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Ich war im Spätsommer 1916 Ortskommandant von Chérisy, südlich von Douai, und hatte als solcher des öfteren dem Bürgermeister, einem älteren Witwer gegenüber, Anordnungen zu treffen, die im deutschen Interesse erforderlich waren, den Einwohnern des Ortes aber vielfach schwere Opfer auferlegten. Die Stellung des Bürgermeisters war dadurch außerordentlich schwer geworden, und er konnte sicher sein, daß er mit seinen Landsleuten in die ernstesten Schwierigkeiten geriet, wenn wir einmal abgezogen sein würden. Mußte er ihnen doch als der Verkünder allen Uebels und möglicherweise als des Einverständnisses mit uns verdächtig erscheinen. Einmal versuchte er, Widerstand zu leisten, und ich konnte mir nicht anders helfen, als ihm zu sagen, wir würden ihn absetzen und an seiner Stelle einen willfährigen, aber wahrscheinlich weniger patriotischen Mann einsetzen. Tief erschüttert verließ er mich.
Nun hatte er mich besucht, um von mir die Zustimmung dazu zu erhalten, daß die Bevölkerung eine ihrer Kühe schlachten dürfe. Diese Zustimmung hatte er erhalten. Einige Stunden darauf wurde mir mitgeteilt, daß die Kuh tuberkulös gewesen sei und ich gab eine weitere Kuh zum Schlachten frei. Plötzlich fiel mir ein, daß die tuberkulöse Kuh wie alle andern wohl zu der Milch beigesteuert habe, aus der die Butter bereitet wurde. Von dieser Butter hatte ich mit Genehmigung meiner Vorgesetzten gekauft und meiner Frau, die ihr zweites Kind nährte, geschickt. Meine Aufregung war um so größer, als ich ja selbst durch sofortiges Schreiben nichts mehr hätte ändern können. Gesprochen habe ich aber zu niemanden davon.
Abends spät fragte ein Soldat bei mir an, ob der Bürgermeister, der wie alle Franzosen im Operationsgebiet nach Dunkelheit nicht über die Straße gehen durfte, noch einmal zu mir kommen dürfe. Er stünde in seinem Garten und habe den vorübergehenden Soldaten um die Ueberbringung dieser Botschaft gebeten. Ich stimmte zu. Der alte Mann kam.
»Ich wollte Ihnen Beruhigung bringen, mon capitaine,« sagte er. »Sie haben sich sicher Gedanken wegen der Butter gemacht, von der Sie bezogen haben. Sie mögen ganz ruhig sein. Die Buttersäure tötet die Tuberkeln. Ich weiß, Sie haben ein kleines Kind und Ihre Frau wird Fett nötig haben. Von Tuberkeln verstehe ich etwas, mein Sohn ist daran gestorben. Daher weiß ich, wie einem Vater zu Mute ist, wenn er meint, seinem Kinde drohe die Gefahr. Und wie einem Soldaten zu Mute ist, weiß ich auch. Ich habe 1870 gegen euch gekämpft. Das wollte ich Ihnen nur sagen. Gute Nacht.«
Das war der Bürgermeister von Chérisy.
Bruno Goldenberg, Kaufmann, Altona.
Im Juni 1915 bezog unsere Kompagnie in einem kleineren Orte in Galizien Quartier; und zwar wurden wir, wie dies in fast allen galizischen Dörfern der Fall gewesen ist, in Hütten und Scheunen, die mit Strohdächern gedeckt waren, untergebracht.
Ermüdet durch größere Märsche, die wir als Armee-Reserve in den Tagen vorher zu leisten hatten, legte sich unser Zug in einer Scheune am Abend beizeiten nieder und lag auch bald im tiefsten Schlaf. Plötzlich gegen zwölf Uhr nachts wurden wir von einigen galizischen Frauen durch geräuschvolles Aufreißen der Scheunentüre und durch lautes Schreien geweckt. Da keiner von uns die Worte und Gebärden der Frauen verstand, waren wir über die Ruhestörung sehr wenig erbaut und behandelten die Frauen in nicht gerade liebenswürdiger Weise. Stiefel, Kochgeschirre, und was sonst noch Greifbares in der Nähe war, flog ihnen entgegen. Trotz unserem wenig lobenswerten Verhalten ließen die Frauen in ihrem Schreien und Toben nicht nach, sondern deuteten mit immer eindringlicheren Gebärden auf eine uns drohende Gefahr hin. Dies brachte nun doch einige unserer Kameraden aus ihrer Ruhe – sie erhoben sich, um der Sache nachzugehen und beim Heraustreten aus der Scheune konnten sie sich von der uns drohenden Gefahr sofort überzeugen. Die Scheune war in Brand geraten. Sofort wurden die noch zurückgebliebenen Kameraden alarmiert. Bei der Schnelligkeit, mit der der Brand um sich griff, konnten sich dieselben nur mit äußerster Mühe retten. Große Toilette zu machen oder Wertsachen in Sicherheit zu bringen, war ja bei unserer Kriegslebensweise nicht vonnöten; und dies ist in diesem Augenblick wenigstens einmal angenehm empfunden worden. Wären aber die galizischen Frauen nicht gewesen, so wäre der Zug elendiglich in den Flammen umgekommen.
L. Herrmann, Kaufmann, Offenbach a. M.
Wir waren Ende 1917 in einem Frontabschnitt vor Lille als schwere Artillerie eingesetzt. Jede Geschützbedienung wurde alle drei Wochen, manchmal auch vierzehntägig, abgelöst und kam dann in Ruhe nach Haubourdin zurück. Schon längere Zeit lagen wir in dieser Stellung und bezogen in H. immer das gleiche Quartier. Es war dies ein Schulhaus. So ergab es sich naturgemäß, daß man in »Ruhe« z. T. auch die Einwohnerschaft kennen lernte. Wir jungen Krieger von neunzehn Jahren wollten doch auch unser Schulfranzösisch an die Front schicken!
