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Herbst 1913 verbrachte ich während der Ferien eine Reihe Wochen in meinem Elternhause. Der Hauptlehrer meines Heimatdorfes hielt ständig französische Zöglinge. Unter ihnen lernte ich einen jungen Franzosen kennen, namens Hugo le Tortier. Er war Kriegsschüler in St. Etienne. Wir schlossen uns in diesen Wochen enger aneinander, machten Fahrten und Ausflüge. Wir blieben auch nach seiner Rückkehr im Briefwechsel bis zum Kriegsausbruch. Er wurde Leutnant in irgend einem Linieninfanterie-Regiment.
1918. Frühjahr. Im Marnebogen bei St. Mihiel. Vom freiwilligen Regimentsstoßtrupp war ein Patrouillenunternehmen vorbereitet. Es galt, auf kurzer Breite, den ersten und zweiten feindlichen Graben zu nehmen, seitwärts gegen Ueberfälle abzuriegeln und die Besatzung gefangen zurückzubringen. In kommender Nacht sollten wir in Stellung gehen, am nächsten Morgen bei anbrechender Dämmerung nach kurzer Feuervorbereitung hinaus.
Wir waren im Begriff, in der Kantine einen Abschiedsschoppen zu trinken, als mich der kleine Gefreite Koch aufsuchte. Es war mir aufgefallen, daß er – sonst immer lustig, frisch und ein ausgezeichneter Soldat – in den letzten Tagen merkwürdig gedrückt schien. Ein paar gelegentlichen Fragen war er ausgewichen. Nun saß er traurig bei mir ... »Morgen fall' ich!«
Ich war starr, verwirrt; so brachte mich diese dumpf ausgesprochene Todesgewißheit aus der Fassung; brach aber schließlich doch in spottendes Lachen aus. Aber er ließ sich nicht beirren und überreden, blieb ganz erfüllt von seinen schweren Ahnungen. »Morgen fall' ich ...!« Und dann erzählte er, daß er mutterseelenallein in der Welt stand. Aber durch ein Liebesgabenpaketchen hatte er vor einigen Monaten ein Mädchen aus Dortmund kennengelernt. Sie schrieben sich öfter; ihre Schicksale, Wünsche, Hoffnungen; schließlich tauschten sie ihre Bilder aus; und hatten sich so gefunden. In dem ihm nach der Patrouille zustehenden Urlaub wollte er zu ihr hin; und sie wollten sich verloben, trotzdem sie sich bisher nie gesehen hatten ... Mit Tränen in den Augen, daß mir das Herz brannte, nahm er mir das Versprechen ab, seiner Braut den Abschiedsbrief, den er mir übergab, mit einem schonenden Bericht über sein Ende zu senden. Seine wenigen Habseligkeiten, Briefe, ein paar Andenken, ein wenig Geld hatte er schon in einem postfertigen Paketchen verschnürt. Ich sollte es seiner Braut übermitteln, wenn ich in Urlaub fuhr ...
3 Uhr früh im Sturmstollen! Die letzte Ordonnanz war schon da. Zum dritten und letzten Mal hatten wir die Uhrzeit kontrolliert. »Achtung, noch 8 Minuten!« Droben donnerte und krachte es. Da polterte noch einmal jemand die Treppe herunter. Ich schaue hin ... Koch! Er lag im Nachbarstollen. Und noch einmal beschwört er mich ... schreiend in dem herabschallenden krachenden Getöse: »Du – schreib aber! Ich hab dein Wort! Wenn ihr mich nicht mitnehmen könnt – ich habe einen Brief in der Tasche, daß sie dir Nachricht geben – schreib ihr – schreib ...!« Dann war er wieder fort. Und zwei Minuten später ein schmetternder Schlag. Der Drahtverhau vor unseren Stolleneingängen flog in die Luft, und wir sprangen, Pistole in der Faust, die Stollentreppen hinauf und auf die Sturmleitern, daß die Sprossen krachten ... Unter den dreiundzwanzig, die nicht lebend heimkamen, war Koch. Alle andern wurden zurückgebracht. Er allein fehlte. Vermißt! Wo blieb er? Wer hat ihn fallen sehen? Wer hat ihn überhaupt zuletzt gesehen ...? Ich mußte den Brief nach Dortmund schicken mit meinem schwachen Trost ... Vermißt ...
Drei – vier Wochen später. Mit unbekannter Handschrift kommt ein Brief an mich; aus der Schweiz, vom Roten Kreuz. Ein Bogen fällt heraus, und eine runde Marke.
»Herr Kamerad! Ich erfülle den letzten Wunsch Ihres toten Kameraden Koch. In seiner Tasche trug er einen Brief, in dem er den französischen Kameraden, der ihn auffindet, bat, Ihnen Nachricht über seinen Tod und sein Grab zu senden, daß Sie es seiner Braut berichten können. Ihren Kameraden Koch haben wir zwölf Uhr mittags, als Sie die Stellung wieder verlassen hatten, vor unserer zweiten Linie, durch Brustschuß schwer verwundet, bewußtlos aufgefunden. Nachmittags vier Uhr ist er in B. hinter der Front, ohne das Bewußtsein erlangt zu haben, gestorben. Dort auf dem Friedhof ist er im Einzelgrab beerdigt. Sein Name ist verzeichnet auf dem Kreuz. Seine Marke füge ich bei. Seinen Brief behalte ich als Andenken.
H. le Tortier, Kapitän.«
Nachschrift: »Mein lieber Freund! Wenn Du wirklich mein alter Freund aus R. bist, dann grüße ich Dich. Mit Wehmut gedenke ich heute der frohen Stunden, die wir zusammen verlebten. Wir stehen in getrennten Lagern. Der Himmel mag verhüten, daß wir uns begegnen, und soll es doch geschehen, dann laß auch Du es nur als Freunde sein ...
Dein alter Hugo.«
Richard Zils, Berufsschuldirektor, Frankfurt a. M.
