Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Oktober 1917. Durchbruch des bayerischen Armeekorps mit den verbündeten Oesterreichern bei Karfreit-Tolmein. Ich marschierte an der Queue der dem Armeekorps folgenden österreichischen Reservedivision als Kommandant eines Pionier-Trains. Zerstörte Straßen- und Eisenbahnbrücken, endloser Regen, verstopfte Vormarschstraßen, gehemmter Nachschub und ewige Kompetenzstreitigkeiten der einzelnen, nach vorne drängenden, verbündeten Truppen-Unterabteilungen vermindern das Tempo der nachsetzenden Sieger. Wir halten mitten in der Nacht in der Dorfstraße einer italienischen Landgemeinde nordöstlich von Cividale. Meine Landstürmer sinken vor Nässe dampfend und müde in den Schatten der schutzgebenden Häuservorsprünge. Der Regen hört auf. Es ist feuchtkalt und eisig. Ich mache mir Bewegung, inspiziere meine Kolonne von der Tête bis zur Queue. Es ist alles da! Mannschaften, Pferde und Schlachtvieh dösen vor sich hin. Ein Gefreiter und ich wachen. Ich gehe nach vorne, den Grund des Aufenthaltes und die mögliche Dauer auszukundschaften.
Ein entsetzliches Weibergeschrei läßt mich aufhorchen und der Stimme nachgehen. In einem Bauerngehöft abseits der Dorfhauptstraße sehe ich im Lichtkreis einiger Laternen und Fackeln mehrere deutsche Landwehrmänner, von einem Feldwebel geführt, die im Begriff stehen, eine Kuh aus dem Stall zu schaffen. Ein ausgemergeltes, halb in Lumpen gehülltes italienisches Bauernweib mit einem Säugling im Arme, drei kleinen Kindern an den Rockfalten, stößt gräßliche Protestrufe aus. Ich verstehe: » Mio bambino, mio bambino!« Der Bauer und ein Nachbarehepaar suchen den Feldwebel zu bewegen, von der Requisition der Kinder wegen abzusehen. Drei Kühe sind bereits aus dem Haus requiriert, die letzte soll man doch da lassen. Vergebliche Mühe – Krieg ist Krieg! Die aufs äußerste gequälte Mutter reißt mit einer Handbewegung ihr morsches Leinenhemd auseinander. Unter durchdringendem Weinen weist sie auf ihre ausgesogenen, keiner Mutterbrust mehr ähnlichen Hautlappen. Mit einem barschen Kommandowort an seine Leute beschließt der Feldwebel diese überaus peinliche Szene. Nun versuche ich noch zu intervenieren und meinen gleichrangigen Kameraden umzustimmen. »Feiges, hinterlistiges Gesindel, das uns aus dem Hinterhalt nachschießt, verdient keine Schonung!« meinte er, »Aber die Kinder – –?« wende ich ein. »Nichts da! Ich habe Befehl und Schluß! Raus mit der Kuh!« Sechs kräftige Fäuste sind fast nicht im Stande, die sich wie irrsinnig an die Kuh klammernde Mutter mit den fröstelnden Kindern in das Haus zu bringen. In mir gärt es. Und ein Plan reift!
Ich beschließe, von dem meiner Kompanie gehörigen Schlachtvieh, unter dem sich eine Milchkuh befindet, diese dem Bauernehepaar abzutreten und mir dafür auf dem weiteren Vormarsch Ersatz zu requirieren. Ich weihe den Gefreiten, der die Aufsicht über das Schlachtvieh hat, in meinen Plan ein, flicke mit ihm ein Lügengewebe zusammen für den Fall, daß unser Hauptmann vorzeitig den Abgang der unrechtmäßigerweise entfernten Milchkuh entdecken sollte. Wie zwei Diebe führen wir, um unsere Leute nicht zu wecken, unsere rotbraune Liesel auf Umwegen in das Bauernhaus. Unterwegs fällt mir das Unlogische meines Tuns auf. In der nächsten halben Stunde kann unsere Milchkuh bereits durch eine andere requirierende Truppe dem Bauernehepaar abgenommen werden, und dann sind die Kinder wieder ohne das notwendige Nahrungsmittel. Es geht nicht anders. Ich muß den Gefreiten mit der Kuh zurücklassen und gebe ihm Order, das Vieh unter keinen Umständen herauszugeben. »Sagen Sie, das Tier gehört der Offiziersmesse des Divisionsstabs. Sagen Sie, es hätte die Maul- und Klauenseuche! Sagen Sie, was Sie wollen, nur sichern Sie bis zur Stabilisierung der Etappenverhältnisse der Mutter und den Kindern die Milch!« instruierte ich ihn. Im Bauernhause angelangt, verdolmetschte der Nachbar, ein deutsch radebrechender Italiener, der fiebernden Mutter mein Vorhaben. Ein dankbarer Aufschrei und Händeküsse sind die Quittung! Dem Gefreiten befehle ich, sich vorläufig selbst zu beköstigen, bis ich ihm von vorne weitere Verhaltungsmaßregeln zusenden kann ...
