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»A Christmas Tree«
Ich habe heute abend einer fröhlichen Kindergesellschaft zugesehen, die um jenes hübsche deutsche Spielzeug, den Christbaum, versammelt war. Der Baum stand in der Mitte eines großen runden Tisches und ragte hoch über die kleinen Köpfe der Kinder empor. Er war mit einer Menge kleiner Kerzen besteckt, die ihn in hellem Licht erstrahlen ließen, und überall funkelten und glitzerten bunte Gegenstände an ihm. Da gab es rosenwangige Puppen, die sich hinter den grünen Blättern verbargen; da gab es richtige Uhren (wenigstens mit beweglichen Zeigern und der Möglichkeit, sie endlos aufzuziehen), die von zahllosen Zweigen herabbaumelten; da gab es polierte Tische, Stühle, Bettstellen, Kleiderschränke, Achttageuhren und verschiedene andere Möbelstücke (in Wolverhampton wunderbar aus Zinn angefertigt), die mitten in den Baum gesetzt waren, als sollten sie für einen Feenhaushalt Verwendung finden; da gab es fröhliche, breitgesichtige kleine Männer, die viel angenehmer anzusehen waren als viele richtige Männer, und das war auch kein Wunder, denn ihre Köpfe waren abnehmbar, und dann konnte man sehen, daß sie voll Zuckermandeln steckten; da gab es Fiedeln und Trommeln, Tamburine, Bücher, Arbeitskästen, Malkästen, Bonbonkästen, Guckkästen und alle möglichen anderen Kästen; da gab es Geschmeide für die älteren Mädchen, das viel heller glitzerte als die Gold- und Juwelensachen für die Erwachsenen; da gab es Körbchen und Nadelkissen in allen möglichen Ausführungen; Flinten, Säbel und Fahnen; Hexen, die in Zauberkreisen von Pappe standen, um zu weissagen; Drehwürfel, Kreisel, Nadelbehälter, Federwischer, Riechfläschchen, Konversationskarten, Blumenvasen, wirkliche Früchte, die durch Goldpapier einen künstlichen Glanz erhalten hatten; nachgeahmte Äpfel, Birnen und Nüsse, die vollgestopft mit Überraschungen waren; kurz, wie ein hübsches Kind vor mir einem anderen hübschen Kind, seiner Busenfreundin, zuflüsterte: »Es gab alles und noch mehr.« Diese bunte Sammlung von allen möglichen Gegenständen trug der Baum wie einen Behang von Zauberfrüchten, und die hellen Augen, die von allen Seiten darauf gerichtet waren, spiegelten sich darin. Einige von den Diamanten-Augen, die sie bewunderten, reichten dabei kaum bis an den Tisch, und einige andere lagen sogar noch in schüchterner Verwunderung an der Brust hübscher Mütter, Tanten und Ammen. Das Ganze aber erschien mir wie eine lebhafte Verwirklichung der phantastischen Träume der Kindheit, und ich dachte daran, wie alle Bäume, die wachsen, und alle anderen Dinge, die auf Erden ins Dasein treten, ihren wilden Schmuck zu dieser unvergeßlichen Zeit tragen.
Da ich jetzt wieder zu Hause und allein bin, als einziger im ganzen Haus noch wach, werden meine Gedanken durch einen Zauber, dem ich mich nicht ungern überlasse, zu meiner eigenen Kindheit zurückgezogen. Ich beginne zu überlegen, welche Gegenstände uns wohl am besten in der Erinnerung geblieben sind, wenn wir uns die Zweige des Christbaumes unserer eigenen Kindertage vergegenwärtigen, an dem wir uns ins wirkliche Leben emporschwangen.
Gerade in der Mitte des Zimmers, in seinem freien Wuchs durch keine einschließenden Mauern oder eine bald erreichte Decke eingeengt, erhebt sich ein schattenhafter Baum. Ich blicke zu der träumerischen Helligkeit seiner Spitze empor – denn ich beobachte in diesem Baum die sonderbare Eigenschaft, daß er nach unten gegen die Erde zu zu wachsen scheint – und ich nehme meine jüngsten Weihnachtserinnerungen wahr!
Zuerst lauter Spielzeug, wie ich finde. Dort oben zwischen den grünen Stechpalmenzweigen und den roten Beeren befindet sich der Clown mit den Händen in den Taschen, der sich niemals niederlegen wollte, sondern, wenn man ihn auf den Boden legte, hartnäckig seinen fetten Körper rundherum drehte, bis er sich ausgerollt hatte. Dann starrte er mich mit seinen Hummeraugen an, und ich tat so, als ob ich fürchterlich lachen müßte, aber im innersten Herzen kam er mir recht unheimlich vor. Dicht neben ihm befindet sich jene infernalische Schnupftabaksdose, aus der ein dämonischer Ratsherr im schwarzen Talar, mit einem Kopf voll verwilderter Haare und weit geöffnetem Mund, aus einem roten Tuch heraussprang. Er war ein ganz unerträglicher Geselle; man konnte ihn aber auch nicht loswerden. Denn er pflegte plötzlich in stark vergrößertem Zustand in Träumen aus Mammut-Schnupftabaksdosen hervorzuschnellen, wenn man es am wenigsten erwartete. Auch der Frosch mit dem Schusterpech auf dem Schwanz ist nicht weit weg. Man konnte niemals wissen, wohin er springen würde; und wenn er über die Kerze geflogen kam und sich mit seinem gefleckten Rücken – rot auf grünem Grund – auf der Hand niederließ, dann war er schrecklich. Die Karton-Dame in dem blauen Seidenkleid, die man zum Tanzen gegen den Leuchter stellte und die ich auf demselben Zweig wahrnehme, war harmloser, und außerdem war sie schön. Das gleiche kann ich aber nicht von dem größeren Karton-Mann behaupten, der an der Wand aufgehängt und an einem Faden gezogen wurde. Um seine Nase lag ein finsterer Ausdruck, und wenn er sich die Beine um den Hals schlug (was er sehr oft tat), war er schaudererregend und kein Wesen, mit dem man gern allein war.