Kurz und gut, ich hatte im Laufe der Zeit bei einer netten Familie Anschluß gefunden. Vater im Krieg, seit kurzer Zeit jedoch in deutscher Gefangenschaft, Mutter und zwei Töchter von neun und fünfzehn Jahren. Alle drei Wochen wurde ich schon erwartet, meine schmutzige Wäsche zur Reinigung in Empfang genommen und mir ein kleines bescheidenes Mahl vorgesetzt. Dann mußte ich meine Erlebnisse erzählen. Die beiden Mädel waren wie Schwestern zu mir. Meine Jugend mag wohl zu dieser Anschmiegsamkeit beigetragen haben. Die Frau zeigte mir Briefe von ihrem Mann aus der Gefangenschaft, die alle die gute Behandlung durch die Deutschen lobten. Ich fühlte direkt, wie mir diese Frau durch Liebe und Güte für das Los ihres Mannes danken wollte.
So kam ich wieder einmal heil und glücklich von der Front zurück, und mein erster Gang war wie immer, als ich mein Quartier bezogen hatte, zur Familie P. Nun muß ich erwähnen, daß uns beim Appell erklärt wurde, das Schulhaus müßte geräumt werden, da dasselbe in Zukunft als provisorisches Lazarett verwandt würde. Und zwar sollten wir schon andern Tags umquartiert werden. Diese Neuigkeit erzählte ich Frau P. Sofort fiel mir eine große Unruhe an ihr auf. Auch fiel mir sofort auf, daß die Frau geweint hatte. Meine wiederholten Fragen, was ihr fehle, beantwortete sie ausweichend. Nach kurzer Zeit schickte sie auf einmal die ebenfalls wie ich erstaunten Kinder zu Bett. Kaum war sie wieder im Zimmer, packte sie mich bei den Händen und fing furchtbar zu weinen an. Ich war von diesem Leid ganz erschüttert und bat sie immer wieder, mir doch zu vertrauen und ihren Schmerz von der Seele zu sprechen. Endlich, nach längerer Zeit wurde sie ruhiger und sagte:
»Monsieur Konrad, ich kenne Sie als guten Menschen, nicht als Feind. Wollen Sie mir einen Gefallen tun und mir Ihr Ehrenwort geben, mit niemandem über die Unterredung dieser Stunde zu sprechen?« Als ich zögerte, ergriff sie nochmals das Wort: »Was ich von Ihnen verlange, schädigt niemanden, nur –« und hier fing sie wieder schrecklich zu weinen an – »ich gehe zugrunde, wenn Sie mir meine Bitte abschlagen!«
Ich wußte nicht, wie mir geschah. Das Verhalten der Frau war sonderbar. Ich sollte ein Ehrenwort abgeben, wo ich gar nicht wußte, um was es sich handelte. Es mögen lange Minuten gewesen sein, daß ich schwieg, während die Blicke der Frau bangend an mir hingen. Nun sagte ich: »Sie haben zuletzt geäußert: Was ich von Ihnen verlange, schädigt niemanden! Ist dies wahr?« Wie erlöst sprang die Frau auf, und bittend flehte sie: »Ja, Monsieur Konrad, es ist so. Wenn es anders ist, sollen meine Kinder keine Mutter mehr sehen.« Nun wollte ich wissen, was sie von mir wollte.
Einen Brief abgeben an einen Landwirt in Erquinghem. Was der Brief enthalte, wollte ich wissen.
Das dürfte ich nicht erfahren.
Donnerwetter! Nun wurde mir schwummerig zumute. Ich wollte von der Sache nichts wissen. Aber die Verzweiflung der Frau machte alle meine Bedenken zunichte. Ich gab ihr mein Wort, den Brief zu überbringen. Bittend ersuchte sie mich, den Brief noch an diesem Abend abzugeben, während sie schon Anstalten zum Schreiben machte. Ich sagte zu, und nach einer halben Stunde konnte ich mich schon auf den Weg machen.
Die Ortschaft E. liegt ungefähr sechs Kilometer von H. entfernt. Ich kannte mich dort sehr gut aus, denn ein Freund von mir, den ich des öfteren besuchte, lag dort in Stellung; war doch der Ort schon im Bereich der Frontzone. Soviel ich mich jedoch erinnern konnte, waren keine Bewohner mehr da, und ich war auf die Schilderung der Frau angewiesen, welche mir das Haus des Landwirts genau beschrieben hatte. Allerlei Bedenken kamen mir, als ich in stockdunkler Nacht meines Weges ging. Sollte ich das Werkzeug eines Verrates werden? War doch in letzter Zeit viel von Brieftaubenspionage die Rede und wurden erst kurz vorher einige Franzosen deshalb verhaftet. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, und je näher ich meinem Ziele kam, desto mehr wurde mir die Verantwortung klar, die ich auf mich genommen. Und da rang ich mich zu einem Entschluß durch. Ich mußte den Brief lesen. Entschlossen suchte ich meinen Freund in seiner Batterie auf und weihte ihn in den Vorfall ein. Dann öffneten wir den Brief. Glücklicherweise war er nicht versiegelt, und es war das Werk weniger Minuten, da lag der Brief offen vor uns. Keinerlei Anrede. In knappen Sätzen wurde der Spion – denn der Inhalt machte alles klar! – ersucht, auf schnellstem Wege die Mitteilung »hinüber« gelangen zu lassen, daß das Schulhaus unter keinen Umständen mit Bomben belegt werden dürfe, da sich in demselben ab »morgen« ein Lazarett befinde.
