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In drei Kapiteln
»Mugby Junction«
»Schaffner, was ist das für ein Ort?«
»Station Mugby, Sir.«
»Ein windiger Ort!«
»Ja, meistens, Sir.«
»Und sieht höchst ungemütlich aus!«
»Ja, das tut es in der Regel, Sir.«
»Regnet es immer noch?«
»Es gießt, Sir.«
»Öffnet die Tür. Ich will aussteigen.«
»Sie haben hier drei Minuten Aufenthalt, Sir«, sagte der Schaffner, an dem die nassen Tropfen glitzerten. Er sah dabei beim Licht seiner Laterne auf das tränennasse Gesicht seiner Taschenuhr, während der Reisende ausstieg.
»Ich glaube, ich habe mehr. – Denn ich fahre nicht weiter.«
»Ich dachte, Sie hätten eine Fahrkarte bis zur Endstation, Sir?«
»Das stimmt. Aber ich werde den Rest unbenutzt lassen. Ich möchte mein Gepäck haben.«
»Kommen Sie bitte mit zum Gepäckwagen und zeigen Sie es mir, Sir. Seien Sie so freundlich, sich rasch danach umzusehen. Wir haben keinen Augenblick übrig.«
Der Schaffner lief eilig nach dem Gepäckwagen, und der Reisende lief hinter ihm her. Der Schaffner stieg hinein.
»Die beiden großen schwarzen Koffer in der Ecke, auf die das Licht Eurer Laterne fällt, die gehören mir.«
»Steht ein Name darauf, Sir?«
»Gebrüder Barbox.«
»Treten Sie bitte beiseite, Sir. Eins. Zwei. Fertig!«
Ein Schwenken der Laterne. Die Signallichter vorn wechselten bereits. Ein Aufschrei der Maschine. Der Zug war fort.
»Station Mugby!« sagte der Reisende, mit beiden Händen das wollene Tuch um seinen Hals hochziehend. »An einem stürmischen Morgen nach drei Uhr! Sehr schön!«
Er sprach mit sich selbst, denn es war sonst niemand da, mit dem er hätte sprechen können. Vielleicht hätte er es auch vorgezogen, mit sich selbst zu sprechen, auch wenn noch jemand dagewesen wäre. Wenn er mit sich selbst sprach, sprach er mit einem Mann zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig Jahren, der, wie ein vernachlässigtes Feuer, zu früh grau geworden war – einem Mann von nachdenklichem Wesen, mit einem brütend gesenkten Kopf und einer zurückhaltenden Stimme, die aus dem tiefsten Innern zu kommen schien – einem Mann, an dem mancherlei Zeichen verrieten, daß er viel allein gewesen war.
Er stand auf dem verlassenen Bahnsteig, und niemand nahm von ihm Notiz, als der Wind und der Regen, die angriffslustig über ihn herfielen.
»Gut«, sagte er, ihnen ausweichend. »Es ist mir ganz gleich, nach welcher Richtung ich mein Gesicht wende.«
So ging der Reisende auf der Station Mugby an einem stürmischen Morgen nach drei Uhr dorthin, wo ihn das Wetter hintrieb.
Nicht etwa, daß er ihm nicht hätte widerstehen können, wenn er gewollt hätte, denn als er bis zum Ende des Schutzdaches gekommen war (es ist auf der Station Mugby von beträchtlicher Länge) und in die schwarze Nacht hinausblickte, durch die der Sturm mit noch schwärzeren Schwingen wild dahinraste, machte er kehrt und schritt so standhaft in der schwierigen Richtung dahin wie vorher in der bequemeren. So ging der Reisende mit festem Schritt auf und ab, auf und ab, auf und ab. Er suchte nichts und fand es.