Wann blickte mich diese schreckliche Maske zum erstenmal an? Wer setzte sie auf, und weshalb war ich so erschrocken, daß ihr Anblick ein Einschnitt in meinem Leben bedeutet? Sie sieht im Grunde gar nicht so schrecklich aus, sie sollte sogar komisch wirken; weshalb erschienen mir dann ihre blöden Züge so unerträglich? Sicherlich nicht nur deshalb, weil sie das Gesicht des Trägers verhüllte. Das hätte auch eine Schürze getan, und wenn es mir auch lieber gewesen wäre, daß die Schürze abgelegt würde, so wäre sie mir doch nicht so ganz unerträglich gewesen wie die Maske. War es ihre Unbeweglichkeit? Das Gesicht der Puppe war auch unbeweglich, und doch hatte ich keine Angst vor ihr. Vielleicht rief diese plötzliche starre Veränderung, die über ein wirkliches Gesicht kam, in meinem klopfenden Herzen eine entfernte Erinnerung und eine Furcht vor der großen Veränderung wach, die irgendwann einmal über jedes Gesicht kommen und es still machen wird? Jedenfalls konnte mich nichts mit der Maske aussöhnen. Keine Trommler, die beim Drehen eines Griffs ein melancholisches Zirpen vernehmen ließen; kein Regiment Soldaten mit einer stummen Musikkapelle, die aus einer Schachtel hervorgeholt und einer nach dem andern auf einem Drahtgestell aufgestellt werden konnten; kein altes Weib, das aus brauner Pappe und Drähten hergestellt war und ständig für zwei kleine Kinder eine Pastete in Stücke schnitt – nichts konnte mich lange Zeit trösten. Auch nützte es nichts, wenn mir gezeigt wurde, daß die Maske bloß ein Stück Pappe war, oder wenn sie eingeschlossen wurde und ich sicher sein konnte, daß niemand sie trug. Die bloße Erinnerung an dieses starre Gesicht, das bloße Wissen, daß sie irgendwo existierte, genügte, daß ich in der Nacht vor Entsetzen mit Schweiß bedeckt aufwachte mit dem Schrei: »Oh, ich weiß, sie kommt! Oh, die Maske!«
Ich habe mich damals nie gefragt, woraus der liebe alte Esel mit den Tragkörben – da ist er wieder! – gemacht war. Ich erinnere mich daran, daß seine Haut sich wie lebendig anfühlte. Und das große schwarze Pferd mit den runden roten Tupfen überall – das Pferd, das ich sogar besteigen konnte –, ich habe mich nie gefragt, wieso es so sonderbar aussah, und es kam mir nie der Gedanke, daß man ein solches Pferd in Newmarket gewöhnlich nicht zu sehen bekam. Die vier farblosen Pferde neben ihm, die in den Käsewagen eingespannt und wieder ausgespannt und unter das Piano in den Stall gestellt werden konnten, scheinen Stückchen von Pelzkragen als Schwänze und Mähnen zu haben und auf Pflöcken statt auf Beinen zu stehen. Als sie als Weihnachtsgeschenk nach Hause gebracht wurden, verhielt sich das freilich nicht so. Damals war nichts an ihnen auszusetzen; und auch ihr Geschirr war nicht einfach an ihre Körper genagelt wie es jetzt der Fall zu sein scheint. Die klingelnden Werke des Musikkarrens bestanden, wie ich herausfand, aus Federkiel-Zahnstochern und Draht. Immer hielt ich den kleinen Clown in Hemdsärmeln, der ständig auf der einen Seite einer Holzleiter hinauf- und auf der anderen mit dem Kopf voran wieder hinunterlief, für einen ziemlichen Schafskopf. Die Jakobsleiter neben ihm aber aus kleinen Quadraten von rotem Holz, die sich klappernd übereinanderschoben, wobei auf jedem ein anderes Bild erschien und kleine Glöckchen das Ganze belebten, war ein mächtiges Wunder und eine große Herzensfreude.
Ah! Das Puppenhaus! – das sich nicht in meinem Besitz befand, aber zu dem ich als Besucher Zutritt hatte. Ich bewundere die Parlamentsgebäude nicht halb so sehr wie dieses Haus mit steinerner Front, mit richtigen Glasfenstern und Türschwellen und einem richtigen Balkon – grüner, als ich jetzt je einen zu sehen bekomme, ausgenommen in Badeorten, und selbst da sind sie bloß eine schwache Nachahmung. Und obwohl die ganze Hausfront auf einmal aufging – dies war ein Schlag, wie ich einräumen muß, da es die Fiktion einer Treppe zerstörte –, so brauchte ich sie nur wieder zuzumachen, und dann konnte ich wieder daran glauben. Selbst wenn es geöffnet war, gab es drei gesonderte Zimmer darin: ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, beide elegant möbliert, und als Bestes von allem eine Küche mit ungewöhnlich feinen Feuereisen, einer reichen Ausstattung an winzigen Geräten – oh, die Wärmflasche! – und einem zinnernen Koch im Profil, der stets dabei war, zwei Fische zu braten. Wie habe ich doch bei den Barmeciden-Schmäusen In Tausendundeiner Nacht setzt ein Barmakide einem Bettler leere Schüsseln vor und tut so, als seien herrliche Speisen und Wein darin. (Anm. d. Herausg.) von den hölzernen Schüsseln geschwelgt! Auf jeder war eine besondere Delikatesse, wie ein Schinken oder ein Truthahn, festgeklebt und mit etwas Grünem, das ich als Moos in Erinnerung habe, garniert. Alle Mäßigkeitsvereine, die in den letzten Jahren entstanden sind, zusammen hätten mir nicht einen so köstlichen Nachmittagstee vorsetzen können, wie ich ihn aus jenem kleinen Steingutservice genossen habe. Es war wirkliche Flüssigkeit darin (sie lief aus dem kleinen hölzernen Fäßchen, erinnere ich mich, und schmeckte nach Streichhölzern), und der Tee wurde in dem Geschirr zum Nektar. Und wenn die beiden Beine der unnützen kleinen Zuckerzange übereinanderstürzten und, wie Kasperles Hände, zwecklos in der Luft umherfuhren, was tat das? Und wenn ich einmal aufschrie wie ein vergiftetes Kind und die vornehme Gesellschaft in Verwirrung brachte, weil ich einen kleinen Teelöffel, den ich unachtsamerweise in zu heißem Tee sich hatte auflösen lassen, getrunken hatte, so hat das mir auch nichts weiter geschadet, höchstens daß ich ein Pulver einnehmen mußte.
