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Als wir am 6. Januar 1915 nach einhundertachtzehntägiger Reise dicht unter der englischen Küste von einem britischen Kreuzer die Aufforderung zum Stoppen erhielten, ahnte niemand von uns etwas von dem Weltbrand, der seit unserer Abfahrt von Nicaragua entbrannt war.
Noch wehte wie in tiefster Friedenszeit die deutsche Flagge an der Gaffel der Hamburger Bark »Ujanella«, und gespannt beobachteten wir das sich in der schweren See mühsam heranarbeitende Boot des Engländers. »Machen Sie Ihr Fallreep klar, wir senden ein Boot!« war das letzte Signal auf dem englischen Kriegsschiff gewesen. Nun standen wir neugierig an der Reeling. Was mochte dieser seltene Besuch zu bedeuten haben?
In deutscher, englischer und spanischer Sprache wurden Vermutungen ausgesprochen. Wir Deutsche glaubten an ein Manöver; der Norweger meinte, es würde schon irgendwie mit der Fischerei zusammenhängen; und die Mexikaner schnatterten aufgeregt in ihrem heimatlichen Idiom. Nur Bill, mein englischer Wachkamerad, schwieg seltsam verstört über den plötzlichen Besuch seiner Landsleute.
Endlich war das Boot längsseit. Ein Offizier und zwölf Mann kamen die Treppe heraufgeklettert. Der Offizier ging sofort nach achtern, wo ihn unser Kapitän erwartete, während die zwölf Matrosen an Deck Aufstellung nahmen. Und nun erfuhren wir: daß seit fast einem halben Jahre bereits der Weltkrieg wütete.
Die englischen Matrosen machten es sich in unserem Logis bequem. Bald lagen Pistolen und Seitengewehre in einer freien Ankerkoje, bereitwilligst wurden unsere neugierigen Fragen beantwortet, und als sie erfuhren, daß wir schon seit Monaten von verdorbenem und stark rationiertem Proviant gelebt hatten, wurde als erstes die mitgebrachte Proviantkiste hervorgeholt und Weißbrot sowie Corned Beef brüderlich geteilt. Ebenso ging es mit Zigaretten und Tabak. Die Engländer sammelten, so daß bald jeder von uns sein Päckchen Zigaretten oder Stück Plug-Tabak hatte.
Zwei Tage lang kreuzten wir noch mit der Prisenbesatzung an Bord in schwerem Wetter. Am 8. Januar rasselten unsere Anker im Hafen von Plymouth zu Wasser, und wir nahmen Abschied von Freunden.
Auch Bill, sowie der Norweger und der Mexikaner wurden sofort von uns isoliert, während wir Deutsche in Einzelhaft im Militärgefängnis untergebracht wurden. Trübsinnig saß ich in meiner Zelle, als plötzlich Bill in voller Uniform vor mir stand, beladen mit Zigaretten, Schokolade und Magazinen, die er sich in Eile besorgt hatte. Ueber diese rasche Verwandlung meines alten Kameraden war ich zunächst sprachlos. Während der Wachtposten vor der angelehnten Zellentür Schmiere stand, erklärte mir Bill hastig, man habe ihm nahegelegt, so rasch wie möglich in die Armee einzutreten, zumal er auf unserem Schiff bis jetzt noch in deutschen Diensten gestanden habe, wodurch ihm vielleicht noch allerhand Schwierigkeiten entstehen könnten. So wurde er denn sofort Soldat. In Uniform konnte er in das Militärgefängnis gelangen, um mir mit den kleinen und doch so kostbaren Geschenken eine Freude zu machen. Nach wenigen Minuten mußten wir uns trennen. Nie wieder habe ich von ihm gehört!
Ernst Wagner, Sülzhayn.
Aktiv gedient 1910-12, Inf.-Reg. 88, Mainz 1914 am 1. Mobilmachungstag nach Mülhausen i. E., bei Müllheim in Baden. Erstes Gefecht bei Mülhausen. Unverwundet, nur Helmspitze abgeschossen. Badisches Inf.-Reg. 112, III. Comp. Verladen nach Lothringen. Schlacht bei Saarburg. Verwundetem Franzosen steckengebliebenes Bajonett aus dem Rücken gezogen, Feldflasche mit Wein gereicht und verbunden. 26. August 1914, Schlacht in den Vogesen, Gegend St. Dié, Baccarat. Als Gefr. mit 9 Mann Patrouille in den Wald. Tornister, Brotbeutel, alles ablegen. Kompagnie will folgen. ½ Stunde später 10 Mann im Gefecht mit Franzosen. Deckung hinter dicken Bäumen; trotzdem fällt einer nach dem andern. Schießen, nichts als Schießen; jeder hinter Deckung. Kompagnie greift ein. Franzose geht zurück. Im stehend Schießen Querschuß durch rechten Fuß. Aus!
Deutsche von der rechten Flanke angegriffen, Wendung und Gegenangriff, liegen geblieben. Allein! 1 Stunde, 2 Stunden. Schuh ausziehen unmöglich. Kein Messer zum Aufschneiden. Zurück mit 2 Händen und linkem Fuß nach Ausgangspunkt. Unmöglich, Blutverlust, Ohnmacht. Regnet sehr stark. Franz. Patrouille. Hände hoch ruft Offizier und 6 Mann. Nicht nötig. Blessé pas des armes, meine Antwort. Was haben Sie hier? Fuß durchschossen. Eins, zwei, drei, Messer aus der Tasche, Stiefel in tausend Fetzen, Strumpf dasselbe. Wasser aus der Flasche drüber, mit franz. Verbandspäckchen verbunden. Jeder gab seines her. Meine Bitte, mich liegen zu lassen um auf eigene Sanitäter zu warten, erfüllt.
Kam keiner. Wieder versucht zurückzukriechen. 20 Meter, aus, unmöglich. Franz. Patrouille wieder bei mir. Wieder Bitte meinerseits, hierzubleiben. Bewilligt.
Strömender Regen setzt ein. Nachmittags 4 Uhr. Das drittemal dieselbe Patrouille. Allons, das geht nicht mehr. Die Deutschen gehen zurück und ein Sanitäter kommt nicht. 2 Franzosen ein Gewehr in der Hand und mich drauf gesetzt. Alles im Wald. Alle 5 Minuten abgewechselt. Freie Chaussee, immer noch getragen auf der Schulter, 1 Stunde lang auf franz. Linie zu. Tragen auf diese Art zu schwer und zu unbequem. Von einem Franzosen auf die Schulter genommen, alle 5 Minuten auf eine andere, so fort eine lange, lange Zeit.