Auf unserem Kompagnieabschnitt war der Angriff abgeschlagen. Und doch war unser Schicksal besiegelt. Jenseits der Straße war die Linie vollständig durchbrochen. Unser Versuch, die Durchbruchsstelle vom Straßendamm aus zu flankieren, mußte nach kurzer Zeit wegen dauernder Verluste aufgegeben werden. Unser Häuflein ward kleiner und kleiner. Um acht Uhr beobachteten wir den Abtransport unserer gefangenen Kameraden aus der zweiten Linie, die von den Engländern von der linken Flanke aus aufgerollt worden war. Wir hatten keine Hoffnung mehr!
Gegen neun Uhr bewegten sich zwei Gestalten von der zweiten Linie kommend auf uns zu. Zwanzig Gewehrläufe hoben sich, aber ein Unteroffizier winkte ab. Es war ein Engländer, der einen Gefangenen zurückbringen wollte, offenbar aber von unserer Existenz keine Ahnung hatte. Plötzlich warf der Deutsche die Arme hoch und brach in die Knie. Deutlich konnten wir die Kugeleinschläge um die beiden wahrnehmen, während die Schützen verborgen blieben. Was tat der Tommy? Ohne sich zu besinnen, packte er den Zusammengesunkenen und, des Geschoßhagels nicht achtend, schleppte er ihn weiter. Und wir? In atemloser Spannung, alles andere vergessend, hatten nur den einen Wunsch: Schicksal, verschone ihn! Laß ihn leben!
Da wurde er uns gewahr! Vor Schreck ließ er den Verwundeten fallen, hob ihn über sofort wieder auf – und überreichte uns sein Gewehr. Der Verwundete, ein Kamerad der 4. Kompagnie, hatte einen Bauchschuß; er starb in der folgenden Nacht in dem einzigen Stollen der Stellung unter der Straße.
Am Nachmittag wurde unser Graben durch Minenfeuer ganz zerstört. Mancher Kompagniekamerad starb im Feuer, kein Verwundeter konnte in Sicherheit gebracht werden. Unser Tommy, ein Sergeant eines Londoner Regiments, der mutige Kamerad und Retter, erlebte mit uns eine schreckliche Nacht auf der Treppe, die in den Stollen führte, aus dem das Wimmern der Sterbenden drang. Wie durch ein Wunder blieben wir unentdeckt, obwohl englische Sanitätssoldaten bei der Suche nach Verwundeten oft in unsere nächste Nähe kamen. Am 4. Mai, morgens gegen neun Uhr fielen wir einer starken englischen Abteilung in die Hände. Wir waren Kriegsgefangene – und unser Tommy war frei!
Martin Meurer, Schriftsetzer, Weilburg a. L.
Unser Aufenthalt im Graben wurde durch feindliche Scharfschützen sehr unangenehm gemacht. Besonders die Beobachtungsposten hatten sehr darunter zu leiden. Kopfschüsse waren an der Tagesordnung, nicht zuletzt auch deshalb, weil es die Posten oft selbst an der nötigen Vorsicht fehlen ließen und den Kopf zu weit hinausstreckten. In meiner Eigenschaft als Zugführer und Rondeoffizier hatte ich den Posten in Sappe 4, den Infanteristen R., schon mehrmals gewarnt. Zu meinem nicht geringen Entsetzen fand ich ihn eines Tages auf einem Kontrollgang durch Kopfschuß schwer verwundet im Graben liegen. Krampfhaft hielt er in der Hand einen Zettel, und neben ihm lag ein Päckchen französischen Tabaks.
Auf dem Zettel stand in französischer Sprache eine Warnung des Inhalts, der deutsche Kamerad (unser Infanterist R.) möge etwas vorsichtiger sein und seinen Kopf nicht so weit hinausstrecken. Der Schreiber der Warnung, der gegenüberstehende französische Posten, würde ihm zwar nichts zuleide tun, aber es käme von Zeit zu Zeit ein französischer Scharfschütze durch den Graben, der es auf die deutschen Posten besonders abgesehen habe. Dies stand auf dem Zettel ... Anscheinend wollte Infanterist R. den aufgehobenen Warnungszettel erst nach seiner Ablösung abgeben und übersetzen lassen. Nun war es zu spät. Denn inzwischen ist wohl der Scharfschütze gekommen und hat den deutschen Posten durch Kopfschuß erledigt. Infanterist R. starb auch daran, ohne noch Mitteilung über den Hergang machen zu können. Die so gutgemeinte Warnung des edlen Gegners hatte das Schicksal nicht verhüten können.
Melchior Baptist, Hauptlehrer, Lindau-Reutin.
Südlich von Metz gab es amerikanische Gefangene. Der eine war im Gesicht verwundet und hielt mit der Hand und etwas Verbandszeug seine verletzte Backe zusammen. Unausgesetzt schrie er nach seinem Freund, den er offenbar vermißte und im Durcheinander der Kampfhandlung verloren hatte. Er war aber dabei nicht irrsinnig, wie man leicht annehmen mochte, sondern bei vollem Bewußtsein, das ihn hindrängte zu seinem Freunde. Ueberall rannte er herum, suchte und stürmte nach unseren rückwärtigen Stellungen bei voller Bewaffnung, und niemand trat ihm entgegen, denn er suchte ja seinen Freund.
Erwin Eberlin, Sekretär, Freiburg i. Br.
Unsere Kompagnie lag am »Franzoseneck« vor Compiègne. Es war von der Division der Befehl gegeben worden, einen Gefangenen zu machen, um festzustellen, welche französische Truppe in unserem Frontabschnitt gelegen sei. Es wurde bekannt, daß noch eine letzte Schleichpatrouille zu machen sei, falls diese wieder resultatlos endigen sollte, müsse eine gewaltsame Erkundigung stattfinden, um Gefangene, tot oder lebendig, zu machen. Unter den Soldaten dieser Patrouille befand sich auch ein junger Kandidat der Theologie, Musketier K. Dieser, der geläufig französisch sprach, über ein paar kräftige Arme dazu verfügte, war unsere größte Hoffnung. Sein getreuer Eckehart, ein ostelbischer Bauernsohn, gleichfalls mit einem Paar kerniger Fäuste ausgestattet, gehörte dazu. Diesen beiden glückte es denn auch, an einer kleinen vorspringenden französischen Sappe unbemerkt in deren Graben einzudringen. Sie begannen sich gerade flüsternd zu unterhalten, was beginnen, als sie plötzlich im Vordergrund der Sappe eine Bewegung einer menschlichen Gestalt feststellten.