Auf den folgenden Zweigen des Baumes weiter unten, nahe bei der grünen Walze und den Miniatur-Gartengeräten, beginnen die Bücher in Massen zu hängen. Zuerst nur dünne Bücher an und für sich, aber in großer Zahl und mit hübschen, glatten, glänzend roten oder grünen Einbänden. Aber jetzt verändert sich der ganze Baum und wird zu einer Bohnenranke – die wunderbare Bohnenranke, an der Jack nach dem Hause des Riesen emporkletterte! Und nun beginnen diese furchtbar interessanten doppelköpfigen Riesen mit ihren Keulen über den Schultern massenhaft an den Zweigen entlangzuschreiten, indem sie Ritter und Damen am Haar nach Hause schleifen, um sie zu verspeisen. Und Jack, der Riesentöter, wie edel mit seinem scharfen Schwert und seinen schnellen Schuhen! Wie ich zu ihm emporblicke, kommen mir die alten Gedanken wieder in den Sinn. Ich frage mich, ob es mehr als einen Jack gegeben hat (was ich nicht gern für möglich halten möchte) oder bloß einen echten ursprünglichen bewundernswerten Jack, der alle die berichteten Heldentaten vollführt hat.
Gut zur Weihnachtszeit paßt die rötliche Farbe des Mantels, in dem – während der Baum an sich selbst einen Wald für sich bildet, durch den sie mit ihrem Körbchen hindurchtrippelt – Rotkäppchen an einem Christabend zur mir kommt. Sie erzählt mir von der Grausamkeit und Verräterei des heuchlerischen Wolfs, der ihre Großmutter auffraß, ohne daß das auf seinen Appetit irgendwelchen Eindruck machte, und dann sie fraß, nachdem er sich jenen grimmigen Scherz über seine Zähne geleistet hatte. Sie war meine erste Liebe. Ich fühlte, daß ich in der Ehe mit Rotkäppchen vollkommen glücklich hätte werden können. Jedoch sollte es nicht sein; und es ließ sich nichts weiter tun, als den Wolf in der Arche Noah dort herauszusuchen und ihn in der Prozession auf dem Tisch ans Ende zu setzen, als ein Ungeheuer, das gebrandmarkt werden mußte. O die wunderbare Arche Noah! Sie erwies sich als nicht seetüchtig, als ich sie in einen Waschzuber steckte, und die Tiere wurden durch das Dach hineingezwängt, und selbst da mußten ihre Beine erst ordentlich geschüttelt werden, bevor man sie hineinbekam. Waren sie aber drin, so war zehn gegen eins zu wetten, daß sie wieder zur Tür hinausstürzten, die nur unvollkommen mit einer Drahtklinke geschlossen war. Jedoch was machte das alles! Man betrachte die edle Fliege, die nur wenig kleiner war als der Elefant; den Marienkäfer, den Schmetterling – alles Triumphe der Kunst! Man betrachte die Gans, deren Füße so klein und deren Gleichgewicht so unsicher war, daß sie gewöhnlich nach vorn stürzte und die ganze Tierwelt umriß. Man betrachte Noah und seine Familie, die wie idiotische Pfeifenstopfer aussahen. Der Leopard blieb an warmen kleinen Fingern haften und die Schwänze der größeren Tiere lösten sich nach und nach in ausgefranste Bindfadenstückchen auf.
Still! Wiederum ein Wald und jemand oben in einem Baum – nicht Robin Hood, nicht Valentine, nicht der gelbe Zwerg, sondern ein orientalischer König mit funkelndem Krummsäbel und Turban. Ja, bei Allah! Zwei orientalische Könige, denn ich nehme noch einen zweiten wahr, der ihm über die Schulter blickt! Unten im Gras am Fuß des Baumes liegt, der Länge nach ausgestreckt, ein kohlschwarzer Riese und schläft. Sein Haupt ruht im Schoß einer Dame, und neben ihnen steht ein Glaskasten mit vier Schlössern aus glänzendem Stahl, in dem er die Dame gefangenhält, wenn er wach ist. Ich sehe die vier Schlüssel jetzt an seinem Gürtel. Die Dame macht den beiden Königen im Baum Zeichen, und sie steigen behutsam herab. Es ist der Beginn der wundervollen Tausendundeinen Nacht.
Oh, jetzt werden alle gewohnten Gegenstände ungewohnt und verzaubert für mich. Alle Lampen sind Zauberlampen, alle Ringe Talismane. Gewöhnliche Blumentöpfe sind voller Schätze, oben mit ein wenig Erde zugedeckt; in den Bäumen hat sich Ali Baba versteckt; Beefsteaks sind dazu bestimmt, in das Diamantental hinabgeworfen zu werden, daß die kostbaren Steine an ihnen haftenbleiben und von den Adlern in ihre Nester getragen werden, aus denen sie die Händler mit lauten Schreien verscheuchen werden. Torten werden nach dem Rezept des Sohnes des Wesirs von Basra angefertigt, der Zuckerbäcker wurde, nachdem er in Unterhosen am Tor von Damaskus abgesetzt worden war; Schuhflicker sind sämtlich Mustafas und pflegen gevierteilte Leute einzunähen, zu denen sie mit verbundenen Augen geführt werden.
Jeder in einen Stein eingelassene Eisenring ist der Eingang zu einer Höhle, die nur auf den Zauberer und das kleine Feuer und die Zauberformel wartet, die die Erde zum Beben bringen wird. Alle eingeführten Datteln stammen von demselben Baum wie jene unglückselige Dattel, mit deren Schale der Kaufmann dem unsichtbaren Sohn des Dschinns das Auge ausschlug. Alle Oliven kommen von dem Baum jener frischen Frucht, über die der Herrscher der Gläubigen zufällig den Jungen den fingierten Prozeß gegen den betrügerischen Olivenhändler führen hörte; alle Äpfel haben etwas mit dem Apfel zu schaffen, der (zusammen mit zwei anderen) um drei Zechinen von dem Gärtner des Sultans erstanden wurde und den der große schwarze Sklave dem Kinde stahl. Alle Hunde erinnern an den Hund, in Wirklichkeit ein verzauberter Mensch, der auf den Ladentisch des Bäckers sprang und seine Pfote auf das falsche Geldstück setzte. Bei jedem Reis tauchte der Gedanke an den Reis auf, den die schreckliche Dame, die eine Ghule war, nur körnerweise picken konnte, weil sie nachts auf dem Friedhof schmauste. Sogar mein Schaukelpferd – dort steht es mit ganz und gar nach außen gewendeten Nasenlöchern, einem Zeichen von Blutdurst! – Sollte einen Pflock im Nacken haben, durch dessen Kraft es mit mir davonfliegen könnte, wie das hölzerne Pferd angesichts des ganzen Hofstaats seines Vaters mit dem Prinzen von Persien machte.