Freie Chaussee, immer noch getragen auf der Schulter von einer zu andern. Begegnung: mein Kompagnieleutnant mit Schulterschuß, in den Armen von zwei franz. Soldaten. Begrüßung. Endlich Ziel erreicht. Dorfschule. Name entfallen. Sofort untersucht, neu verbunden. 5 Uhr nächsten Morgen mit nur Franzosen auf Leiterwagen, von jedem was bekommen, Wein, Brot, Conserven, Cigaretten, Unterhaltung. Der verdammte Krieg. Andenken: meine sämtlichen Uniformknöpfe, Helm, Kokarde, Achselklappen.
Ankunft Bahnhof Epinal. Neu verbunden. Ab ins Innere Frankreichs: Bourboule, Dep. Puy-de-Dôme Hôpital 66. Vor 14 Tagen noch Hotel. Zimmer für mich. Behandlung und Pflege sehr gut. Dreimal operiert. Zuletzt Erfolg. Steifen Fuß behalten. Könnte noch mehr schreiben über Gefangenschaft, würde zu lang werden.
Math. Zehnpfennig, Köln a. Rhein.
Der Besitzer Siebert aus Skaisgirren stärkte sich durch einen Schluck Grog und erzählte: »Ja, da haben Sie ganz recht, die Russen haben wie die Wilden in Ostpreußen gehaust, und ich bin der letzte, der das bestreiten möchte. Aber der Mensch muß gerecht sein. Da ist vielleicht ein kleines Geschichtchen ganz angenehm, das anders klingt. Das will ich nun erzählen, und wahr ist es, denn es ist mir selbst passiert, oder vielmehr meinem Jungen, dem Gustav. Ich kann es übrigens auch beweisen, denn das corpus delicti hab' ich in der Tasche.
Das war also im August 1914 und was der für Ostpreußen bedeutet hat, wissen wir alle. Darüber ist nichts mehr zu sagen als: Gott behüte uns vor der Wiederholung, in Ewigkeit! Amen! Prost! Ja, da saßen wir denn eines Abends in unserem kleinen Haus – mein seliger Vater hat es gebaut, und es liegt etwas abseits vom Dorf nach dem Wald zu – und überlegten, ob wir am nächsten Morgen nach Königsberg machen wollten. Die meisten Nachbarn waren schon fort, aber ich hatte eine kranke Frau und zwei Kinder, die Lene und den Gustav, und da kam es uns schwer an. Denn außer dem Haus und dem bißchen Land hatten wir nicht viel mehr als einen knappen Notgroschen. Gepackt war schon, so viel auf einen Wagen ging, und nun warteten wir. Der Schäfer vom Gut hatte gemeint, die Russen sind noch weit. Da hatten wir Vertrauen, denn das war ein Gedienter.
Ich rauchte meine Pfeife, die Frau strickte und die Kinder machten Ferienarbeiten. Die Lene rechnete an einem ganz fürchterlichen Exempel, mit dem sie gar nicht fertig wurde, und der Junge, der Gustav, schrieb an seinem deutschen Aufsatz. Sie können es ja selbst sehen, hier ist das Heft, aber bitte, vorläufig bloß die erste Seite, Sie werden später schon merken, weshalb.«
Und er nahm ein blaues Quartheft aus der Brusttasche, ziemlich zerknittert und beschmutzt, strich es mit der Hand glatt und legte es vor uns hin. Auf dem Deckel stand:
Deutsches Aufsatzheft
von Gustav Siebert, Ober-Tertia
und auf der ersten Seite war das Thema zu lesen:
Dulce et decorum est, pro patria mori.
(Hor. Od. III, 2. 13.)
Dann kamen die ersten Sätze:
»Ja, es ist süß und rühmlich, für das Vaterland zu sterben. Und wenn die verfluchten Russen kommen ...«
Ja ... Wenn die verfluchten Russen kommen – so weit hatte der Bengel geschrieben, und da kamen sie! Der Schäfer kam auf einem Wagenpferd aus dem Walde geprescht wie ein Verrückter und schrie: »Herr Siebert, sie sind schon im Schloß, machen Sie schnell, um Gottes willen!« Und weg war er. Und wir, ohne uns zu besinnen, auf den Hof, und die Alte und die Kinder aufgepackt und heidi! in den Abend los, was das Zeug halten will. Auf dem Tisch blieb alles, wie es war, das Strickzeug und die Tafel mit dem Exempel und ein Teller mit Butterbrot und das Aufsatzheft. Als wir um die Ecke bogen, sah ich noch die Tür offen und dachte: Herr Gott, die Büchse hättest du doch mitnehmen sollen, und meine Frau weinte: ›Die Hühner!‹ – aber da war nun nichts mehr zu machen. Es war schrecklich, wie wir erst unter die anderen gerieten, die auch schon auf der Flucht waren und zwei Tage gab es mehr Tränen als Brot. Aber das alles ist ja viel schöner beschrieben, als ich es kann. Ich glaub' auch, wer's erlebt hat, der kann es gar nicht so beschreiben.
Na, wir kamen aber gesund nach Königsberg, wo ich Verwandte habe, und es ging uns immer noch besser als manchem anderen, denn wir blieben zusammen. Nun ging die Zeit herum, Hindenburg kam auf – Prost, ja, da trink ich mit und gerne! – und wir Flüchtlinge dachten wieder an die Rückkehr. Herrschaften, mir war schwer ums Herz, wenn ich herumhorchte und von der Verwüstung hörte. Was sollte ich tun, wenn meine arme Klitsche runtergebrannt war? Mit Zittern und Zagen fuhr ich nach Hause, zum ersten Mal allein, und dachte mir: der Frau muß ich's so allmählich beibringen. Na, und da kam das erste Wunder.
