Mutter, eine Schwester und ich ob des kommens des uns wildfremde deutsche Soldat. Aber nicht vergebens, denn tatsächlich er kam und hielt sein versprechen. Die Mutter bod ihm geld an was er aber nicht annahm. Sie lud ihm dann ein einmal bei uns kaffee zu trinken, dies nahm er auch an. Von nun an waren wir gute Freunden. Am 24. Oktober verlobten wir uns. Bin seit den 13. November 1919 hier in Deutschland und seit dem 3. Januar 1920 mit ihm verheiratet.
Bei den Kämpfen in Russisch-Polen im Frühjahr 1915 war das 1. Masurische Infanterie-Regiment 146 durch die Uebermacht der Russen am 7. März auf dem von ihm gehaltenen Frontabschnitt bei dem Dorfe Kapustnik zurückgeworfen worden. Von unserem Bataillon waren den Russen sieben Mann lebend, zum Teil durch Stichwunden verletzt, in die Hände gefallen; darunter ich, wohl damals der Jüngste des Regiments, kaum achtzehn Jahre alt.
Im Herbst 1916 forderte die Leitung der Demidoff-Werke in Tagilsk (Ural) für ihre Betriebe kriegsgefangene Facharbeiter an. Bei der Verteilung auf die einzelnen Werke hatte ich das Glück, der mechanischen Fabrik zugeteilt zu werden, deren Leiter, Ingenieur Bytschoff, seine Ausbildung auf dem Technikum in Mittweida in Deutschland genossen hatte und der versprach, die sogenannte »Intelligenz« (Studenten, Lehrer, Beamte) nach Möglichkeit nicht als ungelernte Arbeiter zu beschäftigen. Dieses Versprechen hat er gehalten. Ich persönlich kam in das Auftragsbüro, in dem sechs Techniker, eine Kontoristin, eine Maschinenschreiberin und ein Laufjunge die eingehenden Aufträge für die Weiterleitung an die betreffenden Werkmeister bearbeiteten. Ich war in dieser Abteilung der einzige Kriegsgefangene unter den russischen Angestellten, die mich vom ersten Tage an als gleichberechtigtes Mitglied in ihrer Arbeitsgemeinschaft aufnahmen. Alle Vergünstigungen und Einrichtungen, die ihnen im Bürodienste zur Verfügung standen, durfte und mußte ich mit ihnen teilen. In ihrer Haltung mir gegenüber waren sie peinlich bemüht, alles zu vermeiden, was mich hätte verletzen können. Ich will nur die folgende Episode erzählen:
In dem Auftragsbüro des russischen Werkes in Tagilsk hing bei meinem Eintritt eine Kriegskarte, auf der mit Fähnchen die einzelnen Frontabschnitte fein säuberlich abgesteckt waren. Am nächsten Tage ließ der Bürovorsteher, ein gewisser Alajeff, die Karte durch den Laufburschen entfernen und in das Archiv tragen. Nichts sollte in dem Büro zur Erörterung über den Krieg und zu den hiermit zwangsläufig verbundenen Gefühlen Anlaß geben; nichts sollte den Haß schüren, der die Völker gegeneinander trieb.
Ich glaube, daß dieser Takt eines einfachen Mannes, der Gefahr lief, der Niedertracht und des Verrats geziehen zu werden, ebensoviel und mehr bedeutet als die sehr schöne Geste der englischen Regierung, als sie den deutschen Reichskanzler und den deutschen Außenminister nach dem Landsitz Chequers zu Gaste lud. Da stand nämlich als Symbol des Sieges vor dem Herrenhaus in Chequers eine im Weltkrieg eroberte deutsche Kanone; und diese wurde für die Zeit des deutschen Besuches vom Gärtner zur Seite geschafft und hinter einem Gebüsch taktvoll versteckt. Aber diese friedwillige Maßnahme verhinderte leider nicht, daß die deutschen Gäste beim Spazieren doch plötzlich vor der deutschen Kanone standen: Souvenir des Weltkriegs! Es ist eben auch heute noch nicht leicht, Kanonen völlig unsichtbar zu machen.