Ja, über jeden Gegenstand, den ich zwischen den oberen Zweigen meines Christbaumes erkenne, ist dieses feenhafte Licht ausgegossen! Wenn ich an den kalten, finsteren Wintermorgen bei Tagesanbruch im Bett aufwache und den weißen Schnee draußen durch den Frost auf der Fensterscheibe undeutlich wahrnehme, dann höre ich Dinarzade sprechen:
»Schwester, Schwester, wenn du noch wachst, dann bitte ich dich, die Geschichte des jungen Königs von den schwarzen Inseln zu beenden.«
Scheherazade erwidert darauf:
»Wenn mein Herr, der Sultan, mich noch einen Tag am Leben lassen will, will ich nicht nur diese beenden, sondern dir eine noch wunderbarere erzählen.«
Darauf geht der gnädige Sultan aus dem Gemach, ohne Befehl zur Hinrichtung zu geben, und wir atmen alle drei auf.
Auf dieser Höhe meines Baumes beginne ich einen ungeheuren Spuk wahrzunehmen, der zwischen den Blättern kauert. Vielleicht kommt er von diesen vielen Geschichten her, vielleicht ist er auch die Folge eines an Truthahn oder Pudding oder Fleischpastete verdorbenen Magens, lebhafter Phantasie und zu viel Arzneien. Er ist so außerordentlich undeutlich, daß ich nicht weiß, warum er so furchtbar ist – aber ich weiß, daß er es ist. Ich unterscheide bloß eine kolossale Menge gestaltloser Gegenstände, die auf einer ungeheuren Vergrößerung des Drahtgestells für die Soldaten aus der Schachtel aufgepflanzt zu sein scheinen. Das Ganze kommt langsam bis dicht an meine Augen heran und entweicht dann wieder in unermeßliche Fernen. Wenn es ganz nahe kommt, ist es am schlimmsten. In Verbindung damit tauchen Erinnerungen an unglaublich lange Winternächte auf; an ein frühes Zu-Bett-geschickt-Werden als Strafe für irgendein kleines Vergehen und ein Erwachen nach zwei Stunden, mit dem Gefühl, zwei Nächte lang geschlafen zu haben; an die schwere Hoffnungslosigkeit, daß der Morgen je wieder dämmern würde; und an die drückende Last eines bösen Gewissens.
Und jetzt sehe ich eine wunderbare Reihe kleiner Lichter vor einem großen grünen Vorhang sich ruhig aus dem Boden erheben. Jetzt ertönt eine Glocke – eine Zauberglocke, die noch jetzt ganz anders als alle anderen Glocken in meinen Ohren klingt – und Musik spielt zwischen einem Stimmengesumm und dem Duft von Orangenschalen und Öl. Nun befiehlt die Zauberglocke der Musik zu schweigen, der große grüne Vorhang geht majestätisch in die Höhe und die Vorstellung beginnt! Der treue Hund Montargis' rächt den Tod seines Herrn, der im Walde von Bondy heimtückisch ermordet worden ist. Ein humoristischer Bauer mit einer roten Nase und einem sehr kleinen Hut, den ich von Stund an als Freund in mein Herz schließe, bemerkt dazu, der Scharfsinn dieses Hundes wäre wirklich überraschend. Ich glaube, es war ein Kellner oder ein Hausknecht in einem Dorfgasthaus, aber es sind viele Jahre seitdem vergangen und ich weiß es nicht mehr genau. Dieser Witz jedoch wird bis an mein Lebensende frisch und unvergeßlich in meinem Gedächtnis leben und alle anderen Witze ausstechen. Oder jetzt erfahre ich unter bitteren Tränen, wie die arme Jane Shore, ganz in Weiß gekleidet und ihr braunes Haar lose herabhängend, hungernd durch die Straßen ging; oder wie George Barnwell den besten Onkel umbrachte, den je ein Mensch gehabt hat, und es nachher so bereute, daß man ihn hätte laufen lassen sollen. Da kommt rasch, um mich zu trösten, die Pantomime – ein verblüffendes Phänomen! Clowns werden aus geladenen Mörsern in den großen Leuchter geschossen, der wie ein helles Gestirn leuchtet; Harlekine, ganz mit Schuppen aus reinem Gold bedeckt, verrenken ihre Glieder und funkeln wie wunderbare Fische; Pantalon (den ich, ohne es für einen Verstoß gegen die schuldige Ehrerbietung zu halten, im Geiste mit meinem Großvater vergleiche) steckt glühendrote Schüreisen in die Tasche und ruft: »Jetzt kommt jemand!« oder beschuldigt den Clown des Diebstahls, indem er sagt: »Ich habe doch gesehen, wie du es tatest!« Alles verwandelt sich mit der größten Leichtigkeit in jeden beliebigen Gegenstand, und »Nichts ist, aber das Denken gibt ihm Gestalt.« Jetzt lerne ich auch zum erstenmal das traurige Gefühl kennen – es sollte sich später im Leben noch oft wiederholen daß ich am nächsten Tage unfähig bin, mich wieder in die langweilige Alltagswelt zurückzufinden. Ich möchte für immer in der glanzerfüllten Atmosphäre leben, die ich verlassen habe; ich bin in die kleine Fee mit ihrer Rute, gleich der Aushängestange eines himmlischen Barbiers, verliebt und sehne mich nach einer Feenunsterblichkeit mit ihr gemeinsam. Ach, sie tritt noch in vielen Gestalten vor mich hin, während mein Auge die Zweige des Christbaumes hinabwandert, aber sie geht ebensooft wieder und hat noch nie bei mir verweilen mögen!
Aus diesen wonnigen Erinnerungen heraus entsteht das Puppentheater vor meinen Augen – da ist es mit seiner vertrauten Bühne und den Damen mit den Federhüten in den Logen. Vielerlei Hantierungen mit Pappe und Leim und Gummi und Wasserfarben gehören dazu bei der Inszenierung von »Der Müller und seine Knechte« und »Elisabeth oder das sibirische Exil«. Zwar gibt es einige unangenehme Zufälle und Mißerfolge dabei; besonders zeigen der achtungswerte Kelmar und einige andere eine unvernünftige Neigung, an aufregenden Stellen des Dramas in den Knien schwach zu werden und zusammenzuknicken; aber es ist trotzdem eine Phantasiewelt von so reichem Gehalt, daß ich tief darunter auf meinem Christbaum finstere, schmutzige, wirkliche Theater bei Tage sehe, um die diese Erinnerungen sich wie frische Girlanden mit den seltensten Blumen schlingen und mich noch jetzt entzücken.