Rings herum war alles zerschossen und abgebrannt, und mitten durch den Kirchhof ging ein Schützengraben – aber mein Haus (ich sagte schon, es liegt ein bißchen abseits) steht ganz heil da. Wenigstens von außen. Die Fenster waren zerschlagen, die Türen ausgehoben, aber das Haus stand – und ich wußte nicht warum. Auf den Zehenspitzen ging ich hinein, sag' ich Ihnen, und dachte noch immer, da ist die Cholera gewesen, oder da lauert etwas – aber nein, es war leer, und die Stube, bis auf etwas reichlichen Kriegsdreck, ganz in Ordnung. Stroh war ausgeschüttet, wo die Leute geschlafen hatten, ein Kantschu lag in einer Ecke, auch ein Tuch mit braunen Flecken, kann sein, daß es blutig war, aber aus dem Schrank war nichts genommen! Und der Tisch am Fenster stand so da, wie er gewesen war, als wir vor sechs Wochen aufgestanden waren, bloß natürlich schmutziger, und das Butterbrot war weg. Das Strickzeug war an die Erde geworfen, aber zwischen Lumpen und Stroh und Papyrosschachteln lagen noch die Tafel und das Aufsatzheft nebeneinander. Und das war das zweite Wunder: das Exempel war ausgerechnet und der Aufsatz war fertig geschrieben ... Ja, da schneiden Sie Gesichter! Aber, Ueberzeugung macht wahr: nun schlagen Sie die Seite um.«
So taten wir denn und lasen, in einer zierlichen Handschrift und in gutem Deutsch, wie der angefangene Satz weiter ging: »Wenn die verfluchten Russen kommen ...« hatte der Obertertianer Gustav Siebert begonnen, und ein anderer hatte fortgesetzt:
»... dann kommen sie auch nur, weil ihr Kaiser es so will und weil es ihre Pflicht ist, und manchem, mein lieber deutscher Junge, fällt es herzlich schwer. Denn ich, der ich dies schreibe, habe auch ein kleines Haus wie dieses, und es steht auch zwischen Bäumen, und zwei Kinder sind darin, ein Knabe und ein Mädchen. Der Knabe heißt Fedor und hat ein kleines Pferd, auf dem wollte er in den Krieg mitreiten, aber er war noch zu jung. Und das Mädchen heißt Nina und wollte in Deutschland studieren, wo ihr Vater und ihre Mutter lange Jahre gewesen sind und sehr glücklich waren. Das ist nun vorbei, wir wollen hoffen, nicht für immer. Denn die Zeit, die so grausam ist, daß sie sogar die Kinder fluchen lehrt, wird vorübergehen. Wenn du groß geworden bist, dann werden die Menschen hoffentlich sich wieder darauf besonnen haben, daß sie Menschen sind und was das für ein Glück bedeutet.
Grüße deine Eltern und sage ihnen, wir haben dies kleine Haus geschont, soweit es möglich war. Und grüße deinen Lehrer von einem Kollegen aus Kurland und bitte ihn, dir zu erklären, daß der Dichter Horatius wohl recht hat, wenn er sagt, daß es süß und rühmlich sei, für das Vaterland zu sterben. Daß es aber noch süßer und rühmlicher ist, für das Vaterland zu leben und für seinen Frieden zu arbeiten, ganz gleich, ob es dein deutsches Vaterland ist oder das von uns »verfluchten Russen«.
Dein »feindlicher« Freund
Dr. Paul Fedor Heidenkamp, Leutnant.«
Paul Block, Paris.
Es ist Nacht, es regnet. Die Kranken des Regimentslazaretts, die bei Mailly-Maillet an der Somme-Front untergebracht sind, liegen im Stroh beim schwachen Schein einer flackernden Kerze und schlafen schon. Plötzlich tritt ein Radfahrer unseres 17. Landwehrregimentes ein und fragt: »Kann man einen Gefangenen bis morgen früh hier liegen lassen? Er ist verwundet; aber alle Feldlazarette sind voll; eine Kugel im Fuß, eine im Arm; also gar keine Gefahr, daß er entwischt.« Alle Kranken haben sich aufgerichtet. Ein Boche! Seit einem Jahr ist unser siebzehntes Regiment schon im Krieg und hat noch keine Gelegenheit gehabt, einen Gefangenen zu sehen.
Sofort entsteht eine lebhafte Diskussion. Wo soll man ihn hin tun? Die einen wollen ihn aus Vorsicht fesseln. Und was dann? Soll er draußen bleiben. Ein Boche, dann kann er krepieren! Aber ein Kranker, der den Küchendienst versieht, ein großer breitschultriger und behaarter Bursch, erklärt: »Ich übernehme diesen Boche. Ich werde ihn bewachen und scharf aufpassen. Ich werde ihn hier an meiner Seite hinlegen. Und wenn er nur eine Fingerspitze rührt, ah, dann spring' ich ihm an die Gurgel!«
Bald danach kommt der Verwundete. Er ist noch fast ein Kind, hat noch die Magerkeit eines heranwachsenden Buben; blondes Haar, große blaue Augen. Er kann kaum gehen. Man setzt ihn hin; vor Nässe triefend, von Dreck und Blut beschmiert betrachtet er mit dem Entsetzen eines umstellten Tieres den Kreis der Neugierigen, die sich zu ihm wenden. Also das war nun ein Boche! Jeder betrachtet ihn mit Interesse wie ein seltenes, lebendig gefangenes Wild, dessen Sitten und Erscheinung man endlich studieren kann. Der Koch hat schon hoheitsvoll von seinem Boche Besitz ergriffen. Da er kein Deutsch sprechen kann, glaubt er sich besser verständlich zu machen, wenn er sehr laut spricht. Und er schreit: »Nun, mein kleines Schwein du, du hast hier nicht zu mucken!« Der junge Verwundete, der kein Wort versteht, erschrickt. Wird man ihm Böses tun?
Im Gegenteil. Man wäscht ihn, man verbindet ihn. Jemand meint: »Vielleicht hat er Hunger?« Der Koch holt Brot, einen Topf Kaffee. Er bringt auch ein Stück Käse, das er streng dem kleinen Boche hinstreckt. Dieser versteht immer weniger. Seine Befehlshaber haben immer wiederholt, daß die Franzosen ihre Gefangenen mißhandeln ... Er dankt so gut er kann; mit einem Gesichtsausdruck, in dem die Angst nachläßt und zögernde Dankbarkeit sich spiegelt.
Hallo, es ist spät. Alles muß schlafen. Der Koch, ein zorniger Wächter, legt den Verwundeten auf das Stroh. Er gibt ihm seine eigene Decke und wickelt ihn ein, indem er im mürrischen Tone sagt: »Erkälte dich nicht, du da!« Bald breitet sich Stille im Zimmer aus – die nur von schläfrigem Gebrumm und vom Rascheln der Strohlager unterbrochene Stille eines heißen Stalles.
Als man am nächsten Morgen den Verwundeten abholte, fand man ihn sitzend. Der wilde Wächter beschäftigte sich noch mit ihm. Mit der Sorgfalt einer Amme für ihr Kind, hielt er ihm eine alte Terrine hin als Nachttopf.
Paul Reboux, Paris.