Es war ein französischer Soldat, der dort verharrt hatte. Auf den Franzosen zustürzen, der durch den Lärm in seinem Rücken herumfuhr und vor Schreck in die Knie sackte, und dessen mit Todesblässe überzogenes Gesicht der eben hervorbrechende Mond gespenstisch beleuchtete, und ihn an die Kehle fassen, um jegliches Hilferufen zu unterbinden, war für Musketier K. eins. Der Posten hatte gerade noch Zeit, ein geröcheltes: » O bon camarade« auszustoßen, da schwieg er schon stille. Musketier K. lockerte seinen Griff, nachdem er sich mit seinem verwundeten Kameraden darüber verständigt hatte, daß nun dieser den Gefangenen halten solle. Er raunte dem Beängstigten noch zu, daß ihm nichts Böses geschehen werde; nur solle er den Mund halten und sorgen, daß er hurtig mitkomme. Alsdann sprang K. auf die Deckung hinaus, ergriff den Gefangenen an den aufgerollten Achselklappen und zog ihn zu sich hinauf. Sein Kamerad folgte ihm so gut und schnell es ging mit dem zerschossenen Arm. Dann hielt dieser wieder den Gefangenen und K. kletterte über den Drahtverhau der Franzosen hinüber. Dann faßte er den Gefangenen wieder an den Achselklappen und zog ihn zu sich hinüber und im Hui gings zurück über Niemandsland zum deutschen Graben hin. Unser Franzmännchen vorneweg im Galopp. Plumps knallte er in unseren Graben hinein direkt vor die Füße des deutschen Postens, der verwundert den Gast betrachtete. Diesen erblicken, auf ihn zu eilen, war für unseren Gast das erste. » O, bon camarade,« jubelte er, » la guerre est finie pour moi.«
Die Freude in der Kompagnie über den gelungenen Zug war natürlich groß. K. und sein Kamerad waren die Helden des neuen Tages, der oben heraufstieg. Mit diesem neuen Tage, der zu uns kam, kam noch etwas anderes über Niemandsland zu uns auf Besuch. Ein allerliebstes kleines Kätzchen kam leise miauend angewieselt. Der erstaunte Posten, der ein großer Katzenfreund war, nahm sich des seltenen Wesens, das da in rührender Hilflosigkeit über Schlachtfelder taumelte, liebreich an. Er streichelte und hätschelte es, wie es nur einer kann, der lange nicht mehr seine Hand auf so ein zartes Gebilde legen konnte, und keine Gelegenheit zu Zärtlichkeiten fand.
Mitten im Streicheln, das unser Kätzchen leise und glücklich schnurrend hinnahm, bemerkt der Soldat eine starke Schnur, die um den Hals des Tierchens gezogen ist. Nanu, denkt er, ist das mit Absicht geschehen? Man schmückt doch kein so zartes Kätzchen mit so einer Packkordel! Richtig, woher sollte das Tierchen kommen, wenn nicht aus der französischen Stellung, da deutscherseits keine Katzen gehalten wurden, und die menschlichen Wohnungen so weit, weit zurücklagen. Aha, das scheint's zu sein. Ein Stück Pappe ist in die Schnur eingewickelt und ragt gleich hinter dem einen Oehrchen des Kätzchens heraus. »Eine Botschaft vom Franzmann« zuckt es dem Posten durch den Sinn.
»Nanu,« meint der Unteroffizier, der soeben am Posten vorbeikommt, »was hast denn du da für etwas Seltenes geangelt?« »Hast du kein Messer?« fragte der Posten zurück, »ich glaube, da haben wir eine Botschaft vom Franzmann bekommen.« Die Kordel wird zerschnitten, die Pappe aufgerollt. Richtig, eine mit Bleistift geschriebene Mitteilung wird sichtbar, folgenden Inhaltes:
» Chers Camarades! Ihr habt einen guten Kameraden von uns gefangengenommen. Hoffentlich befindet derselbe sich wohl. Wir sind euch allen sehr gut gesinnt, und wir begrüßen euch auf das Aufrichtigste.«
Ohne die Sache an die große Glocke zu hängen, als Kameraden zu Kameraden, als Poilus zu Poilus, wurde die Antwort auf französisch postwendend bzw. »kätzchenwendend« gegeben wie folgt:
» Chers Camarades! Es stimmt, daß wir euren Freund gefangen genommen haben. Er ist unverwundet und soweit wir unterrichtet sind, wohlauf. Auch wir sind gute Jungens, und wir erwidern eure Grüße ebenso aufrichtig.«
Diese Antwort wurde unserem Kätzchen wieder angehängt, das der arme Posten mit Wehmut scheiden sah. Es wollte nicht direkt, aber als wir schweren Herzens ihm durch einige Handvoll Erde nachgeholfen hatten, hupfte es im Wirbelwind davon, und wenige Augenblicke nachher verkündete ein Freudengeschrei von drüben, daß der Bote wieder glücklich gelandet sei. Die Idylle war beendet.
Knapp eine Stunde nachher lagen die beiden Stellungen wieder unter schwerstem Feuer eingedeckt, das Mordgespenst Krieg ging wieder um ... Aber eine Mutter drüben in Frankreich würde bald wieder freudig werden ...
Willy Dohmen, Rölsdorf bei Düren.