Aber horch! Die Weihnachtsmusikanten spielen auf der Straße, und sie wecken mich aus meinem Kinderschlaf. Welche Bilder knüpfen sich in meinem Geist an die Weihnachtsmusik, so wie ich sie auf dem Christbaum zur Schau gestellt finde? Vor allen anderen bekannt und sich von allen anderen weit entfernt haltend, sammeln sie sich um mein kleines Bett. Ein Engel, der zu einer Gruppe von Hirten auf dem Feld spricht; ein paar Wanderer, die mit den Augen am Himmel einem Stern folgen; ein Kindlein in einer Krippe; ein Knabe in einem weiten Tempel, der mit ernsten Männern spricht; eine feierliche Gestalt mit einem wilden und schönen Gesicht, die ein totes Mädchen an der Hand aufrichtet; wiederum die Gestalt, wie sie an einem Stadttor den Sohn einer Witwe auf seiner Bahre ins Leben zurückruft; eine Menschenmenge, die durch das geöffnete Dach in ein Zimmer blickt, wo er sitzt, und einen Kranken auf einem Bett an Seilen hinabläßt; wiederum er, wie er im Sturm auf dem Wasser zu einem Schiff hinwandelt; wiederum er, wie er am Meeresufer eine große Menge belehrt; wiederum er, mit einem Kinde auf dem Knie und anderen Kindern um ihn herum; wiederum er, wie er die Blinden sehen, die Stummen sprechen, die Tauben hören macht, wie er den Kranken Gesundheit, den Siechen Kraft, den Unwissenden Weisheit mitteilt; wiederum er, an einem Kreuze sterbend, von bewaffneten Soldaten bewacht, während tiefe Finsternis hereinbricht, die Erde zu wanken beginnt und nur eine Stimme sich vernehmen läßt: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Die Zweige des Baumes werden niedriger und reifer, und wiederum drängen sich die Weihnachtserinnerungen in dichter Schar. Schulbücher schießen empor. Da hängen Ovid und Virgil, jetzt in stummer Ruhe; die Dreisatzrechnung mit ihren kühlen, unverschämten Fragen, nun längst erledigt; Terenz und Plautus, jetzt nicht mehr in einem Theater von zusammengestellten mit Kerben und Tintenflecken bedeckten Pulten und Bänken gespielt. Höher oben sind Kricket-Schlaghölzer, Pfähle und Bälle sichtbar, um die noch der Duft des niedergetretenen Grases und der von der Abendluft gedämpfte Schall der Zurufe zu schweben scheint. Der Baum ist immer noch frisch und heiter. Wenn ich auch zur Weihnachtszeit nicht mehr nach Hause fahre, so wird es doch (dem Himmel sei Dank dafür!), solange die Welt besteht, Jungen und Mädels geben; und die fahren nach Hause! Dort tanzen und spielen sie auf den Zweigen meines Baumes – Gott segne sie in ihrer Fröhlichkeit – und mein Herz tanzt und spielt ebenfalls.
Und doch komme auch ich am Weihnachtsfest nach Hause. Wir tun es alle, oder sollten es doch tun. Wir kommen alle nach Hause, oder sollten nach Hause kommen, um Ferien zu nehmen – je länger, je besser – von der großen Schule, in der wir ständig an unseren arithmetischen Tafeln arbeiten. Was Besuche angeht – wo ist der Ort, wo wir nicht nach Belieben hingehen können, wo der Ort, wo wir nicht schon waren, wenn wir unserer Phantasie von unserem Christbaum aus freien Lauf lassen!
Auf in die Winterlandschaft. Viele sind auf dem Baum sichtbar! Über niedrigen, nebelbedeckten Boden hin geht es durch Moor und Sumpf langgestreckte Hügel hinan, die sich wie finstere Höhlen zwischen dichten Pflanzungen dahinwinden. Kaum sind die funkelnden Sterne sichtbar, und wir fahren weiter, bis wir auf breite Bergkuppen hinauskommen und schließlich, mit plötzlichem Verstummen, an einer Allee haltmachen. Die Torglocke gibt einen tiefen, fast unheimlichen Ton in der frostigen Luft; das Tor dreht sich in seinen Angeln, und während wir auf ein großes Haus zufahren, werden die schimmernden Lichter in den Fenstern größer, und die doppelte Reihe der Bäume scheint zu beiden Seiten feierlich zurückzuweichen, um uns Platz zu machen. Den ganzen Tag über hat von Zeit zu Zeit ein aufgeschreckter Hase diesen schneebedeckten Rasen gekreuzt; oder das ferne Trampeln einer Rotwildherde auf dem hartgefrorenen Boden hat für eine Minute das Schweigen gebrochen. Wenn wir die Tiere beobachten könnten, würden wir vielleicht ihre wachsamen Augen wie die eisigen Tautropfen auf den Blättern zwischen dem Farnkraut funkeln sehen; aber sie sind still, und alles ist still. Und so gelangen wir endlich an das Haus, während die Lichter ständig größer werden und die Bäume vor uns zurückweichen und sich hinter uns wieder zusammenschließen, als wollten sie uns den Rückweg abschneiden.
Wahrscheinlich herrscht ein Duft von gebratenen Kastanien und anderen guten Sachen die ganze Zeit über im Haus, denn wir erzählen uns Wintergeschichten – Geistergeschichten, wie sich das so gehört – rund um das Weihnachtsfeuer. Niemand von uns hat sich gerührt, ausgenommen um dem Feuer ein wenig näher zu rücken. Aber darauf kommt es nicht an. Wir traten ins Haus, und es ist ein altes Haus mit riesigen Kaminen, in denen das Holz auf altmodischen Feuerböcken auf dem Herd verbrannt wird. Von der Eichentäfelung der Wände aber blicken grimmige Porträts (einige darunter auch mit grimmigen Inschriften) finster und mißtrauisch herab. Wir sind ein Edelmann in mittleren Jahren und wir nehmen ein reichhaltiges Souper mit unserem Gastgeber und der Gastgeberin und den Gästen ein – es ist Weihnachtszeit und das alte Haus voller Gäste – und gehen dann zu Bett.