Georg Zielasko, Dipl.-Kfm., Berlin.
Juli 1918. Meine Gebirgs-Kanonen-Batterie stand am Care alto, 3200 Meter hoch, Adamello-Gruppe. Wegen einer Fußverletzung war ich als Telefonist beim Train und als solcher hatte ich in der Seilbahnstation Pelugo Dienst zu machen. Tagtäglich mußte ich mehrmals den dreiviertel Stunden langen Weg von Pelugo nach Vigo und retour, Meldungen abstatten. Auf dieser Straße begegnete ich des öfteren einem Trupp elend aussehender, hungriger italienischer Kriegsgefangener, welche zur Arbeit marschierten. Unter ihnen fiel mir ein in den ersten Reihen marschierender Sergeant auf, weil ich aus seinen Zügen ein furchtbares Heimweh herauslas.
Eines Tages begegnete ich in Vigo wieder dem Trupp und kam gerade zurecht, wie ein Gefangener von einer im Haustor stehenden Italienerin ein Stück Brot erhielt, und wie der Eskortemann aus Zorn mit dem Gewehrkolben auf den Armen einhieb. Eine blitzartige Empörung bemächtigte sich meiner, und flugs sprang ich hin, und dem Mann das Gewehr haltend, schrie ich ihm die gemeinsten Schimpfworte ins Gesicht. Es wäre zwischen mir und ihm ein regelrechtes Duell, Bajonett contra Gewehr, entstanden, wenn nicht ein auf dem Rad vorbeifahrender Feldgendarm eingegriffen hätte. Während dieser mir das Nationale abnahm, spürte ich plötzlich einen Händedruck. Mich umsehend, gewahrte ich jenen italienischen Sergeanten, welcher mit vielen grazie amico auf mich einredete, bis ihn der Gendarm fortjagte.
Am nächsten Morgen begegneten wir uns wieder, und heftig gestikulierend begrüßte er mich von weitem; als er an mir vorbeiging, ließ er einen Zettel fallen. Ihn aufhebend, las ich darin die Beteuerung seines aufrichtigen Dankes für mein Einschreiten; halb deutsch, halb italienisch versprach er mir dauernde Freundschaft und bat mich, ihm manchmal Zeitungen und Zigaretten zuzustecken. Dies tat ich auch in folgender Zeit ...
4. November 1918. Gerade kam ich vom Urlaub, als meine Batterie eben die Stellung verließ und heimwärts marschierte. In Madonna di Campiglio wurden wir gefangen und mußten unter schwacher italienischer Eskorte zurück nach Vigo marschieren. Außerhalb Pinzolo konnte ich wegen meines Fußverbandes, der sich im Schuh verschoben hatte, nicht mehr weiter und ging abseits der Straße in einen Weingarten, um den Verband zu richten. Als ich wieder die Straße betrat, war es bereits finster und meine Leute fort. Ich ging nun im Weingarten längs der Straße weiter, bis mir ein bei einer Brücke stehender italienischer Posten ein sehr energisches »Halt« zurief und mich mit einem Handscheinwerfer ableuchtete. Nachdem er mir sämtliche Habseligkeiten wie Uhr, Geld, Briefschaften abgenommen hatte, band er mich neben sich an einen Brückenpfeiler, um mich bei der Ablösung mitzunehmen. Sein einziges Gespräch war ein höhnisches » Austria kaput« und » Austriaci mangian' erba« – Oesterreicher essen Gras! ... Es dauerte so eine halbe Stunde, da hörte ich plötzlich Hufschlag und ein Reiter hielt bei dem Posten, der ihm Meldung machte. Der Reiter stieg vom Pferd und der Posten leuchtete mich als seinen Gefangenen triumphierend an. Zwei plötzliche Freudenschreie ließen den erstaunten Wachposten ungemütlich werden. Der Reiter war mein Freund, der Sergeant.