In gewaltigen Eilmärschen geht es dann weiter in die venezische Ebene. Ich schicke meine Unteroffiziere fleißig Schlachtvieh requirieren, denn auf Nachschub ist vorerst nicht zu rechnen. Auch unsere rotbraune Liesel wird durch eine schwarz-weiß gescheckte Milchkuh ergänzt. Drei Wochen später rücke ich nächst Tezze an der Piave mit dem Train zu meiner Kompanie ein. Man baut am Flußufer betonierte Unterstände! Einige Tage später kommt auch mein Gefreiter, den ich bisher nebst Kuh meinem Hauptmann standhaft unterschlagen hatte, zur Kompanie zurück. Feldpolizei und Etappen-Kommandantur haben ihm das müßige Leben sauer gemacht und ihm schließlich auch die Kuh enteignet! Bäuerin samt Säugling sind in ein Lazarett verbracht worden, Vater und die übrigen Kinder sind evakuiert und zurzeit in einem Flüchtlingslager. Alles ist wieder »in Ordnung«. Nur mein Kompaniechef behauptet unabänderlich, daß ich Mitte Oktober auf dem Bahnhof in Zloczow nächst Lemberg eine rotbraune Milchkuh einwaggoniert hätte und im November mit einer schwarz-weiß gefleckten in der Piave-Linie erschienen sei! Weil er zu sehr vom Kriegshandwerk besessen war, hat er den wahren Grund der Schiebung nie erfahren.
Franz X. Jordan, ehem. Betriebsinspektor, Drosendorf a. d. Th.
Im Jahre 1918 traf ein Bataillon englischer Soldaten, das der britischen Mission in Sibirien 1917-1920 zugeteilt war, in Omsk, der Hauptstadt von Sibirien, ein.
Kurz nach Einsetzen der fürchterlichen Winterkälte fand man einige, vor etwa drei Jahren gefangen genommene deutsche Soldaten, die unter den Beschwerden der russischen Gefangenschaft entsetzlich litten. Der kommandierende englische Offizier, Oberst R. A. Johnson, erhielt die Erlaubnis, diese Leute zur Bedienung im Regiment zu verwenden. Einer von ihnen, namens Ambros, war bei allen Chargen unter dem liebevollen Spitznamen Ham Bone (Schinkenknochen) bekannt. Er erhielt das Amt eines Krankenwärters. Tag und Nacht widmete sich Ham Bone den Kranken. Menschen in Qualen, die durch ihre erfrorenen Glieder und die in den Einöden von Sibirien üblichen Krankheiten verursacht wurden, betrachteten ihn als den Sonnenstrahl ihres Lebens. Ein mitleiderregender Ruf nach Trost und Hilfe – und Schinkenknochen war zur Stelle. Er war es, der mitten im tiefsten sibirischen Winter und während eines Schneesturmes eine Rettungskolonne anführte, um einer englischen Kompanie, die nicht mehr zurückfinden konnte, zu helfen.
Ende 1919 erhielt das Bataillon den Befehl, nach Hause zurückzukehren. Was sollte nun aber mit dem armen Schinkenknochen geschehen? Die britischen Behörden hatten keine Machtbefugnisse über die deutschen Kriegsgefangenen, die in ihr früheres Elend zurückkehren mußten.