Unser Zimmer ist ein sehr altes Zimmer und mit Wandteppichen behängt. Das Porträt eines Kavaliers in Grün über dem Kamin will uns gar nicht gefallen. Die Decke weist große schwarze Balken auf und im Zimmer steht eine große schwarze Bettstelle, am Fußende von zwei großen schwarzen Figuren gestützt. Sie scheinen von zwei Gräbern in der alten freiherrlichen Kirche im Park gekommen zu sein, damit wir es besonders behaglich hätten. Aber wir sind kein abergläubischer Edelmann, und wir machen uns nichts daraus. Wir schicken also unseren Diener fort, verschließen die Tür und setzen uns im Schlafrock vor das Feuer, um über vielerlei nachzudenken. Schließlich gehen wir zu Bett. Aber mit dem Einschlafen will es nicht klappen. Wir werfen uns hin und her und können keinen Schlaf finden. Die ausgeglühten Scheite in dem Kamin flackern manchmal auf und lassen das Zimmer gespenstig erscheinen. Wider Willen blicken wir über die Bettdecke nach den beiden schwarzen Figuren und dem Kavalier in Grün hin – diesem verdächtig aussehenden Kavalier. In dem flackernden Licht scheinen sie näher zu kommen und wieder zurückzutreten, und obwohl wir durchaus kein abergläubischer Edelmann sind, so ist das doch nicht angenehm. Wir werden nervös – mehr und mehr nervös. Wir sagen zu uns selbst: »Das ist höchst albern; aber wir können das nicht aushalten. Wir wollen vorgeben, uns krank zu fühlen, und nach jemand läuten.« Wir wollen das gerade tun, als die verschlossene Tür aufgeht und ein junges Mädchen mit langem, blondem Haar und totenbleichem Gesicht hereintritt. Sie gleitet ans Feuer und setzt sich händeringend in den Sessel, den wir dort stehengelassen haben. Jetzt bemerken wir, daß ihre Kleider naß sind. Die Zunge klebt uns am Gaumen, und wir können nicht sprechen, doch wir beobachten das Mädchen genau. Ihre Kleider sind naß; an dem langen Haar klebt feuchte Erde; sie ist nach der Mode von vor zweihundert Jahren gekleidet, und an ihrem Gürtel hängt ein rostiger Schlüsselbund.
Nun, da sitzt sie also, und wir können nicht einmal ohnmächtig werden, so gespannt sind wir. Nach kurzer Zeit steht sie auf und probiert alle Schlösser im Zimmer mit den verrosteten Schlüsseln, die zu keinem passen wollen. Darauf richtet sie ihre Augen auf das Porträt des Kavaliers in Grün und sagt mit leiser, grauenerregender Stimme: »Die Hirsche wissen es!« Danach ringt sie wieder die Hände, geht am Bett vorüber und verläßt das Zimmer. Wir werfen uns hastig in unseren Schlafrock, ergreifen unsere Pistolen (wir reisen stets mit Pistolen) und wollen ihr folgen, als wir die Tür verschlossen finden. Wir drehen den Schlüssel um und blicken in die finstere Galerie hinaus, aber es ist niemand da. Wir machen uns auf und versuchen, unseren Diener zu finden. Das ist aber unmöglich. Wir gehen bis Tagesanbruch in der Galerie auf und ab. Dann kehren wir in unser verlassenes Zimmer zurück, schlafen ein und werden von unserem Diener (dem erscheint niemals etwas) und dem Sonnenschein geweckt.
Beim Frühstück haben wir nicht den geringsten Appetit, und die ganze Gesellschaft meint, wir sähen verdrießlich aus. Nach dem Frühstück gehen wir mit unserem Gastgeber durch das Haus. Darauf führen wir ihn vor das Porträt des Kavaliers in Grün, und da kommt alles heraus. Er hat eine junge Haushälterin betrogen, die einst in der Familie lebte und wegen ihrer Schönheit berühmt war. Sie ertränkte sich in einem Teich, und nach langer Zeit fand man ihren Leichnam, weil die Hirsche nicht von dem Wasser trinken wollten. Seitdem, flüstert man, geht sie um Mitternacht durch das Haus (besonders sucht sie das Zimmer auf, wo der Kavalier in Grün zu schlafen pflegte) und probiert die alten Schlösser mit den verrosteten Schlüsseln. Nun, wir erzählen unserem Gastgeber, was wir gesehen haben, und ein Schatten überfliegt seine Züge. Er bittet uns, Stillschweigen zu bewahren, und das tun wir auch. Jedoch ist die ganze Geschichte buchstäblich wahr, und wir haben das vor unserem Tod (denn wir sind jetzt längst gestorben) vielen wichtigen Persönlichkeiten gesagt.
Zahllos sind die alten Häuser mit widerhallenden Galerien, unheimlichen Prunkschlaf räumen und seit vielen Jahren unbenutzten Spukzimmern des Seitenbaus, durch die wir mit einem angenehmen Gruseln wandern und jeder beliebigen Menge von Geistern begegnen können. Freilich – die Bemerkung mag vielleicht nicht überflüssig sein – lassen sich die Geister in einige wenige Typen und Klassen einteilen, denn sie besitzen wenig Originalität, und es sind ausgetretene Pfade, auf denen sie »umgehen«. So kommt es vor, daß ein bestimmtes Zimmer einem bestimmten alten Herrenhaus, wo ein bestimmter böser Lord, Baron, Ritter oder Gentleman sich einst eine Kugel durch den Kopf gejagt hat, bestimmte Dielen im Fußboden aufweist, aus denen die Blutflecke durch keine Mittel zu entfernen sind. Man kann reiben und reiben, wie es der jetzige Besitzer getan hat, oder hobeln und hobeln, wie es sein Vater getan hat, oder scheuern und scheuern, wie es sein Großvater getan hat, oder mit starken Säuren brennen und brennen, wie es sein Urgroßvater getan hat – das Blut bleibt stets da, nicht röter und nicht blässer, nicht mehr und nicht weniger, stets genau das gleiche. So gibt es in einem anderen derartigen Haus eine Spuktür, die niemals offen bleiben will; oder eine andere Tür, die niemals geschlossen bleibt; oder ein gespenstiges Geräusch von einem Spinnrad oder einen Hammerschlag, einen Schritt, einen Schrei, einen Seufzer, ein Pferdegetrappel, ein Kettengeklirr. Oder sonst gibt es eine Turmuhr, die zur Mitternachtsstunde dreizehn schlägt, wenn das Haupt der Familie sterben soll; oder einen unbeweglichen schwarzen Schattenwagen, der zu solchen Zeiten immer von jemand gesehen wird, wie er in der Nähe des großen Tores im Stallhof wartet.