Es war ein Ort voll schattenhafter Gestalten in den dunklen Stunden unter den vierundzwanzig, diese Station Mugby. Geheimnisvolle Güterzüge, die mit Leichentüchern umhüllt waren und wie eine Reihe gespenstischer, riesiger Leichenwagen dahinglitten, schlichen schuldbewußt vor den wenigen brennenden Lampen davon, als ob ihre Last durch Verbrecherhand ein dunkles Ende gefunden hätte. Kohlenzüge von einem halben Kilometer Länge folgten ihnen wie Detektive, kamen hinterdrein, wenn sie sich in Bewegung setzten, hielten an, wenn sie hielten, und fuhren rückwärts, wenn sie rückwärts fuhren. Rotglühende Aschenregen fielen in diesem und jenem dunklen Gang auf die Erde nieder, als würden höllische Feuer geschürt; und zu gleicher Zeit ertönten Schreie und Seufzer und knirschende Laute, als litten die Verdammten das Höchstmaß ihrer Qual. In der Mitte klirrten eiserne Viehkäfige vorüber, in denen die Tiere mit gesenkten Köpfen dastanden, eins mit den Hörnern ins andere verstrickt, die Augen und die Mäuler vor Entsetzen gefroren: wenigstens hingen lange Eiszapfen (oder was so erschien) von ihren Lippen. In der Luft unbekannte Sprachen, die in roten, grünen und weißen Zeichen miteinander verhandelten. Auf einmal ein Erdbeben, von Donner und Blitz begleitet, das mit rasender Eile London zustrebte. Im nächsten Augenblick alles wieder ruhig, alles rostig, Wind und Regen die Herren von allem, die Lampen verlöscht, Station Mugby tot und undeutlich daliegend, den Mantel um den Kopf gehüllt, wie der sterbende Cäsar.
Während der späte Reisende auf und ab schritt, fuhr noch ein anderer, ein schattenhafter Zug an ihm vorüber, der nichts anderes war als der Zug eines Lebens. Aus welchem unergründlich tiefen Durchstich oder dunklen Tunnel er auch auftauchen mochte, er kam heran, ungerufen und ungemeldet, stahl sich über ihn hinweg und verschwand in der Dunkelheit. Hier ging ein trauriges Kind vorbei, das niemals eine Kindheit gehabt oder seine Eltern gekannt hatte, untrennbar von einem Jüngling, der seine namenlose Herkunft voll tiefer Bitterkeit empfand, mit einem Mann verknüpft, der seine besten Lebensjahre einer erzwungenen, ihm widerwärtigen und ihn bedrückenden Tätigkeit widmen mußte, an einen undankbaren Freund gekettet, der ein einstmals von ihm geliebtes Weib nach sich zog. Es folgten, mit manchem Geklirr und Getöse, dahinratternde Sorgen, finstere Gedanken, tief verwundene Enttäuschungen, langweilige Jahre, eine lange Folge von Mißtönen eines einsamen und unglücklichen Daseins.
»Gehören die Ihnen, Sir?«
Der Reisende wandte seine Augen von der trostlosen Öde ab, auf die sie starr gerichtet gewesen waren, und trat, von der Plötzlichkeit der Frage oder vielleicht ihrem zufälligen Passen zu seinen Gedanken überrascht, einige Schritte zurück.
»Oh! Ich war im Augenblick geistesabwesend. Ja. Ja. Diese beiden Koffer gehören mir. Seid Ihr ein Träger?«
»Ich kriege den Lohn eines Trägers, Sir. Aber ich bin der von den Lampen.«
Der Reisende sah ein wenig verwirrt aus.
»Wer sagtet Ihr, daß Ihr seid?«
»Der von den Lampen, Sir«, sagte der Mann und zeigte zur weiteren Erklärung ein öliges Tuch vor, das er in der Hand hielt.
»Verstehe, verstehe. Gibt es hier ein Hotel oder ein Gasthaus?«
»In nächster Nähe nicht, Sir. Es gibt einen Erfrischungsraum hier, aber+…« Der Lampenwärter schüttelte mit tiefernstem Gesichtsausdruck warnend den Kopf, was offenbar bedeutete: »Aber es ist ein Glück für Sie, daß er nicht offen ist.«
»Ich sehe, Ihr könntet ihn nicht empfehlen, wenn er zugänglich wäre?«
»Wenn er was wäre?«
»Offen.«
»Als bezahlter Angestellter der Gesellschaft«, sagte der Lampenwärter in vertraulichem Ton, »gehört es sich nicht für mich, über die Einrichtungen der Gesellschaft, ausgenommen Lampenöl und Putztücher, eine Meinung zu äußern; aber wenn ich als Mensch spreche, so möchte ich meinem Vater (wenn er wieder lebendig würde) nicht empfehlen, hinzugehen und zu probieren, was man ihm im Erfrischungsraum bieten würde. Wenn ich als Mensch spreche, so würde ich das nicht tun.«
Der Reisende nickte mit überzeugter Miene.