Schinkenknochen stand am Zuge, um von allen seinen Freunden mit Tränen im Auge Abschied zu nehmen. Da bat man ihn heraufzukommen, um einen letzten Händedruck auszutauschen. Er tat es, und während er noch drin stand – da setzte sich auch der Zug in Bewegung. Da war Schinkenknochen sehr, sehr froh.
Auf dem Wege nach Wladiwostok wurde er während drei Wochen vor allen Behörden versteckt. Drei Wochen mußten wir auf den Dampfer warten. In dieser Zeit erblickte ihn ebenfalls kein behördliches Auge und schließlich wurde er in der Uniform eines britischen Soldaten auf den Dampfer eingeschmuggelt.
Vor der Landung in Vancouver sammelten wir eine beträchtliche Geldsumme; von der Schiffsbesatzung beschafften wir Zivilkleidung; und in der ersten Nacht, als das Schiff am Kai lag, machte sich »Schinkenknochen« heimlich in der Dunkelheit auf den Weg in seine neue Freiheit. Good luck to him!
F. Edge, Restaurateur, London.
Im März 1915 rückten wir in den Karpathen aus den schmelzenden Gräben nach Galizien zur Offensive vor. Ein zweitägiger Infanteriesturm ohne Artillerie brachte uns bei Dolina zwar in den russischen Graben, doch war die Siegesfreude sehr kurz: denn statt der erwarteten österreichischen Hilfe rollten uns die Russen im Graben auf. Ihr Empfang hinter dem Bahndamm war zunächst wenig kameradschaftlich. Ein über unseren gelungenen Angriff noch ganz empörter Unteroffizier haute dem uns noch gebliebenen Offizier-Stellvertreter mit dem Spaten links und rechts um den Kopf; die andern lachten die gefangenen Germanski aus oder schnitten Grimassen. Wir brachten uns rasch vor unserem nun einsetzenden eigenen Artilleriefeuer in Sicherheit und wurden dann einer größeren Kosaken-Patrouille zum Rücktransport übergeben. Die Kosaken aber waren als halbwilde Kerle verschrien, die an den Gefangenen die scheußlichsten Unmenschlichkeiten verübten. Als diese Kosaken nun herauspreschten und ihre fliegenden Pferdchen knapp einen Meter vor unserer Kolonne zum Stehen brachten, die Knute pfeifend ebenso knapp über unsere Kopfe streichend, dachten wir schon: jetzt sind wir den Unmenschen ausgeliefert.
Doch es sollte anders kommen. Auf der Landstraße nach Kiew brütete die Hitze, wir waren entkräftet und ausgedörrt, es ging langsam voran. Wohl klang das ermunternde »Pascholl« unserer Begleitmannschaft ständig um uns, aber ihr Verhalten artete nie zu Roheit aus. An jedem Hof, den wir im Lauf der Tagesmärsche passierten, frugen sie uns, ob jemand Durst habe und gingen selbst auf die Suche nach den kleinrussischen Bauern.
Besonders eine Szene steht mir unvergeßlich vor Augen, die eine geradezu rührende Kriegskameradschaftlichkeit offenbart: Auf dem Zug durch eines der Dörfer vor Kiew brachte ein Bewohner einen Korb mit frischem Backwerk heran, ein lang entbehrter Anblick. Es bildete sich ein Kreis Kauflustiger um den Korb, die Marschordnung war gelöst. Der voranreitende Kosake sah sich um, riß das Pferd herum und flog heran. Eine barsche Frage an den Verkäufer, der Kosakengaul drängte zwischen uns durch, sein Reiter griff nach dem großen, gefüllten Korb und streute die duftenden Rosinen- und andere leckere Brötchen über unsere Reihen. Mit einem »Geh zum Teufel, Hundesohn« warf er den leeren Korb seinem Besitzer zu und pfiff ihm mit der Reitpeitsche eine über.
Das schien sehr grausam gegen den Händler. Aber unser Dolmetscher erzählte uns dann, daß der Zivilist uns einen viel zu hohen Preis abverlangt habe. Zur Strafe dafür hatte unser Kamerad Kosak bei dem eigenen Landsmann diese aus impulsivem Menschlichkeitsempfinden entsprungene »Requirierung« vorgenommen.
Hermann Spannring, Frankfurt a. M.