Es war am 23. April 1915 beim Angriff auf den Ypernbogen. Trommelfeuer und Ablassen von Gas leiten den Angriff ein. Steenstraate wurde gestürmt, der Angriff auf Lizerne angesetzt. Jetzt setzt der Gegner zur planmäßigen Abwehr ein. Schwerstes Artillerie-, Maschinengewehr- und Minenfeuer bringt den Angriff zum Stehen. Da werde auch ich am Ausgang von Steenstraate schwer verwundet. Dreißig Meter vor uns liegt der Gegner, hilflos liege ich auf der blanken Erde, links von mir der Freiwillige Veerhof aus Bremen mit Kopfschuß, rechts von mir ein Freiwilliger aus Holstein mit schwerem Schulterschuß. Ein Eingraben war unmöglich, lagen wir doch auf steinigem Unterboden; ehemals mag wohl hier ein gepflasterter Hof gewesen fein. Doch ich muß raus aus dem Hexenkessel. Endlich raffe ich mich auf, um nach einer etwa fünfzehn Meter hinter uns auf einer kleinen Anhöhe liegenden Häusergruppe zu kriechen; für mich eine Qual, war ich doch am gesamten Unterkörper völlig gelähmt: Rückendurchschuß. Endlich bemerken mich Kameraden einer Maschinengewehr-Gruppe. Aus der Häusergruppe aber kam unser Nachschub, und deshalb liegt sie unter schwerstem feindlichen Maschinengewehr-Feuer. Doch ich habe Glück. Kein Schuß trifft mich. Die Kameraden des Maschinengewehrs bauen mir nun zu ihrem eigenen Schutze einen Damm aus Sandsäcken entgegen, ziehen mich dann hinter diesen Wall, um mich endlich in ein in der Häusergruppe befindliches Haus zu bringen.
In einem zu ebener Erde gelegenen Raume legen sie mich nieder. Ungefähr fünfzehn bis zwanzig Mann, durchweg alles Schwerverwundete, sind schon hier untergebracht; darunter zwei Kompaniekameraden, und zwar ein Landwehrmann Wolfgram aus einem pommerischen Dorfe und ein Kriegsfreiwilliger David aus Stargard. Die Nacht ging rum. Der Tag kam; es wird Mittag, aber niemand denkt an uns. Kein Essen, kein Wasser, dazu ein wahnsinniger Durst. Ein Sanitäter, der sich wohl nach hier einmal verirrte und der von uns flehentlich um Wasser gebeten wird, gibt uns die Antwort: »Ich kann keins beschaffen« – und mit diesen Worten verschwindet er wieder.
Da setzt der Franzmann wieder mit auch für die damaligen Verhältnisse geradezu furchtbarem Artilleriefeuer ein und rasiert uns das Dach über dem Kopf weg. Ein Offizier verirrt sich zu uns. Wir bitten ihn, uns doch aus der Feuerlinie bringen zu lassen. »Ach was, hier liegt ihr vorläufig mal gut,« war die Antwort. Es mag möglich sein; denn wir können die Lage da draußen von unserem Lager aus nicht beurteilen. Da kracht ein schwerer Einschlag direkt vor unserer Fensterhöhle; vom Dreck werden wir halb zugedeckt; Schreie, Stöhnen. Unser Offizier verschwindet mit einem Satz durch die Türe und wird nicht mehr gesehen. Aber noch lebe ich, und mit mir meine beiden Regimentskameraden. Da, vier Einschläge schwerer amerikanischer Brisanzgranaten durch die Wand und die Decke durch; Qualm, Rauch, Schreien. Ein furchtbarer Schmerz in meinem rechten Bein; ich weiß noch, daß ich aufschreie und falle, und dann verläßt mich das Bewußtsein.
Im Keller des Hauses komme ich wieder zu mir und sehe, daß Wolfgram und David auch hier wieder meine Nachbarn sind. Die drei einzig Ueberlebenden; alles andere ist tot. Gottlob, also wenigstens nicht allein. Dabei noch zwei unverwundete, aber leicht gaskranke Franzosen. (Es war der erste Gasangriff des Weltkrieges.) Also Feinde. Hier aber wurden diese Leute zu unseren Engeln. Wolfgram hatte oben einen schweren Granatsplitter in die Brust erhalten, er litt furchtbar. Trotz aller Mühe, die sich die beiden Franzosen mit ihm gaben, verschied er bald darauf. David hatte einen zerschmetterten Fuß, ich selbst außer meinen alten Verwundungen einen Splitter im rechten Schienbein und einen weiteren im Rücken. Daß mein rechtes Gehör ebenfalls futsch war, merkte ich erst später. Und was unser deutscher Sanitäter nicht fertig gebracht hatte, brachten unsere beiden Feinde fertig; sie verschafften uns Wasser. War's auch kein Quellwasser, so war es immerhin seit zwei Tagen der erste Tropfen. Weiterhin befanden sich in diesem Kellerraume auf der Erde zwei Sprungfedermatratzen und außerdem an der einen Wand ein Sofa. Liebevoll verbanden uns die beiden Gegner, zum Teil mit ihrem eigenen Verbandszeug; sie betteten uns auf die Matratzen; ich selbst zog nachher auf das Sofa um. Sie fütterten uns mit ihren eigenen, wenn auch trockenen Brotresten, und die zwei letzten Zigaretten, die sie hatten, brachen sie auseinander, so daß wir alle vier etwas zu rauchen hatten. Die zweite Nacht bricht herein, alles ist dunkel, nur draußen brennt es.
Wahnsinniges Maschinengewehr- und Minenfeuer, doch keiner weiß, was los ist. Hatte ich Angst oder nicht, ich weiß es nicht mehr. Es geht auf den Morgen zu; die Feuertätigkeit draußen steigert sich aufs äußerste; Stimmengetöse; da, ein Befehl: »Alles zurück!« »David!« schreie ich, »sie gehen zurück. Raus, oder wir kommen in Gefangenschaft.« Alles, aber nur das nicht. Ich wälze mich von meinem Sofa runter durch den Keller auf die Treppe zu. David bleibt zurück und kommt später dann auch tatsächlich in Gefangenschaft. Ich krabbele, so gut ich es mit meinen lahmen Beinen vermochte, ungeachtet der Schmerzen die Treppe hoch. Halb bin ich oben, da verläßt mich die Kraft, und ich rutsche wieder zurück bis nach unten. Doch jetzt kommen mir die beiden Gegner zu Hilfe, und mit ihrer Hilfe komme ich nach oben.