»Vermutlich kann ich in der Stadt ein Unterkommen finden? Es gibt hier doch eine Stadt?«
Der Reisende war nämlich, obwohl er im Vergleich mit den meisten Reisenden ein seßhafter Mensch war, bereits früher auf den Flügeln des Dampfes und des Stahls durch diese Station getragen worden, ohne jemals, wie man sich ausdrücken könnte, dort an Land gegangen zu sein.
»O ja, es gibt eine Stadt, Sir. Stadt genug auf jeden Fall, um darin ein Unterkommen zu finden. Aber«, und hier folgte er dem Blick des anderen nach seinem Gepäck, »dies ist eine sehr stille Zeit bei uns, Sir. Die stillste Zeit.«
»Keine Träger da?«
»Nun, Sir, sehen Sie«, erwiderte der Lampenwärter wiederum vertraulich, »sie gehen gewöhnlich, wenn das Gas ausgelöscht wird. So ist es. Und sie haben Sie anscheinend übersehen, weil Sie ans andere Ende des Bahnsteigs gegangen sind. Aber in etwa zwölf Minuten wird er wohl da sein.«
»Wer wird da sein?«
»Der Drei-Uhr-Zweiundvierziger, Sir. Er geht auf ein Nebengleis, bis der Schnellzug nach London vorüber ist, und dann« – hier nahm der Lampenwärter den Ausdruck einer unbestimmten Hoffnungsfreudigkeit an – »tut er alles, was in seiner Macht liegt.«
»Mir ist diese Einrichtung einigermaßen schleierhaft.«
»Das geht wohl jedem so, Sir. Es ist ein Parlamentszug Nach Parlamentsbeschluß mußte auf jeder Linie täglich wenigstens einmal ein Zug mit in der dritten Klasse besonders billigen Fahrpreisen verkehren., Sir. Und Sie müssen verstehen, ein Parlamentszug geht meistens auf ein Nebengleis. Aber wenn es die Umstände gestatten, so pfeift man ihn daraus hervor, und man pfeift so lange, bis er alles tut, was in seiner Macht liegt.«
Bei den letzten Worten hatte der Lampenwärter wiederum die Miene eines Menschen angenommen, der auf das beste hoffte. Darauf erklärte er, daß die diensttuenden Träger, da sie bei Eintreffen des fraglichen parlamentarischen Greises anwesend zu sein hatten, sich zweifellos zugleich mit dem Gaslicht einstellen würden. Bis dahin, falls dem Gentleman der Geruch von Lampenöl nicht zu unangenehm, andererseits aber die Wärme seines kleinen Aufenthaltsraumes willkommen wäre+… – Der Gentleman, der bereits tüchtig durchfroren war, nahm den Vorschlag augenblicklich an.
Es war eine schmierige kleine Kabine, mit einem Geruch wie im Inneren eines Walfischfängers. Aber in dem rostigen Kamin brannte ein helles Feuer, und auf dem Boden befand sich ein hölzernes Gestell mit frisch geputzten und angezündeten Lampen, die bereitstanden, um zu den Wagen getragen zu werden. Sie tauchten den Raum in helles Licht, und dies und die Wärme machten es begreiflich, daß die Kabine ein beliebter Aufenthaltsort war. Denn das bezeugten zahlreiche Eindrücke von Manchesterhosen auf einer Bank neben dem Feuer und viele runde Schmutzflecke von gebückten Manchesterschultern an der Wand dahinter. Auf einigen Gesimsen standen eine Menge Lampen und Ölkannen unordentlich durcheinander, und zwischen ihnen befand sich eine duftende Sammlung von dem, was wie die Taschentücher der ganzen Lampenfamilie aussah.
Als sich Gebrüder Barbox (so wollen wir den Reisenden nach der Aufschrift seines Gepäcks nennen) auf der Bank niederließ und seine Hände, von denen er jetzt die Handschuhe abgestreift hatte, am Feuer wärmte, warf er einen Blick auf ein kleines, vielfach mit Tinte beflecktes hölzernes Pult an der Seite, auf dem sein Ellbogen ruhte. Darauf lagen einige Fetzen groben Papiers und eine altmodische Stahlfeder in sehr heruntergekommenen und kritzeligen Verhältnissen.