1914 kam ich nach Chateau ... um Lebensmittel zu holen für das Reserve-Regiment 116, 1. Kompagnie. Da habe ich am Friedhof die ersten Verwundeten gesehen. Ein Franzose, der anscheinend mehrere Beinschüsse hatte, bat mich, seine Gamaschen und Schuhe auszuziehen. Der Fuß war so angeschwollen, Gamaschen und Schuhe mit geronnenem Blute verkleistert. Ich machte mich an die Arbeit. Ich mußte den Schuh in Stücke schneiden, da an ein Ausziehen ich nicht rangehen wollte, sonst hätte ich ihm große Schmerzen bereitet. Als ich die Schuhe nun auch hinten abschneiden mußte, so hätte ich jemanden benötigt, um das Bein hochzuhalten. Es wollte mir niemand helfen. Ob sie sich geekelt haben vor der Blutkruste oder weil es ein Feind war? Kurzum stellte ich mein Fernglas an der Schuhkappe unter und konnte mir somit helfen. Ich gab ihm noch Wasser und Brot von seinem Kollegen, der sich auch nicht bewegen konnte. » Merci, merci« waren seine letzten Worte, die er zu mir sprach. Er hatte Linderung.
Georg Fries, Vorarbeiter, Offenbach a. M.
Es war nach Kriegsausbruch im August 1914. Ich war damals Rechtsanwalt in Gebweiler im Elsaß. Am 19. August wurde ich mit vielen anderen Altdeutschen von den Franzosen als Geisel verhaftet. Wir wurden mehrere Tage von den Truppen in den Vogesen herumgeschleift, um schließlich im Zuchthaus von Gérardmer zu landen. Dann wurde ein Transport gebildet, welcher uns zu zwei und zwei schwer gefesselt per Bahn nach der Festung Besançon bringen sollte. Wir waren sämtlich stark erschöpft, da wir die Tage über fast nichts zu essen bekommen hatten.
Transportführer war der Gendarm L. Während der Fahrt saß ich ihm mit meinem Mitgefangenen gegenüber. Er unterhielt sich freundschaftlich mit uns und erklärte, daß er ein Franzose vom alten Schlage sei, der im besiegten Feinde nur einen unglücklichen Kameraden sehe. Als er unseren erschöpften Zustand wahrnahm und unsere Leidensgeschichte hörte, nahm er uns die Fesseln ab. Dann zog er aus seiner Tasche Schinken und Wurst heraus und teilte sie in brüderlichster Weise. Außerdem stärkte er uns durch einen Schnaps aus seiner Feldflasche. Ja, auf einer Haltestelle holte er uns Bier auf seine eigenen Kosten, da wir keinen Pfennig Geld hatten.
Nach langer qualvoller Fahrt – da wir wegen der Truppentransporte andauernd auf Nebengleise geschoben wurden und stundenlang in glühender Sonnenhitze in den dumpfen Wagen warten mußten – gelangten wir endlich nach Besançon. Der Festungskommandant empfing uns; ein Reservehauptmann, in seinem Zivilberufe Rechtsanwalt. Obwohl er unseren jämmerlichen Zustand sah, sprach er nur höhnische Worte, und ohne uns nur einen Bissen Brot zu geben, brachte er uns in einen mit Steinfliesen bedeckten Güterschuppen, wo einige erschöpft auf dem Boden zusammenbrachen. Aber er ließ uns stundenlang hier liegen, bis wir auf die Festung gebracht wurden.
Als L. seine Meldung erstattet hatte, trat er mit einem entrüsteten Blick auf seinen Vorgesetzten auf uns zu, schüttelte jedem von uns zum Abschied die Hand und sagte mit lauter Stimme: »Adieu Kameraden, auf Wiedersehn nach dem Kriege.« Als der Hauptmann zu ihm eine abfällige Bemerkung machte und dabei Worte gebrauchte wie: Boches und deutsche Schweinehunde, da sagte der Gendarm: »Ein echter Franzose kennt in seinem besiegten Feinde nur den unglücklichen Kameraden und behandelt ihn ritterlich.« Sprach's und ging mit einem freundlichen Kopfnicken gegen uns davon.
Ich grüße dich nach langer Zeit aus weiter Ferne, Gendarm L. aus der Picardie, du Edelmann.
Franz Weber, Rechtsanwalt, Regensburg.
Es war im Oktober 1914. Unser Zug mit Freiwilligen lief in Lille ein. Wir standen in Feindesland. Mitten aus der Berufsausbildung herausgerissen, dürsteten wir nach dem Feind, nach Kampf und Abenteuer. Endlich kamen wir in den Graben, ich zitterte vor Aufregung. Es war Nacht. Ein Befehl ging von Mund zu Mund: »Entladen, Bajonett aufpflanzen!« – Aha, Sturmangriff! – Nun ging es los – wir rasten in die Nacht hinein. Nach langem Laufen brüllten wir: »Hurra, hurra!!« Da kam die Quittung – es prasselte uns entgegen, man hörte schreien und stöhnen; immer vorwärts, bis alles stoppte und sich schnell jeder eingrub. Unser Angriff war abgeschlagen.
Ich war deprimiert, daß uns kein Erfolg beschieden war. Es wurde Tag. Wir hatten uns »eingebuddelt« und besahen uns die Gegend. Alles Felder, ab und zu Baumgruppen, rechts hinter uns ein Dorf und etwa 600 Meter zurück ein verlassenes Gehöft. Wir hatten den Graben langsam fertig gemacht und mit der Sicherheit im Graben wuchs unsere Kampfesstimmung. Es wurde wieder Nacht. Ich lungerte noch im Graben herum, die Nacht war schön.
Da hörte ich weit weg ein eigenartiges Heulen – ein Schreien, nein, es war mehr ein Wimmern; solche Töne hatte ich noch nie gehört. In der stillen Nacht hörten sie sich schaurig an. Es war vielleicht ein heulender Hund, ein Stück Vieh? Ach, das Gehöft fiel mir ein. Das Heulen hörte nicht auf. Ich weckte einen Kameraden. Es war uns eingeschärft worden, hinter uns auf Blinkzeichen und Tierstimmen zu achten. Die Spionage sollte groß sein. Ich dachte auch daran. »Du hör mal, was ist das für ein Wimmern?« – »Ich weiß nicht.« – »Wollen wir mal hingehen?« – Komm, geh mit.«
Wir gingen mit Taschenlampe und Karabiner in die Nacht hinaus. Immer dem Geheul nachgehend, kamen wir tatsächlich auf das Gehöft zu. Die Schreie wurden deutlicher – sie setzten mal aus und fingen wieder an. Die Umrisse des Gehöfts wurden sichtbar. Ungeheure Spannung lag mir auf der Brust. Jetzt sind wir da. Wir standen vor einer Stalltür – ja da drin war es. Sicher ein Stück Vieh, das vor Hunger heulte. Die Tür war verschlossen. Taschenlampe heraus, Tür eintreten war Sache von Sekunden. Im blendenden Licht der Taschenlampe stand vor uns nackt, mit schielenden Schlitzaugen, zerzaustem Haar, viehischer Stimme, über und über mit Kot beschmiert, ein Mann – ein Idiot!