Nun wurde mir das Gebaren der Frau klar. Meine Nachricht hatte in ihr ein menschliches Rühren hervorgerufen; sie wollte nicht, daß unglückliche, kranke Menschen das weitere Opfer von Fliegerbomben werden sollten. Aber eine Verräterin war sie doch. War ich nicht schuldig, wenn ich diesen Brief an den Spion weitergab? Nein. Es war uns klar, daß dieser Brief und diese Meldung weitergegeben werden mußten. Aber ebenso klar war es für uns, daß dieser Spion entlarvt werden müsse. Ich war aber überzeugt, daß die Frau nur ein Werkzeug dieses Menschen, vielleicht gezwungen, war.
Gemeinsam machten wir uns nun auf den Weg zum »Landwirt«. Das Anwesen war gleich gefunden, denn dieser Mensch war tatsächlich der einzige, der in der zusammengeschossenen Ortschaft als Zivilperson anwesend war. Während ich nach längerem Klopfen Einlaß erhielt, stellte sich mein Freund auf Beobachtung. Der Landwirt hatte unheimlich kalte Augen, während sein Benehmen sehr zuvorkommend war. Mit einer kurzen Erklärung über meine Bekanntschaft mit Frau P. übergab ich ihm den Brief und entfernte mich dann wieder. Wohlweislich ging ich, ohne Verdacht zu erregen, wieder den Weg nach H. zurück. Wie mein Freund beobachtete, schlich mir der Franzose tatsächlich nach und ging erst zurück, als er annahm, daß ich wirklich auf dem Rückweg sei. Ich machte aber einen großen Bogen und gelangte über Felder und Gräben wieder zu meinem Freund.
Und nun lagen wir auf der Lauer, und zwar so, daß wir den hinteren Ausgang des Anwesens, welcher in den Hof zu den Scheunen führte, beobachten konnten. Stunden waren schon verflossen, als wir am Haus ein Geräusch hörten. Die Augen schmerzten uns von dem angestrengten Schauen, aber wir sahen doch, was wir wollten. Der Himmel kam uns sozusagen zu Hilfe, denn die Wolkenwand schien sich zu verdünnen, so daß ein lichter Schein von dem Mondviertel, welches am Himmel stand, genügte, um gerade noch zu sehen, wie eine Taube pfeilschnell über das Haus hinweg den Weg zur Front nahm.
Wir hatten unseren Beweis. Mein Freund gelobte mir Schweigen und überließ mir die weiteren Schritte zur Entlarvung dieses Menschen. Das Ende ist kurz gesagt. Der Batteriechef nahm meine Beobachtung, die ich, wie ich ihm versicherte, ganz zufällig machte, zur Kenntnis, und einige Tage darauf wurde der Mann ohne Aufsehen verhaftet. Allerdings wurde er nicht mehr auf frischer Tat ertappt. Was mit ihm geschehen ist, konnte ich nicht erfahren.
Wie sollte ich mich nun zu der Frau verhalten? Sie hatte an die hundert Kameraden von uns gerettet, obwohl sie auch die Ursache der Vernichtung gewesen wäre. Aber sie hatte sich als Mensch gezeigt in dem Augenblick, als es sich um Kranke handelte. Offen bekannte ich ihr, daß ich den Brief gelesen. Sie wurde kreidebleich und drohte ohnmächtig zu werden. In großer Erregung warf ich ihr das schmutzige Tun vor. Nur der Kinder wegen sähe ich von einer Anzeige ab; aber ich würde dafür sorgen, daß sie in Zukunft überwacht würde, und bei dem geringsten Verdacht werde sie verhaftet.
Nun aber beichtete sie mir, daß der Landwirt ihr Bruder sei und sie gezwungen habe, ihm alles Wissenswerte über Besatzung mitzuteilen. Ab und zu kam er zu ihr und holte sich die Neuigkeiten, um sie mittels Brieftauben weiterzugeben. Sie weigerte sich immer wieder; aber ihr Bruder drohte ihr mit Anzeige, wenn sie nicht gefügig wäre. So kam sie wider Willen in diesen Spionagedienst. Sie flehte mich auf den Knien an, ihr zu verzeihen und zu vertrauen, daß sie in Zukunft nichts mehr ihrem Bruder mitteile.
Nun, dafür war ja gesorgt, und ich war überzeugt, daß die Frau die Wahrheit sprach. Sollte sie für Vergangenes büßen? Mein Gewissen ließ es nicht zu. Bis heute habe ich über diesen Vorfall Schweigen bewahrt.
Konrad Adelmann, tech. Angestellter, Nürnberg.
Es war in Russisch-Polen, in der Judengemeinde Opoèno, als ich das Stationskommando als Hauptmann übernahm. Gleich am ersten Tage kam feierlichst angerückt eine Abordnung von alten Juden, mit der Bitte, ihnen die Bewilligung zum Bau eines Dampfbades zu geben. Diese Bewilligung war ihnen zwanzig Jahre hindurch von der russischen Behörde versagt worden. Dies meldete mir ein jüdischer Feldwebel, und ich gab den Befehl, die Abordnung hereinzulassen. Bevor sich noch die Abordnung feierlichst im Zimmer versammelt hatte, trat ich ein und frug kurz:
»Was wollt's?«
»E Bad,« ruft eine Stimme.
»Habt's a Geld?«
»Joi!«
Und freudestrahlend war die Judengemeinde entlassen; und noch heute loben sie die »Wohltat« der Oesterreicher, die ihnen die rasche Bewilligung zum Bau des Dampfbades brachten.
Karl Linka, Drogerie-Besitzer, Brünn.