In den Ruinen von Fricourt bei Albert im Frühjahr 1918 bezogen wir eine nasse Kellerruine ohne Tür und Fenster als Unterkunftsraum. Mit vieler Mühe war es uns gelungen, irgendwo einen Fensterflügel aufzutreiben, um den schauerlichen Zugwind einigermaßen abstellen zu können. Als das Fenster endlich saß, konnte es keine Verwendung finden, denn wir hatten unsere Hausgenossen, vergessen: ein Rotkehlchen-Pärchen, das das Fensterloch als Ein- und Ausflug benutzte! ... Hm, was tun? Das Fenster sitzen lassen, bedeutete für die Tierchen den sicheren Tod, weil sie sich daran den Kopf eingerannt hätten. Also beschlossen wir, das Fenster wieder während des Tages herauszunehmen und ertrugen standhaft den Zugwind, bis das Nest flügge war.
Otto Reifschneider, Buchhalter, Ginnheim.
Unsere Kompanie kam auf einige Tage auf Bahnschutz in die Nähe von Tirlemont; unsere Gruppe in das Dörfchen Oplinter zur Ueberwachung der dortigen Männer. Es sollen sich viele belgische Soldaten dort aufhalten, da grade vor Tirlemont eine größere Schlacht stattgefunden hatte. Beim Quartiermachen kamen wir an ein größeres Gehöft, ein ehemaliges Kloster. Halt, denke ich, dort gibt es ein feines Lager. Dieses war ja nach den anstrengenden Märschen und Gefechten in Gluthitze des August die Hauptsache. Es wurden drei schöne Tage. Beim Betreten des Gehöfts sehen wir in der Toreinfahrt einen geknackten Geldschrank liegen, und wie sah es erst im Hause aus: alles durcheinander gewühlt und zerschlagen, alles, was Wert hatte, herausgeschleppt. Und allen war dieses rätselhaft, da durch eine Kreideschrift auf der Tür von Regt. 66 darauf hingewiesen war, daß der Besitzer nicht anwesend sei. Ein leeres Zimmer im Erdgeschoß war schnell eingerichtet. Dann hinhauen, schlafen.
Der Doppelposten vor dem Tor brachte gegen Abend einen Mann, der angab, er sei der Besitzer, welches sich denn auch tatsächlich herausstellte. Er war während des Gefechts mit seiner Frau stiften gegangen und wollte jetzt mal nachsehn, wie es stand. Der Mann, ein Herr Valis, Pferdezüchter, war ganz zerschlagen. Auf unsere Frage, wer denn dieses getan haben könne, gab er zur Antwort das haben die deutschen Soldaten getan. Auf die Frage, woher er das wisse, da er doch gar nicht da gewesen sei, sagte er: die Leute aus dem Dorf hätten das gesehen. Wir sagten ihm jedoch, daß dieses nicht möglich wäre und auch vollständig ausgeschlossen sei. Denn was wollten unsere Leute mit Schirmen, Stöcken, Frauenkleidern und Röcken. Wein, ja der wurde getrunken und die Flaschen fortgeworfen, aber die waren nirgends zu finden, folglich mußte der Wein mit den Flaschen verschwunden sein. Frauenhemden, ja das weiß wohl jeder alte Feldsoldat, der den Anfang und Vormarsch mitgemacht hat, die wurden auch angezogen, wenn man durchgeschwitzt war, ich selber habe ja auch mal eins angehabt. Das war ja wunderschön luftig und mit Spitzen besetzt.
Aber Herr Valis blieb dabei, unsere Kameraden hätten das getan. Wir besprachen uns mit unserem Gruppenführer und kamen nun zu folgendem Beschluß. Wir ließen Herrn Valis kommen und sagten ihm: so jetzt gehen Sie oder schicken jemand ins Dorf mit folgender Bekanntmachung: Bis heute Abend acht Uhr sind die auf dem Gut gestohlenen Sachen wieder zurückzubringen. Wer sich schämt, dieses zu tun, kann es bei dem und dem abgeben, dort wird es abgeholt. Nachfolgen entstehen nicht. Morgen früh aber wird im Beisein des Herrn Valis jedes Haus durchsucht, und dort wo Gestohlenes gefunden, wird das Haus abgebrannt und der Besitzer erschossen.