Doch nicht unsere Leute gehen zurück, sondern es ist ein Gefangenentransport von einigen hundert Mann, die nach rückwärts abtransportiert werden. Der Abtransport geht über einen schmalen, von unseren Pionieren über den Yserkanal geschlagenen Laufsteg vor sich. Mittlerweile ist es hell geworden, und der Gegner, der sieht, was vor sich geht, belegt diesen Steg und damit seine eigenen, wenn auch gefangenen Leute mit schwerem Artilleriefeuer. Nur einzeln und im Laufschritt wird der Steg von den Gefangenen passiert.
Was aber machen nun meine beiden französischen Kameraden? Wohlbewußt sage ich hier »Kameraden«, denn für mich waren es keine Gegner mehr, nein: Freunde! Sie verschränken die Arme, nehmen mich darauf, und ungeachtet des Artilleriefeuers gehen sie mit mir, behutsam auf meine Schmerzen und Verwundungen Rücksicht nehmend, langsam über die Brücke. Hier trennten sich unsere Wege. Sie in die Gefangenschaft und ich nach dem Verbandsplatz, dem sogenannten »Kuhstall« bei Bixschoote. Leider habe ich verabsäumt, mir ihre Anschriften geben zu lassen. Mein Dank hätte ihnen gebührt.
Emil Ehnes, techn. Angestellter, Kassel.
Am 1. Dezember 1917 bei der Schlacht bei Cambrai, mittags gegen 2 Uhr, gab ich einem jungen etwa 21jährigen Engländer, der erschöpft in einem mit Wurfgranaten gefüllten Loche gesessen, meinen größten Teil Kaffee, nachdem ich ihn aus dem Loche gelockt habe, da ich ja nicht wußte, aus welchem Grund er sich ausgerechnet auf die Unmasse Granaten gesetzt hatte. Möchte noch hinzufügen, daß ich ohne jeden Orden aus dem Krieg, den ich viereinhalb Jahre mitmachte, hervorging. Die Namen der Orte weiß ich nicht mehr, links von Cambrai.
R. L.
Bis zum 18. September 1918 lag das Leib-Grenadier-Regiment 8 in schweren Abwehrkämpfen auf den Steilhängen von Jouy (Jouy-Riegel). Auch am 16. September nachmittags griff der Franzose nach dreistündiger Artillerievorbereitung mit starken Kräften unsere Stellung an. Die Franzosen wurden aber durch die 3. Maschinengewehr-Kompanie in den späten Nachmittagsstunden zum Zurückgehen gezwungen. Von den vereinzelt am weitesten vorgedrungenen Franzosen wurde unsere Gewehrbesatzung nach dem Angriff auf das Jammern eines Verwundeten aufmerksam gemacht. Er lag vor uns in einer tiefen Schlucht und rief ohne Unterbrechung: » Camarade, camarade ...« was uns nach dem Tosen des Angriffs in der eingetretenen Stille keine Ruhe finden ließ. Richtschütze Grüger und Schütze Zielicke vom 3. Zug der 3. Maschinengewehr-Kompanie baten ihren Gewehrführer E., den Verwundeten holen zu dürfen, was beiden mit einigen kurzen Befehlsworten ohne Begründung untersagt wurde.
Es war Nacht. Unser Frontabschnitt war ruhig. Nur das bis ins Mark dringende Rufen und Klagen blieb: » Camarade, camarade ...« An Schlaf war nicht zu denken. Gegen drei Uhr morgens machten sich Grüger und Zielicke trotz Verbots auf die Suche nach dem Verwundeten. Nach längerem Suchen in der Finsternis fanden sie ihn. Es war ein französischer Feldwebel. Er hatte einen Gewehrschuß durch beide Oberschenkel. Als sie bei ihm knieten, hielt er seine Retter krampfhaft fest und klagte: »Deutsche camarade, la guerre finie ...« (Deutscher Kamerad, Schluß mit Krieg). Er bot aus Dankbarkeit all sein Geld, Schokolade, Oelsardinen, eben alles, was er hatte, bereitwilligst an, was sie aber auf seine eigene Bedürftigkeit hin ablehnten. Die vier Zipfel der Zeltbahn wurden zusammengebunden, ein nach einigem Bemühen gefundener Ast durchgesteckt, der Verwundete hineingelegt und los ging's – seitwärts von unserer Gewehrbesatzung in einen Sanitäts-Unterstand. Beim Transport stürzten sie über von Granaten zerrissene Bäume und in Granatlöcher, wobei der Verwundete gräßliche Schmerzensschreie ausstieß. Hierdurch wurde ihr Gewehrführer aufmerksam und bemerkte ihr Fehlen.
Inzwischen hatten sie den Verwundeten abgeliefert. Unter den schon Anwesenden befand sich auch ein französischer Kapitän, der sofort bei seinem Anblick lebhaft mit ihm sprach. Hieraus entnahmen wir, daß sie sich kannten, was uns der Offizier auch gleich in gebrochenem Deutsch bestätigte. Voller Freude gab er uns Zigaretten und unter Händeschütteln versicherte er seinen Dank für die Hilfeleistung, die seinem Kameraden zuteil wurde.
Als beide Schützen glücklich in ihre Stellung zurückkamen, gab's eine große Strafpredigt vom Gewehrführer E. wegen Gehormsamsverweigerung und Melden. Zum Melden ist es aber nicht mehr gekommen, denn er fiel einen Tag später verwundet in französische Gefangenschaft. Der verwundete Franzose kam am nächsten Tage durch erfolgreichen Angriff wieder zurück zu den Seinen.