Ich fixierte ihn lange, das Bild prägte sich tief in meine noch so junge Seele. Erschüttert stand ich regungslos da. Mein Kamerad sagte nichts – ich sagte nichts. Ein stechender Harn- und Kotgeruch umgab uns. Langsam kam ich wieder zu Sinnen. Ich sah mich um: Zementboden, eine leere Blechschüssel lag auf dem Boden. Nur Wände. Kein Lager, kein Stuhl, keine Decke. Unsagbares Mitleid übermannte uns. Instinktiv gab ich ihm ein Stück trockenes Brot. Ich sah im Geiste, wie seine Angehörigen ihn verließen, einsperrten und ihn dem Schicksal preisgaben. Mit Strohwischen rieben wir ihn notdürftig ab, wickelten alte Lumpen um Füße und Waden, bedeckten ihn mit dem Feldmantel und brachten ihn zurück; dort wurde dann weiter für ihn gesorgt. Wir kehrten zurück. Was mit ihm geschehen, weiß ich nicht.
Das Eine weiß ich aber, daß mich das Bild dieses Idioten auf Schritt und Tritt verfolgte und mich zuletzt so einnahm, daß der Entschluß in mir reifte, solchen unglücklichen Menschen ein Helfer zu werden. Und so kam es auch. Nach dem Krieg und der nötigen Ausbildung widmete ich mich geisteskranken und schwachsinnigen Kindern. So wurde das Schicksal dieses Idioten für mich ein Wegweiser.
Albert Schirr, Lehrer für schwachs. Kinder, Langen.
Am 22. August 1914 erhielt 1. Regt. 118 den Befehl, das Dorf Maissin und die Höhen westlich des Dorfes zu nehmen. Um 10 Uhr ging die 4. Kompagnie des I.-R. 118, der ich angehörte, entlang der Straße Villance – Maissin gegen das letztgenannte Dorf vor. Gegen Mittag war das Dorf im ersten Ansturm genommen. Ich befand mich in einem weit vorgeschobenen kleinen Häuschen mit noch etwa zwanzig Kameraden unter Führung eines Leutnants. Das Häuschen gehörte einem Schreiner, der mit Frau und zwei Kindern während des Gefechts in der dunkelsten Ecke des Kellers kauerte. Das Häuschen war einstöckig; im Erdgeschoß befand sich die Schreinerwerkstatt, eine Küche und ein Schlafzimmer. Auf einer steilen Treppe gelangte man auf den Speicher, auf dem Holz und Bretter lagerten. Wir standen fast alle auf dem Speicher, hatten einzelne Dachpfannen herausgestoßen und schossen durch diese Schießscharten. Als sich gegen vier Uhr kein Feind mehr zeigte, übertrug der Leutnant mir die Verteidigung unserer keinen Festung; er selbst wollte nach den übrigen Teilen der Kompagnie Ausschau halten.
Der Gefechtslärm war mittlerweile immer mehr abgeebbt, und wir machten es uns bequem, schnallten ab, holten unsere Vorräte an Essen und Trinken hervor und fühlten uns vollkommen sicher. Es wurde fünf Uhr, unser Leutnant ließ sich nicht wieder blicken. Die Sache wurde mir bedenklich. Ich wollte daher selbst sehen, was los war. Ich ging zum Hause hinaus und sah zu meinem Entsetzen auf etwa 50 Meter Entfernung geschlossene französische Infanterieformationen durch die Dorfstraße marschieren. Die Franzosen hatten im Laufe der Schlacht das Dorf Maissin von Norden her umfaßt, unser Regiment war im letzten Augenblick noch mit knapper Not durch einen eiligen Rückzug der Einschließung entgangen. Man hatte vergessen, uns in unserem weit nach Süden vorgeschobenen Häuschen den Rückzugsbefehl zu übermitteln.
Ich sprang ins Haus zurück und schrie: Die Franzosen kommen! Im Handumdrehen sausten meine Kameraden aus dem Häuschen heraus. Ich stolperte eiligst die steile Speichertreppe hinauf, packte meinen Tornister auf den Buckel und sprang die Treppe wieder hinunter. Draußen hatte eine wüste Schießerei begonnen; die Franzosen hatten gleich meine Kameraden bemerkt und schossen die meisten von ihnen zusammen. An der Haustür angekommen, packte ich dabei noch meinen Kameraden Büttner und zog ihn mit ins Haus hinein. Wir flüchteten auf den Speicher und verkrochen uns in eine Ecke.
Für eine Weile hörten wir noch wüsten Lärm: Schießen, Schreien, französische Kommandorufe und Stöhnen unserer verwundeten Kameraden. Und dann wurde es wieder stiller um uns. Mein Kamerad Büttner schlief gleich neben mir vor Erschöpfung ein. Mir klopfte noch immer das Herz bis zum Halse hinauf. Was nun? Wir waren abgeschnitten! Abgeschnitten in einem belgischen Dorfe!
Es wurde dunkel! Plötzlich nähern sich Schritte unserem von der Dorfstraße etwas abgelegenen Häuschen. Französische Laute schlagen an mein Ohr. Die Haustür wird aufgeklinkt. Unten tappen schwere Schritte. Ich merke, es sind zwei französische Soldaten, die Unterkunft suchen. Mir schlägt das Herz, als wollte es die Brust sprengen. Die eine Hand presse ich meinem Kameraden auf den Mund, damit das Schnarchen aufhört, er wird nicht wach, er stöhnt und atmet schwer weiter. Und dann tappen die Schritte die Speichertreppe hinauf. Ich höre im Dunklen die Schritte und merke, sie nähern sich mir. Und dann flammt plötzlich dicht vor mir ein Streichholz auf! Zu meinen Füßen steht der französische Soldat und hält sein winziges Lichtchen höher, daß es mir voll ins Gesicht scheint; besteht uns beide sekundenlang, das Licht verlöscht – und ich höre, wie die tappenden Schritte sich wieder entfernen, die Treppe hinunter. Unten vereinigen sich die Schritte beider Franzosen, streben eiligst aus dem Haus heraus und verhallen in der Nacht. Ich erwarte, daß die Franzosen jeden Augenblick zurückkommen. Sie kamen nicht! Hatte der Soldat uns nicht gesehen? Wollte er uns nicht sehen? In der Ferne nach der deutschen Seite zu hörte man ab und zu das unregelmäßige Bellen der französischen Maschinengewehre.