Wir lagen im Frühjahr 1915 in einem größeren Flecken nördlich von St. Quentin als Bahnschutz. Von einigen Kameraden erfuhr ich, daß an einem Ausgang des Dorfes eine Frau ein kleines Wirtshaus mit Kramladen betrieb, daß man dort jederzeit ein gutes Glas Kaffee trinken könne – und was den meisten die Hauptsache war – die Frau nähme nie Bezahlung dafür. Ich wollte mich hiervon überzeugen und ging hin. Ich fand eine Frau, vielleicht vierzigjährig, mit einem acht- bis zehnjährigen Jungen, sehr beschäftigt, aber immer freundlich und lustig. Mehrere Kameraden saßen schon bei dem billigen Kaffee und aßen ihre mitgebrachten Delikatessen. Ich bestellte mir ebenfalls ein Glas und frug nach dem Preise. Er kostet nichts, meinte Madame. Ich fragte sie, ob sie so reich sei, den Kaffee, der damals schon drei bis vier Francs das Pfund kostete, verschenken zu können? Das sei sie nicht, meinte sie, aber es mache sie nicht ärmer. Ich ließ mir einen Kognak zu 10 Centimes geben, damit ich wenigstens etwas bezahlen konnte und sprach mit meinen Kameraden darüber, daß es doch nicht angängig sei, der armen Frau den Kaffee wegzutrinken, ohne sie wenigstens etwas zu entschädigen. Geld nähme sie ja nicht, aber ein Stück Brot oder Aehnliches würde ihr gewiß angenehm sein, da ja doch der Junge den größten Teil des ihr zustehenden Brotes mit seinem gesunden Appetit wegputze, so daß für sie oft nur wenig übrig bleiben möge. Meine Kameraden sahen dies auch ein und brachten ihr dann öfter eine Extrastulle mit, wenn sie dort Kaffee tranken, worüber die Frau stets sehr erfreut war, meistens sofort aß, aber stets für ihren Jungen ein Stück zurücklegte.
Am Pfingstmorgen 1915, der strahlend herausstieg, beschloß ich einen Morgenspaziergang zu machen und bei Madame zu frühstücken. Ich hatte einige Feldpostpaketchen mit Formkuchen aus der Heimat erhalten, packte ein Paketchen zusammen und spazierte los. Die Frau war schon tätig, als ich ankam und begrüßte mich mit freundlichem bon jour. Ich bestellte sogleich drei Glas Kaffee und ersuchte sie, mit ihrem Sohn mit mir zu frühstücken. Als sie die drei Gläser brachte, hatte ich den Kuchen bereits zerschnitten aus einem Teller liegen und bat sie, zuzugreifen. Sie sah es, stand vor dem Tisch und da rollten ihr vor Rührung die Tränen über die Wangen.
Eine Augenverletzung, die ich einige Tage später erlitt, machte meine sofortige Ueberführung nach dem Kriegslazarett St. Quentin nötig und hinderte mich an jeglichem Abschiednehmen. Am zweiten Tage meines Aufenthalts dort kam der im Saal die Aufsicht führende verwundete Feldwebel zu mir und sagte mir, eine Französin wäre draußen und wollte mich sprechen, was er machen solle? Ich sagte ihm, sie würde uns wohl nicht sehr schaden, er möge sie nur bringen. Er ging und brachte zu meinem Erstaunen die freundliche Wirtsfrau mit ihrem kleinen Buben an mein Bett. Mit tränenden Augen erzählte sie mir, daß sie von Kameraden erfahren hätte, daß ich hier in St. Quentin läge und sie wollte mich noch einmal sehen; sie möchte mir so gern etwas schenken, habe aber nichts und so möge ich dies annehmen. Dabei legte sie mir einen Schweizer Franken und fünf Sous auf die Bettdecke. Ich lehnte das Geld ab. Sie bat aber, es von ihr anzunehmen, da sie mir nichts anderes geben könne – vous avez été toujours un bon camarade!
Ich habe sie nicht wieder gesehen, denn am dritten Tag schon ging es mit dem Lazarettzug nach Aachen, ich kenne auch den Namen der Frau nicht, die von den Kameraden einer abwehrenden Geste wegen, die sie mit gefalteten Händen machte, wenn die Späße etwas frei wurden, »Madame Paternoster« genannt wurde. Aber der Schweizer Franken ist noch heute in meinem Besitz, als Souvenir – und erinnert mich daran, wie leicht es oft ist, von Mensch zu Mensch eine Brücke zu schlagen.
Alfred Fischer, Bürogehilfe, Frankfurt a. M.
Champagnenächte, Frühjahr 1916, immer häufiger und grauenvoller französische Flugzeugangriffe auf Vouziers. Nacht für Nacht stürzt alles in die Keller, Schutz suchend, Schutz sich einbildend. Bewohnerschaft und Soldaten in drangvoll fürchterlicher Enge in kleinen stickigen Kellern, oft bis zum Knöchel im Wasser stehend. Allein, verlassen, wo alles sich in Sicherheit bringt, in dunkler Nacht: ein altes blindes französisches Fräulein. Das einzige Lebewesen, welches ihr nahestand, eine Henne, die letzte, die ihr geblieben. So floh sie in ihrer Angst an den Ort, den der Franzose le cabinet nennt. Deutsche Funker erfuhren davon und nahmen, rechts einer, links einer, die arme Blinde, um sie mit in den schützenden Keller der Nachbarschaft zu schleppen, während schon die Flugzeugbomben herniederprasselten.
Max Otto Geserick, Kaufmann, Auerbach i. V.