Hugo Zielicke, Arbeiter, Döllensradung.
Es war am 26. Februar 1915. Wir, also das 1. Batl. des 2. sächs. Grenadier-Regt. Nr. 101, lagen im Schützengraben, rechts von Reims zwischen Berry au Bac und La Ville aux Bois. Die zweite Kompagnie, welcher ich angehörte, stand am linken Flügel des Regimentsabschnittes. Die gegnerischen Gräben lagen etwa 80 Meter auseinander. Vor unserem Graben hatten wir ein fünfzehn Meter breites Drahtverhau. Um nun vor Ueberraschungen geschützt zu sein, wurden während der Nacht Horchposten vor das Drahtverhau gelegt, denn damals gab es noch keine bis vor das Drahtverhau vorgetriebene Sappen. Ich hatte die letzte Ablösung und löste um fünf Uhr meinen Kameraden ab. Der Befehl lautete: Das Herannahen vom Feinde soll durch drei hintereinanderfolgende Schüsse bekannt gegeben werden, und nur bei Morgengrauen war der Horchposten zu verlassen.
Ich lag nun draußen, fror erbärmlich und langweilte mich sehr, denn es war größte Ruhe, und vom Feinde war nichts zu merken. Trotz dicker Handschuhe fror ich auch bald an den Händen und steckte diese abwechselnd in die Manteltaschen. Dabei wurde ich an meine vier Briefe erinnert, welche ich in der Nacht nach vierzehntägiger Postsperre erhalten und vorerst in die Manteltasche gesteckt hatte. Ich nahm mir vor, diese zu lesen, sobald es hell wurde. Endlich graute im Osten der Morgen. Meine Pflicht war es nun, noch etwa 15 Minuten zu warten und mich dann in den Graben zurückzuziehen.
Doch ich konnte es nicht erwarten, den Inhalt meiner Post zu erfahren und hatte schon im Dunkeln alle Briefe aufgerissen. Als ich dann einigermaßen lesen konnte, hatte ich meine Umgebung vergessen und las einen Brief nach dem andern. Den Brief meiner Mutter hatte ich mir für zuletzt aufgehoben. In ihm lag eine Photographie meiner Mutter. Wie ich so ihre lieben Züge betrachtete und wahrnehmen mußte, wie verhärmt und gealtert meine Mutter seit unserem Abschied aussah (was ja auch kein Wunder war, denn sie hatte außer mir noch drei Söhne an der Front), überkam mich auf einmal das Gefühl, als wenn mich jemand beobachtete. Und als ich aufschaute – es war inzwischen taghell geworden – kniete wahrhaftig ein Franzose, das Gewehr im Anschlag auf meinen Kopf gerichtet, höchstens dreißig Schritte halblinks von mir entfernt hinter dem Gestrüpp des Miettebaches.
Ich war tief erschrocken, schon mehr tot als lebendig, und nicht imstande, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Nie wieder werde ich die Sekunden vergessen, wo ich in die Mündung des feindlichen Gewehrs blickte, nur noch wartend, bis der Franzmann abdrückte. Ich war ja selbst daran schuld; meinen Leichtsinn konnte ich jetzt mit dem Tode bezahlen.
Doch nichts von alledem geschah. Als der Franzmann sah, daß ich keine Anstalten machte, mich zu wehren, senkte er das Gewehr, winkte mir freundlich zu, lächelte und verschwand in dem dichten Unterholz.
Warum hatte der Franzmann nicht geschossen? war mein erster Gedanke, den ich fassen konnte. War wieder eine feindliche Patrouille unterwegs und er wollte durch Schießen sich und seine Kameraden nicht verraten? Doch nein, diesen Gedanken verwarf ich wieder, als ich mich des gutmütigen Antlitzes des älteren Franzosen, ich schätzte ihn auf 45 bis 48 Jahre, erinnerte. Durch das Lesen meiner Briefe aus der Heimat – und das mußte er erkannt haben – waren ihm sicher auch Heimatgedanken aufgestiegen; vielleicht hatte er selbst Brüder oder gar einen Sohn in meinem Alter an der Front. Und da schämte er sich, in solcher Stimmung auf diese Art ein Menschenleben auszublasen. Wer weiß, wie lange er mich schon beobachtet hatte? Denn vom Lesen der Briefe ab hatte ich meine Umgebung und auch die Zeit vergessen.
Plötzlich hörte ich meinen Vornamen rufen. Es war mein Korporalschaftsführer, welcher in größter Sorge um mich war; denn schon eine halbe Stunde mußte ich zurück sein. Eiligst packte ich Zeltbahn und Gewehr und kam vorsichtig kriechend in unserem Graben an. Da sonst niemand von unseren Kameraden von meinem späten Hereinkommen etwas bemerkt hatte, blieb das Erlebnis nur für uns zwei ein Geheimnis. Meine Pflicht wäre es gewesen, den Vorfall sofort meinem Kompanieführer zu melden. Aber ich hätte sicher eine empfindliche Strafe für unwürdiges Verhalten vor dem Feind erhalten.
Max Kind, Büroangestellter, Leipzig.
Beim Rückzug der deutschen Truppen von der Sommefront zur Siegfriedstellung im März 1917 wurde auf Befehl der Obersten Heeresleitung das gesamte Räumungsgelände dem Erdboden gleichgemacht, um dem nachrückenden Feinde jeglichen natürlichen Schutz zu nehmen. Kein Baum, kein Strauch, keine Hecke, kein Zaun blieb erhalten. Die Dörfer und Gehöfte gingen in Flammen auf. Die Bewohner wurden in einzelnen Ortschaften gesammelt und in Kirchen untergebracht.