Nachdem er die Papierfetzen betrachtet hatte, wandte er sich unwillkürlich seinem Wirt wieder zu und sagte mit einer gewissen Rauheit:
»Ihr seid doch nicht etwa ein Dichter, Mann?«
Der Lampenwärter sah zweifellos nicht so aus, wie man sich einen Dichter gewöhnlich vorstellt, während er so in bescheidener Haltung dastand und seine kurze, dicke Nase mit einem so außerordentlich öligen Taschentuch rieb, daß man hätte denken können, er verwechsle sich selbst mit einem seiner Pflegebefohlenen. Er war ein kleiner Mann in ungefähr demselben Alter wie Gebrüder Barbox und seine Gesichtszüge waren in sonderbarer Weise in die Höhe gezogen, als würden sie von den Wurzeln seiner Haare angezogen. Er hatte eine stark glänzende, durchsichtige Haut, was vermutlich von der ständigen Berührung mit Öl herkam; und da sein anziehendes Haar, das kurz geschnitten und grau gesprenkelt war, starr in die Höhe stand, als würde es seinerseits von einem unsichtbaren Magneten angezogen, so sah sein Scheitel einem Lampendocht nicht unähnlich.
»Aber natürlich geht mich das nichts an«, sagte Gebrüder Barbox. »Das war eine ungehörige Bemerkung von mir. Es steht Euch frei, zu sein, was Ihr wollt.«
»Es gibt Menschen, Sir«, bemerkte der Lampenwärter in entschuldigendem Ton, »die das sind, was sie nicht sein wollen.«
»Das weiß niemand besser als ich«, seufzte der andere. »Ich bin mein ganzes Leben lang gewesen, was ich nicht sein wollte.«
»Als ich zuerst anfing«, fuhr der Lampenwärter fort, »kleine komische Lieder zu verfassen+…«
Gebrüder Barbox sah ihn mit großem Unwillen an.
»… kleine komische Lieder zu verfassen und – was noch schwieriger war – sie hinterher zu singen«, sagte der Lampenwärter, »ging mir das damals ganz und gar gegen den Strich.«
Da bei diesen Worten etwas, was nicht bloß Öl war, in den Augen des Lampenwärters leuchtete, wandte Gebrüder Barbox die seinigen ein wenig verwirrt ab, blickte ins Feuer und setzte einen Fuß auf die oberste Stange des Kamingitters.
»Weshalb tatet Ihr es dann?« fragte er nach einer kurzen Pause. Die Worte kamen unvermittelt genug heraus, waren aber doch in einem sanfteren Ton gesprochen. »Wenn Ihr es nicht tun wolltet, weshalb tatet Ihr es dann? Wo habt Ihr sie gesungen? Im Wirtshaus?«
Worauf der Lampenwärter die sonderbare Erwiderung gab:
»Am Bett.«
In diesem Augenblick, während der Reisende fragend nach ihm hinsah, fuhr Station Mugby plötzlich empor, erbebte heftig und öffnete ihre Gasaugen.
»Er ist angekommen!« rief der Lampenwärter aufgeregt. »Was in seiner Macht liegt, das ist manchmal mehr und manchmal weniger; aber beim heiligen Georg, es liegt in seiner Macht, heute abend hier einzutreffen!«
Die Aufschrift »Gebrüder Barbox«, die in großen weißen Buchstaben auf zwei schwarzen Kofferdeckeln zu lesen war, rollte nach ganz kurzer Zeit auf einem Karren durch eine schweigend daliegende Straße. Bald stand der Eigentümer der Aufschrift auf der Straße und wartete, vor Kälte schauernd, eine halbe Stunde lang, während er die Schläge des Trägers gegen die Gasthaustür erst die ganze Stadt und zuletzt auch die Leute im Gasthaus aufweckten. Dann konnte er sich in die dumpfe Luft eines festverschlossenen Hauses hineintasten und tastete kurz darauf zwischen den Laken eines engen Bettes umher, das extra für ihn gekühlt worden zu sein schien, als es zuletzt gemacht worden war.