In Frankreich war's, im Pas de Calais, in einem kleinen armseligen Dörfchen, ein paar Kilometer hinter der Front. Jede Nacht, vom Einbrechen der Dunkelheit bis zum Morgengrauen, hatten wir Dienst auf dem großen Wasserturm. Vor uns lag die Division. Ihre Lichtsignale mußten wir aufnehmen und sie telephonisch zum Stabe weiterleiten. Sieben, acht Stunden lang rauschte, flammte, zuckte ein magisches Feuerwerk in unsere Augen: Mündungsfeuer, Leuchtkugeln, Scheinwerfer, Minen, die ganze große Apotheose des Todes. Der Turm zitterte. Manchmal krachte eine Granate durch ihn hindurch. Aber er stand.
Wir sahen nicht die grausame Schönheit der flammenden Erde, wir durften sie nicht sehen. Wir sahen nur die gleichmäßig aufblitzenden, exakt arbeitenden Signale unserer Divisionsscheinwerfer, registrierten sie automatisch, langsam ermüdend, bis es allmählich graute, die Farben blasser wurden und die Dämmerung fahl heraufkroch.
Dann gingen wir fröstelnd und sanken todmüde auf unser Bett. Kein Trommelfeuer konnte den bleiernen Schlaf stören. Nacht für Nacht war das so.
Da, an einem Morgen, geschah es, daß etwas in meinen Schlaf hineinrief. Ich hörte eine aufgeregte Stimme. Aber die ging mich nichts an. Nur schlafen! Diese blöden Träume! Das Gehirn arbeitete weiter, die Lampen blitzten unter der Schädeldecke, die Leuchtkugeln irrten durch das Unterbewußtsein. Ich zuckte zusammen. Eine derbe Hand rüttelte an meiner Schulter. Worte stiegen aus dem Dunkel: » Monsieur! – monsieur! Les Anglais!« Nur ganz langsam, widerstrebend kam das Bewußtsein: also die Engländer! Vor mir stand meine Quartierwirtin. Sie gestikulierte heftig mit den Armen. Mit beiden Füßen sprang ich aus dem Bett, nun ganz wach. Ein Blick auf die Dorfstraße gab Aufklärung: dort unten flutete alles in wirrem Durcheinander zurück. Batterien, Infanterie, Reiter, Kolonnen. Mitten hinein krachten die ersten Granaten. Geschrei, Kommandos, Fluchen, Verwundete, durchgehende Pferde, Staub, gelber, stickiger Dampf. Also wahrhaftig: die Engländer waren durchgebrochen.
Ich stand entsetzt. Das war ja unmöglich. » Vite, vite, monsieur, dépêchez vous!« Ja, sie hatte recht, meine Wirtin, ich mußte mich beeilen, wenn ich hier noch herauskommen wollte.
»Und Sie, Madame?« fragte ich, während meine Hände schon meine Habseligkeiten zusammensuchten und in die Packtaschen stopften.
Sie zuckte mit den Schultern. Dann streckte sie mir ihre Hand entgegen: » Au revoir, monsieur, et bonnes chances!«, sagte sie mit leise zitternder Stimme. Ich drückte ihre Hand: »Dank, Madame, auf Wiedersehen.«
In ihren Augen, die schon so viel Unglück, so viel Grausamkeit gesehen hatten, lag kein Hohn über die Niederlage des Feindes, keine Freude über die Befreiung von der fremden Besatzung, keine neue Hoffnung. Nur Mitgefühl lag in ihnen, Sorge um die Rettung ihres Pflegekindes, das ihr Feind war, und das Wissen um das Leid der gequälten Menschheit.
Ich sah sie nie wieder. Der Angriff ist damals schnell von uns aufgehalten worden. Die Front stand wieder. Das Dorf lag in Trümmern.
Dr. Walter Ehrlich, Arzt, Neukölln.
Wir kamen todmüde von der Stellung an der Putna. Das war ein langer Winter bei 25 bis 30 Grad Kälte, zwei Meter Schnee und schmaler Kost. Ausgehungert, zerrissen, verdreckt und verkrustet keuchten wir unseren Ruhequartieren entgegen. Einzelquartiere in einem rumänischen Bauerndorfe, das war uns lange nicht mehr passiert. Ich klopfte an das Haustor meines mir zugewiesenen Quartieres, wobei ich mich an den Planken festhalten mußte, sonst wäre ich umgefallen vor Müdigkeit und Elend.
Nicht lange, dann öffnete mir der Hausherr, ein kleines, aber knochiges Männchen. Hinter ihm stand seine Frau und die beiden Haustöchter im Alter von etwa sechzehn und zwanzig Lenzen. Freundlich, als seien wir alte Bekannte, gab er mir die Hand und prüfte zugleich meine rumänischen Sprachkenntnisse mit den Worten: » Nuschte Romaneschte?« Worauf ich ihm zu meinem Bedauern mit » Nuschte – nuschte« antworten mußte.
Ich warf erschöpft meinen Affen vom Buckel und machte eine Handbewegung, was so viel heißen sollte wie: ich möchte trinken. Kaum hatte mein Quartierwirt verstanden, was ich wollte, da rannte er los, seine Weibsleute rannten ebenfalls, in der nächsten Minute schon stand die Aelteste, die Marina, wie ich bald erfuhr, mit einem Krug Wasser vor mir. Und gleich nachher kam auch mein Wirt, Georg Fulna mit Namen, und kredenzte schmunzelnd einen Steinkrug voll Wein, beständig lobend: » Bona vino, vino bona.« Unterdessen hatten sich Frau Georgize und die zweite Tochter Florika in der Küche, das heißt, es war Küche, Wohn- und Schlafstube zugleich, an die Arbeit gemacht und was soll ich sagen? Nach zehn Minuten schon saß ich bei einer Pfanne voll gebackener Eier, darüber kein Bajazzo hätte springen können. Mein Magen war ganz außer Rand und Band. Eier mit Speck, richtigem Speck und richtige Eier, nach einem Winter von 25 Grad minus, fast zwei Meter Schnee, Hammelbrühe und Saubohnen. Dabei stand die ganze Familie um mich herum und kicherte über meinen germanischen Appetit.