Wir waren gespannt. Er schickte denn auch eine Frau los. Herr Valis wollte es aber immer noch nicht glauben. Aber unsere Annahme mit den Leuten war richtig. Schon nach einer Stunde kamen die Leute aus dem Dorfe angeschleppt. Wir waren ganz sprachlos, aber am meisten unser Quartierwirt. Der war einfach von de Bretter, platt platter konnte er nicht werden. Gegen Abend, wir waren grade beim Karro einfach geschnitten aus der Hand, klopft es. Herein kommt unser Boß, Herr Valis, macht großen Palawer, entschuldigt sich bei uns allen und bittet uns, ihm das nicht nachzuhalten, er hätte so etwas nicht für möglich gehalten. Er nehme die Verdächtigung gegen unsere Soldaten zurück und bitte uns, seine Frau war mittlerweile auch zurückgekommen, zu ihnen zu kommen und eine Flasche des zurückgebrachten Weines mitzutrinken.
Alle Mann hin. Der Posten bekam auch sein Teil mit, es waren noch zwei schöne Stunden dort. Am andern morgen ganz früh draußen großes Schweineschreien, ein Schweinchen von 250 Pfd. lag im Blute, wie wir herausstürmten. Herr Valis lachend dabei und sagt: für Sie meine Herren, wie er unsere erstaunten Gesichter sah. Die Madame war schon in der Milchkammer am Buttern, auch für uns. Junge, Junge denken wir alle, hoffentlich bleiben wir recht lange und mittags haben wir reingehauen was die Schwarte halten konnte. Er und sie mitten unter uns.
Am andern morgen früh stiller Alarm Abrücken. Haben wir gewettert, aber geschieden muß sein. Ungern sind wir von den Fleischtöpfen in Oplinter geschieden. Vorher gab es noch schnell ein ordentlich Stück Schweinernes ins Kochgeschirr und ein ordentlich Stück Butter dazu. Dann kurzer herzlicher Abschied von unsern Quartierwirten. Er wünschte uns allen recht baldige Heimkehr zu Frau und Kindern.
Wir schieden nicht als Feinde, davon bin ich fest überzeugt. Noch lange winkte er uns nach. Wir zogen neuem Gewitter entgegen. Antwerpen.
Christian Bovermann, Postassistent, Mühlheim-Ruhr.
Es war ein nebliger Aprilsonntagmorgen des Jahres 1915, als ich mit etwa achthundert Kameraden nördlich von Przemysl von den Russen gefangengenommen wurde. Ich bemerke, daß ich kaum neunzehnjährig freiwillig mich in die Front gemeldet hatte und unter meinen Kameraden stets der jüngste war.
Ich hatte einen noch ziemlich neuen Mantel, der mir aber bald von einem der uns begleitenden Tscherkessen weggenommen wurde. Nach einem endlosen Tagesmarsch erreichten wir todmüde einen Ort, wo wir nächtigen sollten. Trotzdem Menage verabreicht wurde und wir fast zwei Tage nichts gegessen hatten, verzichteten wir darauf und legten uns nieder, wo wir gerade standen. Mein Schlaf war sehr schlecht, da es noch kalt war und ich meinen Mantel entbehren mußte. Sobald es Tag wurde, stand ich auf, um es mir durch Bewegung wieder warm zu machen.
Ein Posten, der mich die längste Zeit beobachtete, wie ich vor Kälte zitterte, kam auf mich zu und frug mich: wo ich meinen Mantel hätte? Ich zeigte auf den unweit liegenden Tscherkessen, der mit seinem eigenen Mantel zugedeckt war und den meinigen als Kopfpolster benutzte. Der Posten ging auf ihn zu, hob seinen schlafenden Kameraden sanft in die Höhe und bedeutete mir, ich solle meinen Mantel wegziehen. Dann mußte ich noch rasch einen Stein unter seinen Kopf legen, und wir begaben uns leise hinweg. Nachdem mir mein Gönner noch eine Zigarette gedreht und angezündet hatte, bedeutete er mir, ich möge nun verduften, was ich mir natürlich nicht zweimal sagen ließ. Meinen lieben Mantel hatte ich ja wieder und habe ihn auch, wenn auch in Fetzen, im Jahre 1919 bis in meine Heimat gebracht.