Um Mitternacht höre ich, wie es sich wieder in unserem Hause bewegt. Unten vom Keller steigt's herauf, sucht im Erdgeschoß alle Räume ab, kommt dann die Speichertreppe hinauf. Es ist der Hausbesitzer mit einer Stallaterne in der Hand. Fieberhaft arbeiten meine Gedanken und hämmern: den Belgier darfst du nicht wieder vom Speicher runterlassen, der verrät dich sonst, der holt die übrigen belgischen Bauern herbei und dann werdet ihr totgeschlagen! Leise habe ich mich aufgesetzt, das Seitengewehr stoßbereit in der rechten Hand. Und plötzlich steht er dicht vor mir, hält die Laterne hoch, leuchtet mir ins Gesicht, fährt zusammen und steht wie erstarrt. Ich springe auf und sehe vor mir ein gutmütiges, rundes Bauerngesicht, auf dem sich Entsetzen, Angst und Ueberraschung widerspiegeln und – ich kann nicht zustoßen.
Blitzartig durchfährt es mich: Verhandle mit ihm, der verrät dich nicht! Und schon sprudelte ich meine französischen Brocken hervor: die Deutschen kämen morgen wieder; wenn er mich verrät, dann wird er mit seiner Frau und mit seinen Kindern erschossen. Er faßt sich allmählich und beteuert immer wieder: »Ich werde sagen, daß ihr alle fort seid.« Dann bat er, daß ich ihn wieder fortließe. Er tappt die Treppe hinunter. Er geht zur Haustüre hinaus, und durch die losen Dachziegel sehe ich den Lichtschein sich eiligst dem Dorfe zu bewegen.
Nun ist plötzlich mein Kamerad völlig wach und herrscht mich an: Warum hast du den Belgier fortlaufen lassen? Jetzt sind wir verloren, der holt die Franzosen und die übrigen Bauern aus dem Dorf! Langsam schlich die Nacht für uns dahin. Gegen Morgen setzte der deutsche Gegenangriff ein. Die Franzosen zogen im Morgengrauen sich fluchtartig durch das Dorf Maissin zurück. Wir zitterten vor Aufregung, als wir endlich gegen neun Uhr morgens unser Versteck zu verlassen wagten. Um zehn Uhr etwa trafen die ersten deutschen Truppen vor M. ein. Sie hatten den Befehl, das ganze Dorf anzuzünden, weil die Bevölkerung sich angeblich am Kampfe gegen uns beteiligt hatte. Wir beide wurden gleich mit eingereiht und sollten an der Zerstörung mithelfen. Ich ging gleich zu dem Kompagnieführer hin, dem ich zugeteilt war, einem Oberleutnant Hoffmann, erzählte ihm die Geschichte von meinem belgischen Hausherrn und bat, daß man sein Haus schonen möchte. Der Oberleutnant verstand meine Bitte und gewährte sie.
Ich schrieb eiligst einen Zettel etwa folgenden Inhalts:
» Gute Leute! Der Besitzer dieses Hauses hat zwei deutschen Soldaten das Leben gerettet. Sein Haus darf nicht angesteckt werden und ihm und seiner Familie darf nichts geschehen!«
Diesen Zettel ließ ich von dem Oberleutnant unterschreiben und bat ihn gleichzeitig, während der Zerstörung des Dorfes das Häuschen bewachen zu dürfen. Auch diese Bitte wurde mir gewährt.
Als ich an das Häuschen kam, fand ich die ganze Familie weinend in der Küche sitzen. Der Mann erkannte mich sofort wieder und erzählte mir, daß das ganze Dorf angesteckt würde. Ich beruhigte ihn; aber man schien mir nicht recht zu glauben und schaute mißtrauisch zu, als ich den Zettel an der Haustür befestigte. Ich bezog dann meinen Posten und ging am Häuschen auf und ab. Vor mir war das ganze Dorf allmählich ein Flammenmeer geworden. Immer wieder mußte ich einzelne und ganze Trupps aus dem Brandkommando energisch abwehren, damit das Häuschen verschont blieb. Wer den Kriegsgebrauch kennt, der weiß, wie schwer es ist, gegen die Auffassung der Masse eine Ausnahme durchzusetzen.
Der weitere Vormarsch begann wieder. Ich sichtete meinen Truppenteil, der durch das Dorf marschierte. Ich ging noch einmal ins Häuschen hinein, um mich von seinen Bewohnern zu verabschieden. Kaum hatte ich ihnen bedeutet, daß ich nun gehen müßte, da lagen Frau und Kinder vor mir auf den Knien. Die Frau umfaßte meine Beine und stammelte und weinte. Ich fühlte, wie mir das Mitleid mit ihnen erneut heiß hochkam. Aber ich riß mich los und ging.
*
April 1915: Champagne: Trichterstellung bei Souain. Ruhestellung in St. Marie-à-Py. Das Regiment ist dem General Scholtz unterstellt, der uns eines Tages in der Ruhestellung aufsuchte und nachher noch mit den Offizieren gemütlich plauderte. Er erzählte, daß er uns kein Unbekannter wäre und uns im August 1914 bei Maissin herausgehauen hätte. Und zuletzt schilderte er, wie noch ein paar Tage nach dem Gefecht ein einzelnes Häuschen als einziges unverletzt dagestanden hätte. Es habe ihn gewundert, daß gerade dieses Häuschen noch unversehrt gewesen wäre.
*
Mai 1916: Ruhe in Sedan. Ich hatte Gelegenheit, von einem Kameraden im Auto nach Maissin gefahren zu werden. Das ganze Dorf war zum größten Teil wieder aufgebaut. Mein Häuschen guckte noch unverändert aus dem Maiengrün hervor. Ich trat ein! Alles wie früher: die Werkstatt, die steile Treppe. In der Küche stand die Frau. Sie schrie auf, als sie mich sah, und ehe ich etwas sagen konnte, war sie an mir vorbei zur Tür hinaus, und ich stand mit den Kindern in der Küche allein. Zunächst wartete ich verdutzt eine Weile, die Kinder schauten mich mit großen Augen an. Dann ging ich wieder zur Tür hinaus und stieß draußen vor dem Haus mit dem Mann und mit der Frau zusammen. Die Frau hatte ihren Mann eiligst von der Arbeit geholt. Die Freude und Ueberraschung der Leute war groß. Immer wieder schüttelten sie mir die Hände und begleiteten mich zuletzt zum Auto und winkten, so lange sie mich noch sehen konnten.