Er hatte sich, als die Italiener einzogen, sofort equipiert und Dienst angetreten. Der Posten band mich los, steckte mir heimlich meine gestohlenen Sachen zu, und ich ging mit dem Sergeanten in dessen Quartier. Hier verbrachten wir die Nacht bei gutem Wein, weißem Brot und Konserven, unter ewigen Freundschaftsbeteuerungen. Morgens ließ er einspannen, gab mir einen mit einem Dienstzettel versehenen Soldaten mit, der mich unversehrt meiner vorausgeeilten Batterie übergeben sollte. Wir verabschiedeten uns von den erstaunten Soldaten herzlich, und versprachen uns, gegenseitig zu schreiben oder zu besuchen, da er fest behauptete, wir blieben nur vierzehn Tage interniert. Aber ein Jahr blieb ich gefangen. Die Adresse meines Freundes habe ich verloren; erinnerlich ist mir nur, daß er Salvatori hieß und als Früchtehändler in einem Ort bei Neapel wohnt. Ich sah ihn nie mehr.
Alois Leeb, Heeresarbeiter, Wien.
Es war im März, am dritten oder vierten Tag der ersten Offensive 1918. Ich war Krankenträger der Sanitäts-Kompanie Nr. 16 der 33. Inf.-Div. Wir hatten von unseren Führern Auftrag, zu je vier bis acht Mann die Gegend nach Verwundeten abzusuchen. Ich suchte mit drei anderen Kameraden die Straße von Guiscard nach Noyon, besonders die Gräben, also Chausseegräben, ab. Im Laufe des Morgens kamen eine Anzahl gefangener Engländer uns entgegen. Wir baten sie um Rauchbares, was man uns auch, wenn vorhanden, gab.
Eine deutsche Feldküche fuhr an uns vorbei. Vorne saß der Fahrer, hinten der Koch. Die Straße lag unter Streufeuer englischer oder amerikanischer Sprenggranaten. Als die Küche etwa hundert Meter an uns vorbei war, bekam sie einen Volltreffer. Wir rannten sofort hin, die Pferde waren beide tot; der Fahrer war in den Graben geflogen; er lag dort wie tot. Der Koch lag unter der Gulasch-Kanone, die nach hinten gestürzt war, da ein Rad zertrümmert war. Ich und ein Kamerad bemühten uns um den im Graben liegenden Fahrer, der noch etwas Leben von sich gab.
Es kamen auch zwei englische Infanteristen und ein englischer Offizier angelaufen und bemühten sich um den unter der Küche liegenden Koch. Dieser rief aber immer: »Helft unserem Willem!« Es waren zwei Brüder an einer Küche. Mindestens eine Viertelstunde versuchten die fünf Mann, die Küche zu heben, um den Koch zu befreien. Ich und ein Kamerad kleideten den im Graben liegenden Fahrer aus und fanden endlich eine kleine Verwundung im Leib. Da schlug plötzlich eine zweite Sprenggranate fast an derselben Stelle ein. Gerade hatten die fünf Mann den Koch befreit. Die Granate tötete einen meiner Kameraden und einen englischen Soldaten und verwundete den Offizier am Arm schwer. Der Fahrer war inzwischen auch gestorben. Nun trugen wir drei Krankenträger und ein englischer Infanterist den schwer verletzten Koch auf eine sogenannte »Trage«, nachdem wir die drei Toten in den Graben gelegt hatten. Der Offizier ging schwer blutend neben uns her. Wir verbanden ihn in einer Schlucht. Die Engländer hatten sich heldenhaft benommen, einer hatte sein Leben für deutsche Kameraden geopfert, der Offizier seinen Arm. Wir kamen dann schließlich am Verbandsplatz an.