Auch kam es vor, daß Lady Mary auf Besuch in ein großes wildes Haus im schottischen Hochland fuhr und, müde von der langen Reise, früh zu Bett ging. Am nächsten Morgen beim Frühstück aber meinte sie arglos:
»Wie seltsam, daß gestern abend spät noch eine Gesellschaft in diesem abgelegenen Haus stattfand, ohne daß man mir vor dem Zubettgehen etwas davon gesagt hat!«
Daraufhin fragte jeder Lady Mary, was sie meinte. Und Lady Mary erwiderte:
»Nun, die ganze Nacht hindurch fuhren doch die Wagen um die Terrasse unter meinem Fenster herum und herum!«
Daraufhin wurde der Hausherr blaß und seine Lady desgleichen, und Charles Macdoodle of Macdoodle machte Lady Mary ein Zeichen, nicht weiterzusprechen, und schwieg. Nach dem Frühstück teilte Charles Macdoodle Lady Mary mit, es wäre eine Überlieferung in der Familie, daß diese rollenden Wagen auf der Terrasse einen Todesfall anzeigten. Und das bewahrheitete sich auch, denn zwei Monate später starb die Dame des Hauses. Und Lady Mary, die am Hof Ehrendame war, erzählte diese Geschichte oft der alten Königin Charlotte. Der alte König pflegte dabei stets zu sagen:
»Wie, wie? Was, was? Geister, Geister? Nichts da, nichts da!«
Und das wiederholte er in einem fort, bis er zu Bett ging.
Oder: Ein Freund von jemand, den die meisten von uns kennen, hatte einen Schulkameraden, mit dem er ausmachte, wenn die Seele nach ihrer Trennung vom Körper auf diese Erde zurückkehren könnte, sollte derjenige von ihnen beiden, der zuerst sterben würde, dem anderen wiedererscheinen. Im Laufe der Zeit verlor unser Freund diese Übereinkunft aus dem Gedächtnis. Die beiden Kameraden waren im Leben vorangekommen und ihre Pfade hatten sich weit voneinander getrennt. Aber viele Jahre später reiste unser Freund im Norden Englands und war für die Nacht in einem Gasthaus auf den Mooren von Yorkshire abgestiegen. Er hatte sich bereits zu Bett begeben und warf einen zufälligen Blick in das Zimmer. Da sah er im Mondlicht, auf ein Schreibpult am Fenster gelehnt und ihn fest anblickend, seinen alten Schulkameraden stehen! Als er die Erscheinung feierlich ansprach, erwiderte sie in einer Art Flüstern, aber ganz deutlich vernehmbar:
»Nähere dich mir nicht. Ich bin gestorben. Ich bin hier, um mein Versprechen einzulösen. Ich komme aus einer anderen Welt, deren Geheimnisse ich nicht enthüllen darf!«
Darauf wurde die ganze Gestalt undeutlicher und löste sich gleichsam im Mondschein auf.
Oder: Da war die Tochter des ersten Besitzers des malerischen elisabethanischen Hauses, das in unserer Nachbarschaft so berühmt war. Sie haben von ihr gehört? Nein? Nun, sie war ein schönes junges Mädchen, gerade siebzehn Jahre alt, und ging an einem Sommerabend im Zwielicht in den Garten, um Blumen zu pflücken. Nach wenigen Minuten kam sie, zu Tode erschrocken, in die Halle zu ihrem Vater gelaufen und sagte:
»Oh, lieber Vater, ich bin mir selbst begegnet!« Er nahm sie in seine Arme und sagte ihr, das wäre bloße Einbildung, aber sie erwiderte:
»O nein! Ich begegnete mir selbst auf dem Mittelgang, und ich war blaß und pflückte verwelkte Blumen, und ich wandte den Kopf und hielt sie in die Höhe!«
Und in derselben Nacht starb sie. Ein Bild, das ihre Geschichte darstellt, wurde begonnen, aber niemals vollendet, und man sagt, es hängt bis auf den heutigen Tag, die Vorderseite der Wand zugekehrt, irgendwo im Haus.
Oder: Der Onkel von meines Bruders Frau ritt an einem lauen Abend gegen Sonnenuntergang nach Hause, als er auf einem engen Feldweg in der Nähe seines Hauses gerade in der Mitte des Pfades eine Gestalt vor sich stehen sah.
»Weshalb steht dieser Mann im Mantel dort?« dachte er. »Will er von mir überritten werden?«
Aber die Gestalt blieb regungslos. Ein sonderbares Gefühl beschlich ihn, als er sie so still dastehen sah, aber er ritt, wenn auch in langsamerem Schritt, weiter. Als er ihr so nahe war, daß er sie fast mit seinem Steigbügel berührte, scheute sein Pferd und die Gestalt glitt in einer seltsamen, unirdischen Weise – rücklings und anscheinend ohne die Füße zu gebrauchen – die Böschung hinan und war verschwunden. Mit dem Ausruf: »Lieber Himmel! Das ist ja mein Vetter Harry aus Bombay!« gab der Onkel von meines Bruders Frau dem Pferd, das plötzlich über und über in Schweiß gebadet war, die Sporen und galoppierte, über das sonderbare Verhalten des Tieres verwundert, vor die Front des Hauses. Dort sah er dieselbe Gestalt, wie sie gerade zu dem langen Flügelfenster des zu ebener Erde gelegenen Salons hineinglitt. Er warf die Zügel einem Diener zu und eilte hinter der Gestalt in den Salon. Er traf seine Schwester allein darin an.
»Alice, wo ist mein Vetter Harry?«
»Dein Vetter Harry, John?«
»Ja. Aus Bombay. Ich begegnete ihm gerade auf dem Feldweg und sah ihn vor einem Augenblick hier hineingehen.«
Niemand hatte irgendein lebendiges Wesen gesehen, und wie sich später herausstellte, starb in dieser Stunde der Vetter in Indien.