»Sie entsinnen sich meiner, Jackson junior?«
»Wessen sollte ich mich entsinnen, wenn nicht Ihrer? Sie sind meine erste Erinnerung. Sie waren es, die mir sagte, daß dies mein Name wäre. Sie waren es, die mir sagte, daß an jedem zwanzigsten Dezember mein Leben einen Jahresbußtag hätte, den man Geburtstag nennt. Meiner Ansicht nach war diese letztere Mitteilung wahrer als die erste!«
»Wie sehe ich aus, Jackson junior?«
»Sie sind das ganze Jahr hindurch wie ein tötender Eishauch für mich. Sie häßliches, dünnlippiges, tyrannisches, unwandelbares Weib mit einer wächsernen Maske. Sie sind wie der Teufel für mich; am meisten, wenn Sie mich Religion lehren, denn Sie bewirken, daß ich sie verabscheue.«
»Sie entsinnen sich meiner, Mr. Jackson junior?«
Eine andere Stimme aus einer anderen Richtung.
»Mit tiefster Dankbarkeit, Sir. Sie waren der Strahl der Hoffnung und des glückhaften Strebens in meinem Leben. Als ich an Ihrem Kursus teilnahm, glaubte ich, daß ich ein großer Arzt werden würde, und ich fühlte mich fast glücklich – obwohl ich immer noch mit jener entsetzlichen Maske allein zu Hause lebte und jeden Tag schweigend und gezwungenermaßen mit der Maske vor mir aß und trank. Wie es von meiner Erinnerung an und meine ganze Schulzeit hindurch gewesen ist.«
»Wie sehe ich aus, Mr. Jackson junior?«
»Für mich sind Sie wie ein höheres Wesen. Sie erscheinen mir wie die Natur selbst, die sich mir zu enthüllen beginnt. Ich höre Sie wieder, wie ich als einer aus der ehrfurchtstillen Menge junger Männer vor Ihnen sitze, die unter dem mitreißenden Eindruck Ihrer Erscheinung und Ihres Wissens von Begeisterung entflammt werden, und Sie bringen die einzigen Freudentränen in meine Augen, die je darin standen.«
»Sie entsinnen sich meiner, Mr. Jackson junior?«
Eine knarrende Stimme aus einer ganz anderen Richtung.
»Nur zu gut. Sie erschienen eines Tages wie ein Dämon in meinem Leben und verkündeten mir, daß es plötzlich eine ganz andere Richtung einschlagen müsse. Sie wiesen mir meinen mühevollen Sitz in der Galeere der Gebrüder Barbox an. (Wann sie gelebt haben, wenn es je der Fall war, ist mir unbekannt; es existierte nichts mehr von ihnen als der Name, als ich mich zum Ruder niederbückte.) Sie sagten mir, was ich zu tun hätte und was ich dafür bezahlt bekäme; später, nach Jahren, sagten Sie es mir wieder, als ich für die Firma unterzeichnen sollte, als ich ein Teilhaber wurde, als ich die Firma selbst wurde. Ich weiß nicht mehr davon.«
»Wie sehe ich aus, Mr. Jackson junior?«
»Bisweilen glaube ich, Sie gleichen meinem Vater. Sie sind hart genug und kalt genug, einen leiblichen Sohn so erzogen zu haben. Ich sehe Ihre schmale Gestalt, Ihren enganliegenden braunen Anzug und Ihre kurzgeschorene braune Perücke; aber auch Sie tragen eine wächserne Maske bis zu Ihrem Tod. Es kommt niemals vor, daß Sie sie entfernen – es trifft sich niemals so, daß sie von selbst abfällt – und mehr weiß ich nicht von Ihnen.«
Dieses ganze Zwiegespräch hielt der Reisende mit sich selbst, während er frühmorgens am Fenster saß, so wie er am Abend vorher auf der Station mit sich selbst geredet hatte. Und hatte er da in der Dunkelheit wie ein Mann ausgesehen, der gleich einem vernachlässigten Feuer zu früh grau geworden ist, so lag jetzt im Sonnenlicht ein noch tieferes Grau auf ihm, wie ein Feuer, dessen Schein vor dem Glanz der Sonne verblaßt.