Als wir nach etwa zwei Stunden wieder an die Unglücksstelle kamen, waren die Pferde bis auf die Knochen abgeschabt, als Braten; und die Küche selbst war erbrochen. Hungrige Kameraden hatten sich daran gut getan.
Heinrich Weindorf, Kaufmann, Witten/Ruhr.
Die Hauptangriffe der Frühjahrsoffensive 1916 auf die französischen Stellungen des linken Maasufers im Wald von Avoncourt, die an Heftigkeit nicht leicht zu übertreffen waren, hatten ihr Ende erreicht. Durch die furchtbare Schlamm- und Trichterwüste des vernichteten Waldes mit seinen zerfetzten Stämmen, gesprengten Panzertürmen, zersplitterten und verschmutzten Waffen und verstümmelten, von den Granaten wieder aus ihren Gräbern gerissenen Toten – zog sich wieder ein durchgehender vorderer Graben. Der Juni 1916 war da. Die verwundeten Büsche hatten sich wieder mit Grün bedeckt.
Wir bayerischen Fünfundzwanziger, die noch unter den Lebenden weilten, ja, denen das Leben neu geschenkt war, schlichen uns in der Freizeit ins Rückgelände hinaus, gingen von der Ostecke des Waldes hinüber nach links zum Panzerturm, um nochmal in ruhigerer Zeit unser ehemaliges Leidensfeld, die Verwüstungen von einst zu sehen, Waffen und Ausrüstungsgegenstände zu sammeln und noch manchen lieben Kameraden zu beerdigen.
Auf diesen Gängen fanden Leute meines Zuges im Gebüsch hinter unserem Zugabschnitt noch zwei unbeerdigte gefallene Franzosen von den Angriffstagen des März und April her. Sie waren sehr wahrscheinlich ihren Angehörigen als vermißt gemeldet worden. Vermißt – wohl das furchtbarste Wort für Eltern, Geschwister, Frauen und Kinder! Diese schreckliche ewige Ungewißheit!
Wir versetzten uns in die Lage der Angehörigen der beiden Franzosen. Deshalb nahmen wir den Gefallenen vor der Beerdigung die Erkennungsmarken ab und beschlossen, diese in den feindlichen Graben zu befördern. Dieser lag nur 10 Meter von unseren Sappen, oft noch weniger weit entfernt, und nicht selten konnten sich Freund und Feind auf kurze Zeit schmunzelnd in die Augen sehen. Die Nähe der feindlichen Stellungen hatte aber auch ihre großen Gefahren, waren doch solche Frontabschnitte ein günstiges Betätigungsfeld für Handgranatenkämpfe, Scharfschützen und Minensprengungen.
Wir banden also die Erkennungsmarken an einen Stein und wickelten alles in weißes Papier, um es bei günstiger Gelegenheit am Tage in den feindlichen Graben oder in die Nähe des feindlichen Postens werfen zu können. Dieser sollte das Paketchen bemerken und es dann in der Nacht holen. Der Wurf gelang, aber direkt in den Graben hatten wir nicht getroffen. Der französische Posten hatte das weiße Päckchen bemerkt und in der Nacht auch geholt. Am 21. Juni flog in der Mittagszeit ebenfalls ein Päckchen, enthaltend einen Zettel, aus der feindlichen Stellung in unseren Graben. Es war der Dankesbrief unserer Gegner.
Melchior Baptist, Hauptlehrer, Lindau.
An meiner Hand glänzt ein Ring. Dieser Ring liebt es, mich von Zeit zu Zeit an den ersten Annäherungsversuch zum Frieden zu erinnern, den ich im Jahre 1915, ganz auf eigene Faust, mit den Engländern angebahnt habe. Wie ich dazu kam, das sei mit wenigen Strichen hier wiedererzählt.