Jos. Haase, Beamter, Reichenberg, C. S. R.
Im Januar 1918 kamen wir 120 kranke und verwundete Soldaten der Lettow-Truppe aus Deutsch-Ostafrika ins Gefangenenlager Tura bei Kairo in Aegypten. Alles mußten wir abgeben und in Adams Kostüm marschierten wir in die Baracken ein, daselbst bekamen wir dann von Kopf bis Fuß neue Kleidung. Einige Wochen später trafen weitere 800 Deutsche ein, dabei auch ein Bruder von mir. Natürlich mußten diese Kameraden ebenfalls ihre alten Monturen usw. abgeben und erhielten nach Durchquerung eines Desinfektionsbades von den Engländern neue Wäsche und Kleider. Sogar unsere in den vier Jahren uns so sehr in den Kopf gewachsenen Tropenhelme mußten wir abliefern und so mancher erhielt als Ersatz einen, der ihn furchtbar drückte. Offenbar war dies auch beim Tropenhelm des Unteroffiziers Müller der Fall. Jedenfalls bemühte er sich mit allen Kräften, seinen alten Helm wieder zu erhalten, indem er sich kopfwehkrank meldete. Aber er bekam nur den Rat, mit einem Kameraden zu tauschen. Merkwürdigerweise wollte er das nicht!
Jeden Morgen um sechs Uhr mußten wir Landsturmleute, Gefreite usw. Schubkarren fassen und bis 12 Uhr Sand und Backsteine fahren. Auf dem Platze, wo wir die Karren holten, lagen auf einem großen Haufen die tausend alten deutschen Tropenhelme.
Eines Tages beichtete mir Müller: Die Sache mit meinem Kopfweh ist Schwindel. Der englische Helm paßt mir ausgezeichnet, trotzdem muß ich meinen alten Helm wieder haben, denn in ihm sind 10 Elefantengoldstücke eingenäht! Donnerwetter, die müssen wir kriegen.
Mit dem Tommy, der uns bewachte, hatte ich mich durch meine englischen Sprachkenntnisse schon angefreundet. Darauf baute ich meinen Plan. Eine Hauptschwierigkeit aber bestand darin: wie finde ich unter tausend Tropenhelmen, die alle ganz egal aussehen, gerade den meines Freundes Müller heraus? Die andere Schwierigkeit war die: wenn ich den Helm habe, wie bringe ihn ins Lager. Meinen Helm kann ich nicht dafür hinwerfen, weil die englischen eine ganz andere Form haben und ich also mit dem deutschen sofort aufgefallen wäre.
Bei der englischen Wachmannschaft war es bekannt, daß ich im Gefangenenlager meinen Bruder Alfred getroffen hatte. Da er Sergeant war, brauchte er nicht zu arbeiten. Die afrikanischen Strapazen hatten seiner Gesundheit sehr zugesetzt und darauf baute ich meinen Plan. Dem Tommy erzählte ich immer wieder, wie sehr mein Bruder an Kopfschmerzen litt; es wäre ihm nur zu helfen, wenn er wieder seinen alten deutschen Helm aufsetzen könne. Bei der täglichen Inspektion würde er natürlich den englischen Helm aufsetzen. Ich bearbeitete den Tommy mindestens acht Tage lang, bis er mir endlich die Erlaubnis gab, den deutschen Helm zu suchen.
Mein Freund Müller hatte seine Gefangenen-Nummer 33818 in dem Helm stehen. Diesen mußte ich nun unter dem Haufen von über tausend Stück heraussuchen, ohne daß es jemand merkte. Dazu hatte ich beim Schubkarrenholen morgens höchstens zwei Minuten Zeit. Nach ein paar Tagen hatte ich aber wirklich den wertvollen Helm in der Hand. Wie bringe ich ihn aber ins Lager, denn ich muß doch sechs Stunden Schubkarren schieben! Da nahm der Tommy den Helm unter den Arm und trug ihn sechs Stunden lang neben uns her, bis wir wieder im Lager waren. Unauffällig brachte ich den Helm zu Müller. An einem versteckten Ort trennte er die zehn Goldstücke heraus und gab mir als Belohnung eines davon.