In Braignes, einem kleinen Dörfchen des Somme-Gebietes, bot sich am Nachmittag des 15. März ein erschütterndes Bild. Es war der Tag, wo die Bewohner ihre Häuser zu verlassen und sich in die Kirche zu begeben hatten, die allein inmitten der Ruinen erhalten bleiben sollte. Auf den Straßen schleppten sich Greise und Greisinnen zum Gotteshaus hin und versuchten mühsam, ihr liebstes Hab und Gut zu bergen. Kinder schrien auf den Armen der Mütter. Mädchen und Jungen zogen auf kleinem Gefährt die notwendige Habe der Familie zum Kirchplatz. Weinende Frauen warfen einen letzten Blick auf ihre Behausung, die bald ein Opfer der Flammen werden sollte.
Die aus der Somme-Hölle kommenden Soldaten des III. Bataillons des Infanterie-Regiments 164 standen neben der Straße und betrachteten einen Augenblick unbeweglich das Bild des Jammers. Ihre Seelen waren hart geworden von langem Kampf und Todesgrauen. Doch nur einen Augenblick währte es, dann ging eine Bewegung durch die Reihen. Hier wendete sich einer ab und ging mit einem Gemurmel »Nicht mehr mit ansehn« schnell davon. Andere fuhren sich flüchtig über das Gesicht, schluckten etwas herunter oder schnäuzten sich ...
»Los, anfassen!« klang plötzlich die rostige Stimme eines Landwehrmanns.
Einige ältere Mannschaften, Familienväter, lösen sich aus der Ansammlung, nehmen einem alten Mütterchen die Bürde ab und tragen sie zur Kirche. Ein Offizier nickt seine Zustimmung. Das Beispiel spornt an. Die meisten fassen zu und helfen. Wagen werden gezogen, Koffer getragen, Kisten geschleppt, Kinder auf den Arm genommen, Mütter beruhigt, Schwache geführt. In der Kirche werden Lagerstätten auf herbeigeschafften Matratzen oder Strohschütten hergerichtet. Dankerfüllte Blicke und warme Händedrücke sind der Lohn. Als das Bataillon abrückte, baten die Bewohner: »Nehmt uns doch mit nach hinten!«
Dr. A. Niemeyer, Wuppertal-Barmen.
Es war im Dezember 1916, während der Sommeschlacht. Bekanntlich die Zeit, wo an der Somme die furchtbare Regenzeit war. Menschen und Tiere versoffen im Schlamm. Granaten hatten fast keine Wirkung, da sie keinen Aufschlag hatten. Daher warfen sich die Feinde viel Minen zu. Stellung gab es sozusagen überhaupt nicht, eine endlose Ebene, nur Wasser und Schlamm. Wir konnten unsere Stellung nur mit dem Kompaß finden. Ich lag als Krankenträger der 33. I.-D. in der Gegend von Bapaume. Jeden Morgen gingen wir etwa fünfzehn Kilometer nach vorne in Stellung und holten die Verwundeten und Kranken. Eines Morgens versank ich bis unter die Arme in vorderster Stellung in den Schlamm. Es war wieder so ein täglicher Minenzauber im Gange. Meine Kameraden rannten an mir vorbei und ließen mich im Schlamm stecken. Der letzte, der vorbeikam, war unser Vizefeldwebel Fleury, ein Lothringer; er versuchte mich herauszuziehen, sank aber selbst ein und ließ mich – da wieder eine Mine einschlug – stecken, er wäre auch selbst versoffen. Ich gab schon meinen Geist auf. Auf einmal steht ein riesiger englischer Sergeant-Mayor mit einem Stollenbrett vor mir, stellt sich auf das Stollenbrett und zieht mich unter Fluchen (ich verstand allerdings nur immer Boche) aus dem Schlamm. Ich will mich bedanken, und er – tritt mich in den Hintern und läuft wieder auf seinen Unterstand zu, wirft sich unterwegs noch mehrmals vor seinen eigenen Minen in den Dreck. Ihm verdanke ich mein Leben.
Heinrich Weindorf Kaufmann, Witten-Ruhr.
1.
Auszug aus dem Brief meines Sohnes, Sept. 1914. Henri schreibt: »Ein deutsches Feldlazarett mit seinem ganzen Personal wurde von den Unseren gefangen genommen. Man stellte den deutschen Major vor die Wahl, uns ihre Verwundeten zu überlassen und frei zu sein, oder sich gefangen zu geben, um die Verwundeten weiter pflegen zu können. Der deutsche Major wählte das Letztere, und aus Bequemlichkeitsgründen vereinigte man das deutsche und das französische Lazarett. Die Aerzte übernehmen die Pflege der Verwundeten, während die beiden Sanitäterkolonnen vereint auf das Schlachtfeld ziehen, um die Verwundeten herbeizutragen. Da der älteste Sanitäter ein Deutscher ist, wird ihm die Führung übertragen, und er marschiert an der Spitze der Kolonne unter dem ständigen Schrapnellfeuer.«
2.
Meine Nachbarin hat eben einen Brief von ihrem Sohn erhalten, der im Norden an der Front ist. Er schreibt: Seine Kompanie kämpfte schon einige Tage, und da sie stark aufgerieben war, wurde sie von der Front zurückgezogen. Es waren insgesamt ungefähr hundert Soldaten, mehr oder weniger erschöpft, hinkend, elend, schmutzig, seit langem ohne genügende Nahrung. Sie mußten ein Gehölz durchqueren, wo sie sich vorsichtig weiter bewegten. In der Mitte des Gehölzes sahen sie in den Strahlen der untergehenden Sonne einen formlosen Haufen. Sie näherten sich: es waren etwa fünfzig gefallene deutsche Soldaten. Trotz ihrer Müdigkeit wollten sie die Helme an sich nehmen und gingen näher. Da merkten sie plötzlich, daß der Haufen sich bewegte, und hörten ein Stöhnen. Einen Hinterhalt fürchtend, nahmen sie ihre Bajonette vor. Aber die Sterbenden hatten gerade noch die Kraft sich zu erheben und, ohne ein Wort zu sagen, streckten sie ihnen weinend ihre Hände entgegen. »Dann,« fügt mein kleiner Soldat hinzu, »nahmen wir die uns entgegengestreckten Hände, und bei dem Anblick fingen wir selbst an zu weinen.« Und als Schlußfolgerung meinte er noch: »Mit einem Schlage verstanden wir das entsetzliche Unglück des Krieges, und wir hatten keine Lust mehr, den Sterbenden die Helme abzunehmen.«
Mad. Dispan de Pleran, Hay des Roses, Seine.