Bei dem Sturm auf Becelaere, einen sehr hartumkämpften Ort in Flandern, fiel unserem Regiment eine geschlossene Kompanie Soldaten von der feindlichen Seite mitsamt ihrem Führer in die Hände. Während meine Kameraden fortfuhren, das Gelände zu säubern, erhielt ich nachher den Befehl, die Gefangenen nach Letekhem zurückzuschaffen, wo eine Sammelstelle für alle Gefangenen war. Man feierte gerade den Heiligen Abend, als ich dort eintraf. Es schneite und dunkelte bereits. Ein Wachtposten wies mir von hier aus den Weg nach der Kirche, dem vorläufigen Bestimmungsort, wohin ich die Leute zu bringen hatte. Zu dem Zweck war vorher darin alles ausgeräumt worden, der Platz würde sonst nicht ausgereicht haben für die vielen Menschen, die ich mitbrachte. Der ganze Boden wurde mit Wolldecken belegt, auf dem sich die Soldaten wahllos niederfallen ließen, wie sie ankamen.
Der Offizier sollte, laut Befehl, allein hinter dem Hochaltar in einem vergitterten Raum eingesperrt werden, in dem einst eine geschnitzte Kreuzigungsgruppe stand, die deswegen gleichfalls ihren Platz verlassen mußte. Der Mann tat mir leid, aber dagegen war nichts zu machen. Wie das alles soweit ausgeführt war, holte ich von draußen noch ein Tannenbäumchen von einem Grab herein, behängte dasselbe mit Glasperlen aus dem Ornat des Priesters und stellte es darauf mitten unter die stumpfsinnig dasitzenden Soldaten. Ein klein wenig Trost wollte ich ihnen damit spenden; sie sollten dadurch daran erinnert werden, daß heute Weihnachten ist und Frieden auf Erden. Dazwischen hin und her, mit aufgepflanztem Seitengewehr marschierten in einförmigem Gleichtakt die Bewachungsmannschaften. Als es ganz dunkel in der Kirche geworden war, steckte ich die Kerzen an dem Bäumchen in Brand.
Wie sie aufleuchteten, ging ein helles Blitzen über die langen blanken Orgelpfeifen hin, welche am Ende des Mittelganges von der Empore aus steil zur Decke emporstrebten. Ein Gedanke durchzuckt mich, wie ich das sehe; und ich schleiche mich sachte an das Instrument heran. Nur einen Kameraden nehme ich dazu mit, daß er mir den Blasebalg in Bewegung setze. Und wenige Minuten später liegt schon meine Hand auf den ausgefingerten Tasten der Orgel; und ich beginne mit einem Präludium von Bach, aus dem ich dann allmählich hinüberleite zu »Stille Nacht, Heilige Nacht«.
Gleich beim ersten Akkord fliegen alle Köpfe herum. Auch der Offizier hinter dem Gitter in der dunklen Ecke dort wird unruhig. Er erhebt sich vom Boden und tritt nach vorn zu sehen, was los wäre. Das peinigt mich, einen Menschen so sehen zu müssen, in dieser Stunde. Ich beende sofort mein Lied; trete zu ihm heran und bitte ihn, zu uns herauszukommen. Und ich schließe ihm das eiserne Tor auf. Wieder sind die Augen der ganzen Kirche dabei auf mich gerichtet. Ich wußte, daß dies nicht sein durfte; ich tat es aber doch. Nun erst war Frieden in dieser gemeinsamen Christ-Weihnachtsfeier, als alle teilnehmen konnten.
Am anderen Morgen wurde ich verhaftet wegen Verletzung der Kriegsgesetze. Drei Tage Gefängnis wurden mir dafür aufgebrummt, und darauf sollte ich sofort wieder in den vordersten Graben kommen. Ich durfte nicht damit rechnen, nachher den Offizier noch einmal zu sehen. Ich wurde wieder frei. Ehe ich nach dem Graben vorgehe, soll nochmals eine Meldung beim Stab erfolgen, bei der meine Anwesenheit nötig ist. Feldmarschmäßig trete ich dazu an. Wie ich in das Gebäude hinein will, tritt mir der Divisionspfarrer entgegen mit einem kleinen Päckchen in der Hand. Das hätte er mir zu geben, sagte er, im Auftrag des gefangenen englischen Offiziers; ich würde ihn schon kennen.