Theodor Freudenberger, Kaufmann, Frankfurt a. M.
Im Januar 1917 – 20 Grad unter Null – gehörte ich zu einer Sanitäter-Gruppe vom 4. Korps, das damals bei Nicey (Meuse) lagerte und speziell dem Gasabwehrdienst zugeteilt war. Ich wurde nach Benoitevaux abkommandiert, um einen Haufen der verschiedensten Ausrüstungsgegenstände, die das Korps, das wir ersetzten, zurückgelassen hatte, in meine Obhut zu nehmen. Darunter fand ich einen ziemlich großen Posten alter Hemden, die vernichtet werden sollten.
Einige Meter von meiner Baracke entfernt befand sich ein Internierungslager mit deutschen Gefangenen, die alle ohne Hemden und nur mit Lumpen bekleidet waren. Die Tuberkulose forderte zahllose Opfer bei dieser strengen Temperatur. Da ich allein war und glaubte, in dieser Sache niemanden Rechenschaft schuldig zu sein, verschnürte ich in der Nacht einige Ballen Hemden und warf sie rasch über den Stacheldraht des Lagers.
Ich setzte diese kleine Aktion während zwei oder drei Tagen fort, bis ich von einem Artillerieadjutanten überrascht wurde, der mich darauf aufmerksam machte, daß ich damit eine strafbare Handlung beginge. Aber er versicherte mir immerhin, daß er mich nicht anzeigen würde. Er hat übrigens Wort gehalten; ich bin darüber nie vernommen worden.
Mein einziger Kummer war, daß ich nicht erfahren habe, ob die armen Teufel meine Hemdenpakete auch wirklich gefunden haben.
Louis Vallet, Paris.
Im Spätsommer 1917 wurde ich, halb geheilt, einer Genesungskompanie in T. zugeteilt, die mich zur Leitung eines großen Getreidemagazins abkommandierte. Dreißig deutsche Armierungssoldaten und 45 französische Zivilisten schaufelten täglich die ungeheuren Getreidemengen herum. Die Franzosen gegen Lohn. Täglich marschierten die Franzosen pünktlich zu einer benachbarten Wirtschaft und machten »Brotzeit«, bis ich feststellte, daß sie jeden Tag rund zwei Zentner Weizen, in ihren Hosenbeinen versteckt, in die Wirtschaft schmuggelten und dort verkauften. Es folgten strenge Verbote, aber es wurde weiter gestohlen. Hierbei war zu unterscheiden zwischen solchen, die den Weizen mit nach Hause nahmen, ihn durch die Kaffeemühle mahlten und eine Art Kuchen daraus herstellten, um ihren furchtbaren Hunger zu stillen, den sie alle, alle hatten; und solchen, die den Weizen sofort versilberten und das Geld vertranken.
Zu den letzteren gehörte ein siebzehnjähriger strammer Bengel, der immer wieder stahl. Zweimal schon hatte ich ihn in einer Woche dabei erwischt und ihm erklärt, daß er beim dritten Male ohne Gnade zum »Arbeiterbataillon« komme. Das war aber wie der Teufel gefürchtet! Trotzdem faßte ich ihn drei Tage später schon wieder; seine Geldgier ließ ihn den Gefahren trotzen. Er wußte sofort, was es geschlagen hatte. Offenbar aber wollte er, wenn er zum gefürchteten »Arbeiterbataillon« soll, vorher noch einen der verhaßten Deutschen kaltmachen, denn kaum hatte er mich erblickt, als er wie eine Katze hochfuhr und mich umrannte, und im gleichen Augenblick kniete er mir auf der Brust und suchte meine Kehle zu erreichen. Im nächsten Moment aber lag der Bursche unten und ich oben, und ich habe ihn nach schönster bayrischer Manier verhauen, so daß er in wenigen Minuten knockout war.