Gesättigt sah ich mich dann nach einem Nachtlager um. In der Stube standen nur zwei arme, sehr arme Bettpritschen. Also versuchte ich Zeltbahn und Wolldecke zurecht zu legen. Da gab es aber einen energischen Protest meiner Gastleute. Mit allen möglichen Zeichen versuchte mir Herr Fulna klar zu machen, daß ich das vordere Bett benutzen soll. Und wie er merkte, daß ich Bedenken hatte, knipste er beide Daumen zusammen und sagte wieder: » Nuschte – nuschte.« Also legte ich mich ins Bett und wenig später, es war dunkel, ging Frau Georgize, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß ich gut zugedeckt war, mit ihrer Tochter Florika nebenan zu Bett.
Die nächsten Tage war wirklich Ostern, deutsche Ostern natürlich. Das waren Feiertage! Ich hatte alles, was ich brauchte. Morgens in aller Frühe kam schon die Florika und brachte heiße Milch an mein Bett und wurde rot und grüßte: » Bona Diminaza –, Labtin bona,« was heißen sollte: »Guten Morgen, ich bring' gute Milch!« Ich sprang von der Falle, grub eine Tafel Schokolade aus dem Tornister und gab sie mit einem wohlmeinenden Klaps der Florika. Es war die erste Tafel, die sie in ihrem Leben bekam. Wir waren bald dicke Freunde, die ganze Familie und ich. Ich bekam, wenn sie auf dem Felde war, den Hausschlüssel, hatte Zugang zum Hühnerstall, zum Rauchfang, an die Milchnische. Das warme Wetter brachte mir einen empfindlichen Muskelrheumatismus. Aspirin hieß es, wenn man sich zum Revier meldete. Dann konnte man wieder gehen. Frau Georgize machte mir Fußbäder, wickelte mich in Kolter, machte Umschläge, meine Mutter hätte es nicht besser gekonnt.
Und erst acht Tage nach Ostern. Ja, da war nämlich noch einmal Ostern bei uns, nämlich russisch-orthodoxe. Herrgott, tutet da am Samstag vorher der örtliche Polizeichef mit seinem Ochsenhorn im Dorf herum und kündet uns eine freudige russisch-orthodoxe Osterbotschaft. » Moine Diminiaza ona German Soldat rau« verkündete er nach allen Ortsrichtungen. Was das bedeuten sollte? Nur Geduld!
Am ersten Osterfeiertag russischen Datums in aller Herrgottsfrüh erscheinen Herr Georg Fulna, seine Frau Georgize und seine Töchter Marina und Florika vor meinem Bett und überreichen mir vier braun, wirklich braungefärbte Ostereier, mit vielen rumänischen Glückwünschen dazu. Und dann hole ich meinen Kaffee an der Feldküche. Aus jedem Haus kommt mit glänzenden Augen ein Mütterchen und überreicht uns Soldaten mit einem festen Händedruck und dem üblichen Morgengruß, » Bona Diminiaza« ein schön gefärbtes Osterei.
Wenige Tage später rückten wir wieder ab mit einem Mordsrespekt vor der Gastfreundschaft dieser armen, rumänischen Bauern. Keiner von uns hat die zweifachen Ostern 1917 und die rumänischen Ostereier vergessen.
A. Daus, Fechenheim.
Am 2. November 1914 war ich als Führer eines Sanitätstrupps in Nordfrankreich in Lille tätig. Ich war an diesem Tage morgens nach acht Uhr gerade von einem anstrengenden Nachtdienst zurück und so müde, daß ich mich, ohne zu frühstücken, etwas niederlegen wollte, als meine Ordonnanz mir meldete, eine junge französische Frau wolle mich in einer dringenden Sache sprechen. Ich war so müde, daß ich sie nicht empfangen wollte. Als aber meine Ordonnanz mehrmals kam und mir meldete, daß die Frau weine und mich anflehe, ihr Gehör zu schenken, ließ ich sie hereinführen ...
Sie erzählte mir nun, daß sie von Limoges nach Lille – etwa 800 Kilometer Eisenbahn! – mit ihrem zwei Jahre alten Kind gekommen sei, um ihren Mann zu suchen, von dem sie erfahren habe, daß er seinen linken Arm verloren und auf der Zitadelle in Lille sei, von wo er an einem der nächsten Tage als Kriegsgefangener nach Deutschland gebracht werden solle.
Ich erklärte ihr sofort, daß ich in diesem Falle machtlos sei und daß es wohl ausgeschlossen sei, daß ihr Mann nicht nach Deutschland gebracht würde. Da fing sie dermaßen an zu weinen und setzte mir dermaßen zu, daß ich mich, obwohl ich zwei Tage und Nächte nicht aus den Kleidern gekommen und daher todmüde war, doch erweichen ließ und ihr fest versprach, mich in der Sache umzutun.
Nach dem Frühstück begab ich mich zuerst auf den Nordbahnhof, wo die französischen Gefangenen sich schon befinden sollten, und ließ mir den Mann vorführen. Er hieß George François Devoux und war seines Berufes Anstreicher, ein junger, schmächtiger, sechsundzwanzig Jahre alter Soldat, dem der linke Arm amputiert war. Seine Leidensgenossen, von denen er einer der jüngsten war, waren hauptsächlich alte Landsturmleute.