Wie ich das Paketchen öffne, liegt ein Ring darin und ein Brief, in deutscher Sprache. In demselben dankt mir ein Mensch für das erwiesene Mitleid. Und jetzt graue es ihn nicht mehr so sehr vor der Gefangenschaft, hieß es am Schluß; denn er hätte an diesem Weihnachtsfest erfahren, daß die Welt noch nicht so völlig arm an Güte sei, wie man in Zeiten tiefer Trübsal annehmen möchte. Den Ring soll ich als ein Andenken an jene Stunde für immer behalten. Noch heute hängt mein Herz an ihm.
Karl Leins, Buchdrucker, Bonames.
Frühjahr 1915. Die erste Kompanie unseres hauptsächlich aus Frankfurtern bestehenden Landsturmbataillons lag in Kielmy in Litauen. Schwere Kämpfe um Schaulen. Täglich durchzogen größere Transporte russischer Kriegsgefangener den Ort, um nach Uebernachtung im Gefangenenlager am nächsten Tage weitergeleitet zu werden. Beim Durchzug dieser Transporte säumten deutsche Soldaten und Landeseinwohner als Zuschauer die Straße ein. Als eines Tages ein als groß avisierter Transport durchzog, stand auch ich am Wege, um die Gefangenen, die einen vierzig Kilometer langen Marsch hinter sich hatten, zu sehen. Plötzlich schrie eine neben mir stehende Frau gellend auf: sie hatte in einem Gefangenen ihren bereits seit einem Jahre im Feld stehenden Mann erkannt. Immer wieder machte die unglückliche Frau den Versuch, mit ihrem Mann sprechen zu können; stets wurde sie aber von den deutschen Begleitmannschaften, die instruktionsmäßig handelten, daran gehindert und zurückgedrängt.
Schreiend und wehklagend lief die Frau in Gemeinschaft mit mehreren anderen Frauen neben dem Transport her, bis derselbe im Gefangenenlager ihren Blicken entschwand. Tief erschüttert folgte ich dem Gefangenenzug und fand die Frau vor dem geschlossenen Tor des Lagers stehend, um jeden aus dem Lager kommenden deutschen Soldaten um Einlaß zu flehen. Ich machte die Frau auf die Aussichtslosigkeit ihres Tuns aufmerksam und veranlaßte sie, mit mir zur Kommandantur zu gehen. Ich schilderte dem Kommandanten den Vorfall und bat ihn in meinem Namen und auch im Namen meiner Kameraden, die ebenfalls Zeugen des Vorkommnisses waren, um Ausstellung eines Erlaubnisscheins für die Frau: ihren Mann in Anwesenheit eines Dolmetschers sprechen zu können. Obwohl der Kommandant diese Erlaubnis nicht erteilen durfte, ließ er mir doch den Passierschein aushändigen.
Nie werde ich den Gesichtsausdruck des Gefangenen vergessen, als er, nach langem Suchen unter 6000 Mann endlich gefunden und in das Geschäftszimmer des Lagers gebracht, dort seine Frau und seine beiden Kinder im Alter von vier und sechs Jahren wieder sah ...
Max Strauß, Kaufmann, Köln.
Im August 1917 wurde ich aus dem Lazarett entlassen, von der Genesungskompanie Antokol zur Erholung nach der Sanierungsanstalt Wilna kommandiert. Dort waren gefangene Russen beschäftigt, die Bügel mit den Kleidern der zu Entlausenden in die Heizräume zu bringen. Eines Tages kam ich hinzu und sah, wie ein jähzorniger Landsturmmann die Russen äußerst roh mißhandelte. Mir gefiel das Verhalten des Bewachungsmannes gar nicht. Ich stellte ihn zur Rede und warnte ihn vor weiteren Roheiten. Seit der Zeit wurde niemand mehr mißhandelt. Bald darauf sollte ich nach Deutschland zum Ersatzbataillon. Als ich von meinen Kameraden Abschied nahm, kam auch ein Russe, gab mir die Hand, bedankte sich und übergab mir ein kleines Päckchen. Erst später öffnete ich dasselbe und fand darin – einen russischen Orden. Eine Medaille mit dem Bildnis des Zaren am rot-weißen Bande. Es war das Beste, was er hatte.