Dr. Waldemar Lichtenberger, Hilfsschullehrer, Wetzlar.
August 1914. Das Regiment steht in der Lothringer Schlacht. Ein Fahnenträger der Nachbartruppe ist irrsinnig geworden. Er stürzt mit der Fahne unter wildem Geschrei durch den Ort Brüderdorf, dessen Rand wir genommen haben. Ich laufe ihm mit der vordersten Gruppe nach. Wir holen ihn ein und ziehen ihn in den Graben am Wege nieder. Dort liegt ein Franzose; wie sich zeigt, ein Sergeant. »Wo sind die andern? stehen noch Truppen hier?« Er verneint: » Tous partis!« Wir richten uns vorsichtig auf, doch sofort peitschen Schüsse. Ich drohe ihm mit Erschießen; nochmals: »Sind Franzosen hier?« Er schüttelt den Kopf. » Non, mon capitaine; ils sont tous partis.« Fast im gleichen Moment quert eine französische Schützenlinie den Weg. Aus den Gärten, den Hecken, den Häusern wimmelt es vor. Dreißig Schritt weiter – und wir wären mitten hineingerannt. Jetzt feuern wir, stehend und knieend, was die Gewehre nur hergeben wollen. Verstärkungen kommen, wir stoßen über das Dorf hinaus vor. Keiner denkt mehr an den Sergeanten.
Kurze Zeit später. Ein Granatsplitter hat mir die Hüfte zerschmettert. Zwei Grenadiere tragen mich in die Ortschaft zurück. Vor der Apotheke machen sie halt. Ein Unteroffizier tritt heran: »Die Aerzte sind noch nicht vor, aber hier ist ein Franzmann, der versteht etwas vom Verbinden.« Der Franzose kommt, beugt sich über mich: » Votre main, s'il vous plaît« – wir erkennen uns. Es ist der Sergeant von vorhin. Erschrocken prallt er zurück. Dann fingert er sichtlich nervös an dem Notverband herum. Sein Blick weicht mir aus, ich weiß nicht, ob aus Angst oder Haß.
Man trägt mich ins Haus und legt mich im Zimmer des Apothekers ins Bett. Nebenan im Verkaufsraum liegen andre Verwundete. Der Sergeant untersucht sie, man hört ihn sprechen. Der Nachmittag verstreicht. Gegen Abend kommt ein Offizier, der Oberst des Nachbarregiments, herein, fragt, wie es geht und faßt meine Hand: »Wir holen Sie bestimmt wieder.« Wieso »wieder?« denke ich; da ist er schon fort.
Draußen schießt es, ruft es, hastet es über die Straße. Dann wird es still. Die Dämmerung bricht an. Wieder Rufe und Schritte; Takt von Marschieren. Im Fenster erscheint – mehr läßt sich nicht sehen – ein Käppi. Franzosen also. Ein Gewehrlauf fliegt hoch, senkt sich und ein Schuß knallt ins Zimmer. Nebenan beginnt wüster Radau. Trampeln, Stoßen und Schreien. Gleich sind sie bei mir! Die Klinke bewegt sich, sie rütteln, doch die Tür ist verschlossen. Seltsam, vorhin war sie auf. Aber schon sausen Kolben dagegen. Und nun höre ich eine Stimme, befehlend, scharf – es durchzuckt mich: das ist der Sergeant. Sicher sagt er, daß hier noch ein Deutscher ist, ein Offizier, der ihn umbringen wollte. Jetzt rächt er sich für die Drohung.
Ich entsichere die Pistole, die neben mir liegt, und richte sie auf die Tür. Aber nichts geschieht. Ja, mir scheint, es wird ruhiger. Draußen allerdings ist ein Höllenlärm. Artillerie funkt ins Dorf. Häuser brennen, es blitzt und dröhnt. Fiebernd liege ich zwischen Wachen und Schlaf. Plötzlich steht ein Mann vor dem Bett. Der Feuerschein zeigt sein Profil; es ist der Sergeant. Instinktiv packe ich den Revolver. Er merkt es und wehrt beinah nachlässig ab. Rührt sich nicht. Langsam begreife ich, probiere es, sage: » Soif«. Er nickt, sucht und bringt ein Glas Wasser, das vom Nachmittag her auf dem Tisch steht. Dann stützt er mir sorgfältig den Kopf. » Merci!« Er geht und der Schlüssel klickert im Schloß.
Einmal noch taucht er, schon im Morgengrauen, auf, tritt ans Fenster, wo Franzosen vorübergehen; dann dreht er sich um und kommt lächelnd heran; fühlt den Puls, flüstert » Ah ça va bien!« – wie ein Freund, nicht wie ein Feind.
Es ist Tag geworden. Gewehrschüsse knattern. Dann Hurrarufen, Poltern an der Tür; deutsche Grenadiere stürmen herein. Bald kommt auch ein Arzt. Er prüft den Verband und zählt ein paar Morphiumtabletten in seine Hand. Während er sie in einem Glas Wasser verrührt, unterhält er mich. »Nur gut, daß man Sie nicht gefunden hat. Die andern Verwundeten hat es geklappt. Sie sind fortgeschleppt oder übel mißhandelt worden.«
Friedr. Franz von Unruh, Freiburg i. B.
Namur war gefallen. Ende August 1914 kam das Landw. Reg. 87 mit seinen vier Bataillonen in diese Festung. Sie wurde in vier Abschnitte geteilt, jedes Bataillon bekam einen Abschnitt des Rayons zu Schutz und Sicherung zugewiesen. Die Forts waren nur noch Trümmerhaufen und auch in der Stadt selbst hatte die »dicke Bertha« schlimm gewütet. Die Stadt wimmelte von Arbeitslosen aus den stillgelegten Fabriken und aus jungen Leuten, die kurz vor der Uebergabe der Festung ihre Uniformen ausgezogen und durch Zivilröcklein ersetzt hatten. Die Gefängnisse wimmelten von Gefangenen und im Zentralgefängnis, das in unserem Abschnitt lag, herrschten ganz unmenschliche, unhaltbare Zustände. Akten, warum die Leute eigentlich hier waren, fehlten zunächst gänzlich. Die meisten wußten gar nicht, warum sie eingesperrt waren und die es wußten, sagten es nicht. Da galt es nun, im beschleunigten Tempo Ordnung zu schaffen und Spreu vom Weizen zu sondern. Ich bin von Pontius zu Pilatus gelaufen, das Los dieser Unglücklichen zu mildern oder Freilassungen zu erwirken, wo immer es anging. Dank der loyalen Denkungsart des damaligen Gouverneurs, eines bayrischen Generals, Frhr. von Hirschberg, wurde nobel und großzügig entschieden.