Danach begab ich mich zu dem mir bekannten Bahnhofskommandanten, dem bayerischen Oberst Wopperer, dem ich den Fall unterbreitete und um Unterstützung bat. Sein Adjutant, Major Hunert, telephonierte dann mit der Kommandantur, wie vorauszusehen ohne Erfolg. Ich teilte dieses Resultat nun der vor dem Bahnhof wartenden Frau mit, die mich aber so flehentlich bat, doch nochmals mein Heil zu versuchen, daß ich nun persönlich mich zur Kommandantur und später zum Gouvernement begab, wo ich verschiedene Offiziere kannte. Auch diese Versuche waren vergebens. Auf dem Rückwege zum Bahnhof traf ich nun zufällig den Bahnhofsarzt, den bayerischen Stabsarzt Schön, mit dem ich durch unsere gemeinsame Tätigkeit auf dem Bahnhof sehr gut bekannt war, und erzählte ihm von dem Fall. Er wollte nun jedenfalls den Mann ansehen und war der Meinung, daß, weil Devoux doch nur einen Arm habe, vielleicht doch etwas zu erreichen wäre. Wir gingen nun nochmals zur Kommandantur, und – was ich nicht für möglich gehalten hätte – nach einer Viertelstunde hatten wir einen Paß für den Devoux, wonach er nicht nach Deutschland gebracht werden sollte, sondern mit Frau und Kind in Roubaix bei Lille wohnen sollte.
Die nun folgende Szene werde ich nie vergessen. Am Nordbahnhof, noch etwa eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges, wartete die Frau, und als ich ihr das glückliche Resultat mitteilte, war sie vor Freude nicht imstande, ein Wort zu sprechen oder mir zu danken. Ich bat sie, zu warten und eilte auf den Bahnsteig, wo die Gefangenen schon bereit standen, ließ Devoux heraustreten und verkündete ihm die freudige Botschaft, daß er nicht nach Deutschland ins Gefangenenlager müsse, sondern die Erlaubnis habe, mit seiner Familie in Roubaix zu bleiben. Auch er brachte kein Wort heraus. Dagegen liefen seine Kameraden, die alten Landsturmleute, mit Tränen in den Augen auf mich zu, um mir die Hände zu drücken.
Devoux wurde nun in einem Raum der Bahnhofskommandantur geführt, wo er aus seinem Tornister einen Cutaway und eine gestreifte Hose zog und sich umzog. Mit einem kleinen, grauen, runden Hütchen kam er heraus, verabschiedete sich von seinen Landsleuten und ging mit mir vor den Bahnhof, wo seine Frau ihn in Empfang nahm. Jetzt erst kam er dazu, mir zu danken, als seine Frau mir unter Strömen von Tränen die Hand drückte. Ich ließ die beiden dann zur elektrischen Bahn nach Roubaix bringen, froh, daß die zwei Menschen glücklich waren.
Peter von Chrustschoff, Karlsruhe.
Ich möchte wieder einmal in der Kathedrale in Laon sein, tief im Gestühl in einer Ecke sitzen, vor mich hindämmern, träumen, während oben auf der Empore das Largo von Händel mit Harfe, Orgel, Cello, Violine und ach – einer so schönen Frauenstimme, gespielt und gesungen wird.
Ich möchte wieder einmal, wie damals im Kriege, von Franzosen, auf einer Liebhaberbühne (sie dürfte genau wieder so zusammengestippelt aussehen) den »Tartuffe« von Molière sehen. O, ihr Franzosen, romantisches Volk, ihr hattet doch damals noch weniger als wir Soldaten! Aber einen »Tartuffe« habt ihr gespielt – Reinhart würde euch beneiden, hätte er gesehen, mit welch primitiven Mitteln ihr euch behalft und spieltet. Ach, die köstliche, die geschwätzige Dorine! Und ihr waret noch nicht einmal Berufsschauspieler!
Ich möchte wieder einmal einen Menschen so trösten können, wie jenen alten Franzosen, der mich auf der Landstraße anhielt und unter Tränen klagte, daß man ihm das Huhn, die »Lisette«, wie er sie nannte, gestohlen habe, von der wir sagten, daß es weder Huhn noch Lisette, sondern »Kochgeschirr-Aspirant« heiße. Mir gelingt das Trösten jetzt nicht mehr. Man ist aufgebraucht.
Ich möchte noch einmal in Longwy sein, bei jener Carmen, die aber keineswegs so gefährlich wie Mérimées Titelheldin war, aber so herzlich lachen konnte, mir Zwieback schenkte, weil ich magenkrank war und kein Kommiß vertrug. O meine Carmen, Miß Frankreich, um mit der heutigen Zeit zu reden, wo wirst du sein, wie geht es dir? Hast du deinen Albert, der damals gefangen im Sennelager war? Ich hoffe, es geht dir gut und du hast deine sechs Kinder, die Albert dir schenken soll, wie du es wünschtest.
Ich möchte noch dem Herr Maire von Laon danken, weil er mir »unter der Hand« das schönste Zimmer besorgte, das dort zu haben war: mit sauberem Bett, mit Sammetmöbeln, mit Sonne, am Pont d'Ardon, mit einer Aussicht, wie sie der Funkturm in Berlin nicht bietet. Ich möchte ihm danken. Für eine kleine Bandage an seinem Fuß schenkte er mir ein Königreich.