Im gleichen Augenblick kam der zuständige Offizier. Mir war nun klar, daß der Franzose mehrere Jahre Zuchthaus verwirkt hatte, wenn ich dem Offizier die Wahrheit meldete. Nach meiner Ansicht aber hatte er mit der ihm verabfolgten Abreibung genug Strafe. Ich meldete also dem Offizier irgendein geringeres Vergehen des Franzosen und bekam nun einen gutsitzenden Anschnauzer dahingehend, daß es eine Gemeinheit sei, einen Menschen wegen solcher Kleinigkeit derart anzugreifen und zu verhauen. Acht Tage später wurde ich deswegen abgelöst und mußte trotz des kaum verheilten Fußes an die Front. Mein Franzmann aber blieb schön beim Getreidemagazin!
Und nun der Ausklang: im Jahre 1923 hatte ich einen sehr kitzligen Auftrag, den passiven Widerstand betreffend, in einer pfälzischen Stadt zu erledigen. Ich merkte genau, daß ich von französischen Kriminalbeamten überwacht und verfolgt sei. Plötzlich rief aus einer Gruppe französischer Soldaten einer mich mit meinem Namen an! Ich dachte schon, nun haben sie dich! Aber nein, es war mein »Freund« von damals, und das war mir begreiflicherweise erst recht nicht besonders angenehm. Aber der freute sich wie ein König und umarmte mich auf offener Straße. Ein anderer Soldat spielte den Dolmetscher, und es stellte sich bald heraus, daß der damals siebzehnjährige Bursche meine Handlung begriffen und genau wußte, daß er das Zuchthaus mit dem Aermel gestreift hatte. Es bereitet mir noch heute eine innerliche Genugtuung, daß ich den Burschen damals gehörig verhauen, ihn aber auch vor dem Zuchthaus gerettet habe.
A. R., Worms.
Am 6. Dezember 1919 holte der Dampfer »Semiramis« zweitausend deutsche Kriegsgefangene von der Insel Malta ab, um sie über Venedig nach der Heimat zu bringen. Durch irgendein Versehen war der österreichische Transportzug, der uns nach Innsbruck bringen sollte, nicht eingetroffen. Der militärische Führer des Transportdampfers, ein italienischer Oberst, erklärte uns, wir müßten drei bis vier Tage in Venedig liegen bleiben. Auf Befehl seiner Regierung dürfe aber niemand den Dampfer verlassen.
Als Maler in Venedig sein, und diese Stadt nicht sehen dürfen, schoß es mir durch den Kopf: das darf nicht möglich sein. Der Oberst war unerbittlich. Ich wandte mich daher an einen anderen italienischen Offizier. Auch der lehnte mein Gesuch ab. Ich werde immer dringender. Der Krieg wäre doch zu Ende. Ich würde doch wohl in meinem ganzen Leben nie wieder nach Venedig kommen. Ich gäbe mein Ehrenwort, mich sowohl in der Stadt absolut korrekt zu verhalten als auch nach 48 Stunden wieder auf der »Semiramis« zu sein. Er bedauerte achselzuckend, nach seinen Befehlen handeln zu müssen.
Als er abends von Bord ging, stand ich am Fallreep. Ich sah ihn nur bittend an.
»Kommen Sie mit,« winkten seine Augen. Während wir die Treppe hinabstiegen, raunte er mir zu: »Sprechen Sie nur englisch!« Wir hatten uns bisher in einem Sprachgemisch englisch-französisch-italienisch und deutsch unterhalten. Am Lande stand ein Posten mit aufgepflanztem Bajonett. Der ging sofort auf den Offizier zu und machte ihn darauf aufmerksam, daß keine Zivilperson das Schiff verlassen dürfe. Mein schöner Traum schien zu Ende zu sein.
»Schon gut,« sagte ganz ruhig der Offizier, »dies ist der amerikanische Konsul, der das Schiff eben besichtigt hat!« Dabei klopfte er mir auf die Schulter: »Oh, Verzeihung,« antwortete der Posten und salutierte. Dann gab der Italiener mir die Hand und sagte absichtlich etwas laut: »Also auf Wiedersehen, Herr Konsul! Und vergessen Sie nicht übermorgen!«
» Allright, captain!« antwortete ich lachend.
So hatte ein armer deutscher Maler zwei Tage und zwei Nächte die unerhörten Schönheiten der herrlichsten Stadt der Welt genießen dürfen: als italienischer Kriegsgefangener und als »amerikanischer Konsul«!
Fritz Leop. Henning, Maler, Zoppot.