Alb. Steines, Düsseldorf-Rath.
Bei meinem ersten Aufenthalt in England, zwei Jahre nach dem Kriege, gingen meine beiden Koffer verloren. Täglich erschien ich deshalb auf dem Gepäckbüro. Der englische Beamte hatte sogleich bemerkt, daß ich eine Deutsche bin und wies auf die alte Taschenuhr, die vor ihm an der Wand hing: »Die gehörte einem Ihrer Genossen,« warf er mir boshaft hin, »auf dem Schlachtfeld hab' ich ihn totgeschlagen, da hängt seine Uhr, die zeige ich jedem Deutschen, der zu mir kommt.«
Ich schwieg, weil ich ergriffen war. Er, dadurch unsicher geworden, fuhr fort: »Na, sollte ich vielleicht gewartet haben, bis er auf mich draufschlug? Besser er als ich.«
»Das ist eine gruselige Geschichte,« konnte ich endlich sagen, »das werden Sie wohl nie vergessen können. Wie wenig froh müssen Sie im Angesicht dieser Uhr arbeiten können.«
Nun schwieg er.
Fast vierzehn Tage traf ich diesen Mann täglich, bis sich meine Koffer gefunden hatten. Beim letzten Male hing die Uhr des armen Deutschen nicht mehr an dem Nagel des Gepäck-Büros.
Helma Schröder-James, Arosa.
Wißt ihr, was Schulden sind? Ich habe deren wahrlich genug, aber keine drückt mich so sehr wie die winzige Schuld von vier Kopeken, die ich vor sechzehn Jahren auf mich nahm.
Am 18. September des Jahres 1914 war es, daß ich auf einem Krückstock humpelnd dem Sanitätszuge in Kursk, Südrußland, entstieg, um ins dortige Lazarett gebracht zu werden. Es gab viele neugierige Gaffer am Bahnsteig, die gekommen waren, die erste Siegesbeute Rußlands, verwundete Oesterreicher zu sehen, jene Barbaren, von denen die Zeitungen in großen Lettern berichtet hatten, wie sie den russischen Gefangenen die Zungen ausreißen und die Augen ausstechen. Es wunderte uns daher nicht, als ein klotziger, russischer Hinterlands-Tschinownik (Polizeibeamterl mit grüner Tellerkappe und rotglänzender Schnapsnase seinem Patriotismus dadurch Ausdruck verlieh, indem er uns vom Gehsteig auf den Fahrdamm stieß, wo wir bis über die Knöchel im Schlamm verdanken. Awstrjcki zabaki – österreichische Hunde.
Und da geschah es. Russische Begleitsoldaten mit langen aufgepflanzten Bajonetten ordneten unseren wankenden traurigen Transportzug, als sich ein Bettelweib im Kopftuch, in Lumpen gekleidet, an mich heranpreßte und mir etwas verstohlen in die Hand drückte. Ehe ich mich versah, war sie im Haufen verschwunden, um nicht wegen ihrer gesetzwidrigen Handlung arretiert zu werden.
Ein abgegriffenes kupfernes Vierkopekenstück hielt ich in meiner Rechten. Ich errötete vor Scham. Mich – ich war Offizier – hat ein Bettelweib mit einer Kupfermünze beschenkt! Das Geldstück brannte mich. Nach soviel Schaurigem und Häßlichem auf den Schlachtfeldern, nach soviel Haß und Erbärmlichkeit – ein Strahl der Liebe!