Ich möchte wissen, wie es dem Kinde geht, das, blau im Gesicht, halb erstickt, röchelnd, von seiner Mutter, atemlos, springend auf den Armen gebracht wurde. Ich weiß: das Kind bekam einen Luftröhrenschnitt und atmete sofort wieder. Die Bäuerin weinte vor Freude, brachte dem Arzt und mir Eier-Dinge, die sie am eigenen Munde abgespart; denn sie hatte selbst kaum das Nötigste. Wir nahmen sie nicht. »Ihr Kind braucht die Eier notwendiger,« sagte der Arzt. Die Bäuerin küßte uns die Hände.
Ich möchte das Grammophon in jenem kleinen Estaminet in Montmedy noch einmal hören, das immer nur ein- und dieselbe Platte spielte, weil keine andere zur Verfügung stand, und die in der Mitte einen Fehler hatte, auf welchem der Stift hängen blieb, die Platte sich aber immer weiter drehte, wobei man dann minutenlang hören konnte: »des Festes, des Festes, des Festes ...« bis eine gütige Hand der Schalldose über diese schwierige Stelle hinweghalf. (Es war das »Brautlied aus Lohengrin«, von einem deutschen Soldaten spendiert.)
Ich möchte jene kleinen Franzosenkinder aus Longuyon, jetzt zu Männern und Frauen herangewachsen, sehen, die sich damals mit Soldatenplunder behängten, im Gänsemarsch durch das Städtchen zogen und sangen:
Jeunesse di schuren teu proche teuten,
jeunesse di schuren, zo gomm nich meh –
Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten,
Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.
Damals dachte ich: wartet, bis ihr soweit seid, dann sollt ihr Recht haben.
Ich möchte gerne wissen, wie es dem damals schwer Verwundeten geht, von dem ich nur weiß, daß er Gaston heißt und den ich in meiner Baracke hatte, ihn zu pflegen, zu verbinden, zu füttern, wie es eine Mutter mit ihrem schwerkranken Kinde tut. Ich möchte wissen, ob er sich noch an seiner Geliebten, seiner Marguerite, rächen will, die einen andern genommen hatte, weil jener ihr Spitzen und Pralinees kaufen, sie ins Theater und auf Tanzböden führen konnte, was ihm, Gaston, nie möglich war. Und weil dieser Liebhaber Schmisse im Gesicht hatte, die viel reizendere und liebenswertere Narben seien als die, die er, Gaston, habe, und zum mindesten nicht so gruselig seien. Ich will ihm, dem großen, schwarzhaarigen, ach so zerschossenen Jungen schreiben, daß er ein lieber Kerl sei.
Ich möchte gerne noch einmal jene bangen Minuten, kurz vor Aufzug des Vorhangs mitmachen, als ich zum ersten Male, als junger Mensch, ein halbes Kind noch, auf den Brettern stand, jenen denkwürdigen Abend in Remonville, an welchem der Grundstein zu meinem Berufe gelegt wurde und ich vor deutschen Soldaten und französischen Zivilisten Volkslieder zur Gitarre vortrug. Aber weshalb ich gerade dieses schreibe? Es hat damit eine Bewandtnis: ich wurde einige Tage darauf auf Umwegen zu einer französischen Familie gebeten, die ich an meinem ersten Abend unter den Zuhörern sah. Beim Eintreten in den Salon bemerkte ich, wie der Hausherr ein Gemälde von der Wand abhing und es mit der Bildseite gegen dieselbe stellte. Es war jenes Bild, auf welcher Rouget de Lisle seine eben komponierte Marseillaise vor dem Volke Frankreichs vortrug. Der Hausherr glaubte, das Bild störe mich ... Ich möchte dem Hausherrn und seiner Gemahlin für den gebotenen Imbiß heute noch einmal danken. Es hat mir selten so gut geschmeckt wie damals. Es waren Leckerbissen und russischer Tee, was sie sicher auf Umwegen durch Vermittlung des Roten Kreuzes in Genf erhalten hatten und nun ihrem Gaste, dem Deutschen, vorsetzten.
Ich möchte wissen, ob jene Madeleine eine große Sängerin wurde, die sie werden wollte und mich bat, zur Kommandantur zu gehen, um zu bitten, daß man ihr das Spinett, das doch den Soldaten nicht genug Krach mache, nicht requiriere. Für diesen Gang, der mir einen Verweis einbrachte, weil mich »anderer Leute Sachen nichts angingen«, sang mir Madeleine vollendet Glucks Arie: » che farò senz' Euridice« vor. Sie begleitete sich auf dem dagebliebenen Spinett. Madeleine, bist du an der Großen Oper in Paris? Ich hoffe! Ich hoffe, daß man dir jeden Abend, wenn du dort singst, die Pferde deines Wagens ausspannt und dich umjubelt nach Hause zieht. Wo wohnst du? In den Champs-Elysées? Bist du die Rivalin der Mistinguette oder Yvette Gilbert, die ich hier nie versäume zu hören?
Ich wünsche, um mich klassisch auszudrücken, daß sich drüben neues Blühen aus den Ruinen erhebe, daß man meiner so denken möge, wie ich es tue für alle die, die mir Gastfreundschaft boten, die mich damals so wohlwollend behandelten, weil sie wußten, daß ich, um Schaden anzurichten, noch nicht fähig genug war; denn sie sahen, daß ich eben von der Mutter gekommen, daß man mich von der Schulbank weggeholt und ich der denkbar unbrauchbarste Soldat und so dumm war (ich gestehe es zu meiner Schande), daß ich nie begriff, wieviel Chargen vom Sanitäts-Soldaten bis zu Hindenburg noch erklommen werden müssen. Aber es drückt mich heute noch ebensowenig wie damals – ich wollte ein schlechter Soldat, aber dafür ein um so besserer Krankenpfleger sein.
Gaston, du weißt es, du kannst es mir sagen, ob ich es war. Und du, Roger, Pierre, auch du, Maire von Laon! Ich grüße euch alle!