Oder: Es gab eine gewisse gescheite alte Jungfer, die im Alter von neunundneunzig Jahren starb und bis zuletzt bei klarem Verstand war. Diese hat tatsächlich den Waisenknaben gesehen. Die Geschichte ist oft unrichtig wiedergegeben worden, aber hier steht wirklich die reine Wahrheit, denn es ist eine Geschichte aus unserer Familienüberlieferung und sie war eine Verwandte von uns. Der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, war jung gestorben, und aus diesem Grund hatte sie nie geheiratet, obwohl sich viele um sie beworben haben. Im Alter von vierzig Jahren nun, als sie immer noch eine ungewöhnlich schöne Frau war, reiste sie nach einem Besitztum in Kent, das ihr Bruder, ein Indien-Kaufmann, vor kurzem erworben hatte. Es ging die Sage, daß dieses Gut einst von dem Vormund eines jungen Knaben verwaltet worden war, der, selbst der nächste Erbe, den Knaben durch harte und grausame Behandlung ums Leben gebracht hatte. Sie aber hatte nichts davon gehört. Man behauptet, daß ein Käfig in ihrem Schlafzimmer stand, in den der Vormund den Knaben einzusperren pflegte. Aber es gab nichts dergleichen; nur ein Schrank stand darin. Sie ging zu Bett, schlug in der Nacht durchaus keinen Lärm und sagte am Morgen gleichmütig zu ihrem Mädchen, als es ins Zimmer trat:
»Wer ist das hübsche, verlassen aussehende Kind, das die ganze Nacht hindurch aus dem Schrank da herausgeblickt hat?«
Das Mädchen antwortete nur durch einen lauten Schrei und lief augenblicklich davon. Sie war überrascht; aber sie besaß ungewöhnlichen Mut. Sie kleidete sich an, ging nach unten und schloß sich mit ihrem Bruder ein.
»Walter«, sagte sie, »ich bin die ganze Nacht hindurch von einem hübschen, verlassen aussehenden Knaben gestört worden, der beständig aus dem Schrank in meinem Zimmer, den ich nicht aufkriege, hervorblickte. Das ist irgendein Blendwerk.«
»Ich fürchte nein, Charlotte«, sagte er, »denn es ist die Sage des Hauses. Es ist der Waisenknabe. Was tat er?«
»Er öffnete sacht die Schranktür«, erwiderte sie, »und blickte heraus. Bisweilen tat er einen Schritt oder zwei ins Zimmer. Bei dieser Gelegenheit rief ich ihm zu, um ihn zu ermutigen; aber er wich schaudernd zurück, kroch wieder hinein und schloß die Tür.«
»Der Schrank, Charlotte«, sagte ihr Bruder, »steht in keinerlei Verbindung mit irgendeinem anderen Teil des Hauses und ist vernagelt.«
Das war unbestreitbar richtig, und zwei Zimmerleute hatten einen ganzen Vormittag zu arbeiten, um ihn zu öffnen, damit man ihn untersuchen könnte. Da war sie denn überzeugt, daß sie den Waisenknaben gesehen hatte. Aber das Furchtbare an der Geschichte ist, daß er auch nacheinander dreien ihrer Neffen erschien, die alle jung starben. Jeder dieser drei Knaben kam zwölf Stunden, bevor die Krankheit bei ihm ausbrach, erhitzt nach Hause und sagte seiner Mama, er hätte unter einer bestimmten Eiche auf einer bestimmten Wiese mit einem fremden Jungen gespielt – einem hübschen, verlassen aussehenden Jungen, der sehr schüchtern war und ihm Zeichen machte. Die traurige Erfahrung, die sie machen mußten, belehrte dann die Eltern, daß dies der Waisenknabe war und daß das Leben des Kindes, das er sich zum Gespielen erkor, sicher zu Ende war.
Zahllos sind die deutschen Schlösser, wo wir allein dasitzen und auf das Gespenst warten. Wir werden in ein Zimmer geleitet, das für unseren Empfang verhältnismäßig behaglich hergerichtet wurde und in dem wir uns nach den Schatten umblicken, die das knisternde Feuer auf die kahlen Wände wirft. Wir fühlen uns sehr einsam, wenn der Wirt des Dorfgasthauses und seine hübsche Tochter sich zurückgezogen haben, nachdem sie vorher einen frischen Stoß Holz auf den Kamin gelegt und auf den kleinen Tisch zum Abendbrot kalten gebratenen Kapaun, Brot, Trauben und eine Flasche alten Rheinwein gesetzt haben. Als sie sich zurückziehen, schlagen die Türen hinter ihnen eine nach der anderen mit einem Getöse wie dumpfes Donnerrollen zu, und allein geblieben, machen wir in tiefer Nacht verschiedene übernatürliche Erfahrungen. Zahllos sind die behexten deutschen Studenten, in deren Gesellschaft wir näher ans Feuer heranrücken, während der Schuljunge im Winkel seine Augen groß und rund aufreißt und von dem Schemel, den er sich zum Sitz erkoren, herunterfällt, wenn der Wind zufällig die Tür aufreißt. Eine reiche Menge von solchen Früchten schimmert auf unserem Christbaum; noch fast an der Spitze fangen sie schon zu blühen an und reifen an allen Zweigen entlang abwärts.
Zwischen den Spielsachen und Phantasiegebilden, die auf den unteren Baumzweigen hängen – oft ebenso müßig und weniger rein –, mögen die Bilder für immer unverändert bleiben, die ich einst mit der süßen Weihnachtsmusik verknüpfte, die so sanft durch die Nacht tönte! Von den freundlichen Gedanken der Weihnachtszeit umgeben, möge die gütige Gestalt meiner Kindheit für immer weilen! In jeder Freude, die die Jahreszeit mit sich bringt, möge der helle Stern, der über dem armen Dach schimmerte, der Stern der ganzen Christenwelt sein! Verweile noch einen Augenblick, o dahinschwindender Baum, dessen tiefere Zweige für mich noch dunkel sind, und laß mich nochmals auf dich schauen! Ich weiß, es gibt leere Stellen auf deinen Zweigen, wo Augen, die ich einst geliebt habe, geleuchtet und gelächelt haben; und die jetzt nicht mehr sind. Aber weit oben sehe ich den, der das tote Mädchen wieder zum Leben erweckte, und Gott ist gut! Wenn in deinen noch nicht sichtbaren untersten Zweigen sich das Alter für mich verbirgt, o möge ich in grauen Haaren noch das Herz und das Vertrauen eines Kindes dieser Gestalt zuwenden!
Jetzt ist der Baum mit Gesang und Tanz und Fröhlichkeit geschmückt. Und sie sind willkommen. Unschuldige Freude möge stets willkommen sein unter den Zweigen des Christbaumes, die keinen finsteren Schatten werfen! Aber während er in den Boden sinkt, höre ich ein Flüstern durch die Blätter gehen:
»Dies zum Gedenken an das Gesetz der Liebe und Freundlichkeit, der Barmherzigkeit und des Mitleids. Dies zum Gedenken an mich!«
* * *