Mitten im Krieg lernte ich auf der Straßenbahn einen Landsmann aus Borssum bei Emden kennen, der mir durch seinen Dialekt aufgefallen war. Er war ein einfacher, ungelernter Arbeiter. Unter anderem erzählte er mir folgendes Erlebnis, das er kurz vor seiner schweren Verwundung hatte:
»Wir hatten gerade einen feindlichen Unterstand zerstört und wollten wieder in unseren Graben zurück, da hörten wir flehende Hilferufe aus dem beschossenen Unterstand.
»Da lebt ja noch einer, wir müssen noch einmal hineinschießen!« sagte einer von uns.
»Nein, eben darum nicht!« sagte ich, »der hat vielleicht auch jemanden, der sich freut, wenn er ihn wiedersieht; wir holen ihn!«
Das haben wir denn auch getan und brachten ihn in unseren Unterstand. Und der Mann war so glücklich, daß er nun doch seine Frau und die Kinder wiedersehen würde!«
Dr. med. Käthe Neumark, Frankfurt.
Im Spätherbst des Jahres 1917. Seit 2 Uhr morgens trommelten an der Isonzofront bei Tolmein schwere und schwerste Geschütze die italienischen Betonstellungen zusammen. Während des Feuers, im Schutze der Nacht, rücken wir in unsere Sturmstellungen ein. Gegen sieben Uhr morgens Feuerpause – dann Vernichtungsfeuer aus sämtlichen Rohren auf die italienischen Infanteriestellungen. Sturm, Durchbruch, die Front ist zerschlagen – wir marschieren ...
Ich nähere mich mit meinem bayerischen Maschinengewehrzug Woltschach, erster provisorischer Truppenverbandsplatz. Italiener von Deutschen geführt, Deutsche von Italienern getragen – blutige Binden um Kopf, hängende Arme, baumelnde Beine – so begegnen sie uns, ziehen rückwärts. Mein Maschinengewehr-Zug ist in dem zerwühlten Gelände zerrissen. Maulesel sind mit den Caretten da und dort bei Grabenübergängen eingebrochen, und mühselig reite ich herum, sie wieder zusammenzufinden.
Abseits, auf einem Felsblock hockend, finde ich einen Italiener, hält den Leib mit beiden Händen; Blut, Gedärm quillt zwischen den Fingern hervor. Vor ihm kniet ein Vizefeldwebel des Infanterie-Regiments, dem ich mit meinem Maschinen-Gewehr-Zug zugeteilt bin, stützt den Kopf des Italieners, streichelt ihm über das feuchte Haar und – weint, während Gestöhn und Gebetsjammer des Sterbenden langsam in ein monotones Gemurmel übergingen ...
Kein Heldentum, keine Tapferkeit dieses Deutschen – aber seine streichelnden Hände, die rollenden Tränen werden ihm dermaleinst einen Platz im Himmel verschaffen.
Karl Münzinger, Kaufmann, Möhringen a. F.
Wir lagen Herbst 1917 den Engländern gegenüber. Die Entfernung zwischen den Stellungen betrug siebzig bis achtzig Meter; das Zwischengelände voller Granattrichter. Es waren ruhige Tage. Kein Angriff, nichts, nur belanglose Schießereien zeigten, daß die beiderseitigen Stellungen besetzt waren. Ich lag mit meinem Zuge am linken Flügel des Regimentsabschnitts. Im Anschluß daran ein Landwehr-Regiment.
Eines Nachts erhielt ich die Meldung, daß von meiner Nachbarkompagnie, eben des Landwehr-Regiments, eine Patrouille frühmorgens hinausgehen würde. Ich hatte Befehl gegeben, nicht zu schießen, denn es bestand die Möglichkeit, daß die Leute durch irgend einen Zufall vor meinem Abschnitt auftauchten. Der Gegner hatte aber die Leute bemerkt, und sofort setzte eine wahnsinnige Schießerei ein. Die auf unsere Gräben eingestellten Maschinengewehre mähten über unsere Köpfe hinweg und streuten das Gelände ab; Gewehrschüsse knatterten, und bald setzte auch Artillerie-Feuer ein, so daß es bei dieser Schießerei und den dauernd aufleuchtenden Leuchtkugeln ausgeschlossen war, daß die Patrouille zunächst in den Graben zurück konnte.
Das Artilleriefeuer hörte nach etwa einer halben Stunde auf, über die Maschinengewehre knatterten ununterbrochen weiter, so daß für die Leute, die sich in den Granatlöchern verkrochen hatten, nur geringe Möglichkeit bestand, zurückzukommen. Wir bedauerten die armen Kerle, die infolge eines kaum zu verantwortenden Befehls zwischen den Stellungen lagen. Bald fing es an zu dämmern und wir konnten schon das Gelände leidlich erkennen. Eine Rückkehr erschien nun erst recht unmöglich, denn noch immer streute der Gegner das Gelände ab.
Plötzlich höre ich in dem M. G.-Feuer jemanden singen. Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Zwei Kameraden, die bei mir standen, sehen mich sprachlos an.
Gesang? Hier? In vorderster Linie? Wer singt denn? Das ist ja Wahnsinn! Und richtig, der Gesang kam aus dem Gelände links vor uns. Eine einzelne Männerstimme sang ein Lied. Welches Lied? Ich weiß es nicht. Der Augenblick war ergreifend.
Und die Wirkung? Das Schießen ließ plötzlich nach und verstummte dann ganz. Kein Schuß fiel mehr, und bald waren die vier Mann unbehelligt vom Gegner wieder in ihrem Graben, alle wohlauf bis auf einen Leichtverwundeten.
Max Scholz, Reisender, Chemnitz.