Unter den Gefangenen war auch ein wohl siebzig Jahre alter katholischer Pfarrer, bei welchem Schußwaffen und Munition gefunden worden sind. Da diese laut Proklamation hätten abgeliefert werden müssen, so stand Todesstrafe auf diesem Verbrechen. Denn Proklamation ist im Kriege Gesetz. Daran läßt sich nichts abhandeln. Endlich nahte der Verhandlungstag. Meine Bataillonskameraden und ich waren Beisitzer des Kriegsgerichts. Die Beweisstücke lagen auf dem Gerichtstische: a) ein handgroßer Taschenrevolver, Trommelform ältesten Systems, b) einige Gewehrpatronen, Modell Lesaucheux, c) die Reisetasche mit » Bon voyage« bestickt, in welcher der Revolver a, unter Kleidungsstücken versteckt, auf dem Speicher gefunden worden war.
Der Pfarrer erklärte: der Reisesack stamme von seinem längst verstorbenen Bruder; kein Mensch habe mehr an seine Existenz gedacht, noch weniger gewußt, daß sich »eine Waffe« darin befinde. Die Gewehrpatronen seien erst lange nach der Proklamation hinter einer Bücherreihe, beim Abstauben gefunden und dann aus Angst, sie loszuwerden, im Garten der Nachbarinnen, zwei alten Damen, vergraben worden; ins Klosett habe man sie nicht werfen können, wegen der Verstopfung.
Das konnte man glauben oder für Ausreden halten. Der Verhandlungsleiter hielt jedenfalls den Fall für erwiesen und erwartete ein »schuldig«. Es stand nicht gut für die Angeklagten.
Aber bei der Beratung erklärte einer der Beisitzer, ein alter Jäger, nicht ohne Humor: daß man mit diesem alten Revolverchen sicher eher werfen als schießen könne; es sei mehr Attrappe als Waffe und schieße in Wirklichkeit um die Ecke. Und diese Munition sei nur eine leichte Sportladung, um Spatzen zu verscheuchen, »Vogeldunst« genannt, und passe überhaupt nicht in einen Revolver. Und daher seien die Bedingungen der Proklamation also nicht erfüllt.
Das wirkte. Einstimmig wurden die Angeklagten freigesprochen. Unser Kriegsgerichtsrat hatte sich die Mühe umsonst gemacht.
Otto Meßmer, Alzenau/Bayern.
Die Artilleriegruppe, zu der ich gehörte, war zur Verstärkung unserer Offensive in der Champagne am 28. Sept. 1915 eingesetzt worden. Mannschaften und Führer kamen aus Truppeneinheiten, die das Feuer bisher nur von ferne gesehen hatten. Der kommandierende Offizier versammelte die Truppe, ließ einen Kreis bilden und hielt eine kleine Ansprache in der Absicht, die Stimmung seiner Zuhörer zu heben. Er war Berufssoldat, schlicht und ungeübt in der Kritik der Kriegspropaganda. Er brachte Gerüchte in Erinnerung, die damals über die Grausamkeit der Deutschen umliefen und die, wie zu allen Zeiten üblich, die durch den Feind begangenen Verletzungen des Völkerrechts übertrieben und verallgemeinerten. Und da die Deutschen den Krieg gegen uns ohne Pardon führten, so schloß er seine Rede: daß es unsere Pflicht sei, unmenschlich zu sein, und daß sogar die Gefangenen den Anspruch aus Mitleid verloren hätten.
Die Ansprache machte einen umso größeren Eindruck, als sie sich an Menschen richtete, die aus dem Norden Frankreichs stammten. Sie gehörten zu jener Bevölkerung, die arbeitssam, aber rauher und heftiger ist als diejenige im Zentrum und im Süden. Ihre Dörfer waren vom Feind besetzt. Viele waren verzweifelt darüber, daß sie seit dem Beginn der Feindseligkeiten keine Nachrichten von ihren Angehörigen hatten. Das war also ein guter Boden für den Haß.
Am nächsten Tag erreichte meine Batterie ihren Standort zwischen St. Hilaire und Souain, hinter dem Bergrücken von Vedegrange. Unterwegs begegneten wir mehreren Gruppen von Gefangenen, aber wir waren in Marschkolonne und so gab es keine persönliche Berührung. Dann schossen wir Tag und Nacht; wir litten unter Kälte, Hunger und besonders unter Durst auf diesem dürren Hochplateau der Champagne, wo Quellen unauffindbar sind. Einige unserer Kameraden fielen, einige wurden verwundet.
Am 6. Oktober, nachdem wir eine nächtliche Gegenoffensive zum Stillstand gebracht hatten, gab es einen Augenblick der Stille. Da, im Morgengrauen, bewegte sich mühsam ein deutscher Verwundeter auf uns zu. Die Soldaten verließen schnell ihre Unterstände und drängten sich um ihn. Ich beeilte mich hinzuzukommen, ein wenig unruhig, eingedenk der Ermahnungen des Kommandierenden.
Der Gefangene war ein noch ganz junger Mann, der – wie er später erzählte – vor kurzem plötzlich von der Ostfront abberufen, kaum angekommen in den Angriff geworfen wurde und sich sofort gefangen nehmen ließ. Im Augenblick konnte er nur einige abgehackte Worte hervorstoßen. »Was sagt er?«, fragten mich die Artilleristen. »Er sagt, daß er leidet und daß er Durst hat.«
Im Nu verschwanden die Neugierigen und kamen sofort zurück, wetteifernd, ihm die Feldflasche mit dem so seltenen und kostbaren Wasser zu reichen.
Es war sicher nur ein geringes Opfer, und ich möchte es nicht als Heldentat hinstellen. Aber, was mich hier berührte, war die einmütige Gesinnung dieser Frontsoldaten, die noch eben in voller Wut gegen den Boche sich plötzlich verwandelten, als sie sich einem Menschen gegenübersahen.