Die Firma Gebrüder Barbox war irgendein Schößling oder wildwachsender Zweig an dem Notar-und-Wechselmakler-Baum gewesen. Sie hatte sich noch vor den Tagen von Jackson junior den Ruf besonderer Habgier zugezogen, und dieser Ruf war an ihr und an ihm haften geblieben. So wie er nach und nach in den Besitz der finsteren Höhle im Winkel eines Hofes in der Lombard Street gekommen war, wo die Inschrift Gebrüder Barbox auf den schmutzigen Fenstern sich viele Jahre lang täglich zwischen seine Blicke und den Himmel drängte, so war er unmerklich ein Mann geworden, dem jeder mißtraute, den man bei jedem Geschäft, an dem er beteiligt war, ganz genau auf seine Verpflichtungen festlegen mußte, dessen Wort niemals ohne seine Unterschrift galt, vor dem alle Kaufleute offensichtlich auf der Hut waren. Diesen Ruf hatte er sich nicht durch seine eigene Handlungsweise zugezogen. Es war, als ob der ursprüngliche Barbox sich auf dem Fußboden des Kontors ausgestreckt hätte, Jackson junior schlafend dorthin hätte bringen lassen und eine Seelenwanderung und einen Austausch der Personen mit ihm vorgenommen hätte. Zu dieser Entdeckung kam noch der Verrat der einzigen Frau, die er je geliebt hatte, und der Verrat des einzigen Freundes, den er je gehabt hatte: sie verließen ihn und heirateten sich. Und alles das vollendete, was seine früheste Erziehung begonnen hatte. Er wich, scheu geworden, in die Gestalt von Barbox zurück und erhob sein Haupt und sein Herz nie wieder.
Aber in einer wichtigen Beziehung machte er sich schließlich frei. Er zerbrach das Ruder, an das er so lange gefesselt gewesen war, und versenkte die Galeere. Er kam dem allmählichen Verfall eines alten, im hergebrachten Geleise geführten Geschäfts zuvor, indem er die Initiative ergriff und sich seinerseits davon zurückzog. Es blieb ihm genug zum Leben (wenn auch schließlich nicht zuviel), und so löschte er denn die Firma Gebrüder Barbox von den Seiten des Adreßbuchs und der Oberfläche der Erde und ließ nichts von ihr zurück als ihren Namen auf zwei Reisekoffern.
»Denn man muß einen Namen haben, an den sich die Leute halten können, wenn man umhergeht«, erklärte er der Hauptstraße von Mugby durch das Gasthausfenster hindurch, »und dieser Name war wenigstens früher einmal wirklich. Dagegen Jackson junior! – Ganz abgesehen davon, daß es ein traurig satirischer Spitzname für den alten Jackson ist.«
Er nahm seinen Hut und ging aus. Er kam gerade zurecht, um auf der entgegengesetzten Straßenseite einen Mann in Manchesterhosen dahingehen zu sehen. Dieser trug sein Mittagsmahl in einem Bündel, das ruhig hätte größer sein können, ohne daß er dadurch in den Verdacht der Schlemmerei gekommen wäre, und lief mit großen Schritten der Station zu.
»Da ist der Lampenwärter«, sagte Gebrüder Barbox. »Und überdies+…«
Es war zweifellos lächerlich, daß ein so ernster und verschlossener Mensch, der außerdem erst seit drei Tagen von einer täglichen Plackerei befreit war, auf der Straße stand und sich in tiefem Nachsinnen über komische Lieder das Kinn rieb.
»An einem Bett?« sagte Gebrüder Barbox übellaunig. »Singt sie an einem Bett? Weshalb an einem Bett, wenn er nicht betrunken zu Bett geht? So wird's wohl auch sein. Aber was geht das mich an? Ich will einmal zusehen. Station Mugby, Station Mugby. Wo soll ich nun hingehen? Wie es mir gestern abend einfiel, als ich aus einem unruhigen Schlaf im Abteil erwachte und mich hier fand, kann ich von hier aus überall hingehen. Wohin soll ich nun gehen? Ich denke, ich sehe mir erst einmal die Station bei Tageslicht an. Ich habe ja keine Eile, und vielleicht gefällt mir die eine Linie besser als eine andere.«
Aber da waren so viele Linien. Wenn man von einer Brücke auf der Station auf sie niederblickte, schien es, als hätten die hier zusammentreffenden Gesellschaften eine große industrielle Ausstellung der Arbeiten von ungeheuer großen Bodenspinnen, die Eisen spannen, veranstaltet. Und dann gingen viele Linien so wunderbare Wege und kreuzten und umwanden einander derartig, daß das Auge ihnen nicht folgen konnte. Und dann schienen einige mit der festen Absicht loszuziehen, fünfhundert Meilen zurückzulegen, aber auf einmal gaben sie es an einer unscheinbaren Barriere auf oder schlüpften in eine Werkstatt hinein. Andere wieder gingen wie Betrunkene eine kurze Strecke ganz gerade und machten dann plötzlich überraschend kehrt und kamen wieder zurück. Manche standen so voller Kohlenkarren, manche waren so von Karren voller Fässer versperrt, manche so von Karren voller Schotter besetzt, manche so von mit Rädern versehenen Gegenständen, die wie ungeheure Garnwickel aussahen, erfüllt, während andere so blitzblank und wieder andere so voll Rost und Asche und von ausgedienten Karren besetzt waren, die ihre Beine in die Luft streckten (sie sahen dabei sehr ihren Herren zur Streikzeit ähnlich), daß weder Anfang noch Mitte noch Ende des Durcheinanders abzusehen war.
Gebrüder Barbox stand verwirrt auf der Brücke und fuhr sich mit der rechten Hand über die Linien auf seiner Stirn, die sich, während er hinabblickte, vervielfältigten, so, als ob die Eisenbahnlinien auf dieser empfindlichen Platte photographiert würden. Auf einmal vernahm man in der Ferne Glockenläuten und Pfeifsignale. Darauf sprangen puppenartige Menschenköpfe aus entfernten Häuschen hervor und sprangen wieder zurück. Darauf begannen riesige, aufrecht stehende hölzerne Rasiermesser die Atmosphäre zu rasieren. Darauf begannen verschiedene Lokomotiven in verschiedenen Richtungen zu schreien und in Erregung zu geraten. Darauf fuhr auf einer Linie ein Zug ein. Darauf erschienen auf einer anderen zwei Züge, die nicht einfuhren, sondern außerhalb hielten. Darauf brachen einige Stückchen von den Zügen ab. Darauf geriet ein um sich schlagendes Pferd mit ihnen in Streit. Darauf teilten die Lokomotiven die Stückchen von den Zügen unter sich auf und liefen mit ihnen davon.
»Ich bin mir durch alles dies noch nicht klarer über meinen nächsten Schritt geworden. Aber habe ich ja auch keine Eile. Es zwingt mich nichts, heute oder morgen einen Entschluß zu fassen. Jetzt will ich einen Spaziergang machen.«
Es fügte sich so (vielleicht war es auch Absicht gewesen), daß der Spaziergang nach dem Bahnsteig, wo er abgestiegen war, und nach dem Häuschen des Lampenwärters führte. Aber der Lampenwärter war nicht da. Ein Paar Manchesterschultern schmiegten sich in einen der Eindrücke an der Wand neben dem Kamin des Lampenwärters, aber sonst war der Raum leer. Als er wieder zurückging, um die Station zu verlassen, erfuhr er den Grund dieser Abwesenheit. Er sah den Lampenwärter auf der entgegengesetzten Linie, wie er auf dem Dach eines Zuges von Wagen zu Wagen sprang und angezündete Lampen, die ihm von einem Gehilfen von unten her zugeworfen wurden, in Empfang nahm.
»Er ist beschäftigt. Sicherlich hat er heute morgen nicht viel Zeit, um komische Lieder zu verfassen oder zu singen.«
Die Richtung, die er jetzt verfolgte, führte aufs freie Feld. Dabei hielt er sich in nächster Nähe einer großen Eisenbahnlinie, von wo er auch andere stets im Auge behalten konnte.
»Ich bin halb und halb gesinnt«, sagte er zu sich selbst, indem er umherblickte, »an diesem Punkt die Frage der Weiterreise zu entscheiden. Ich will mir diesen oder jenen Schienenstrang aussuchen und dabei bleiben. Hier draußen sondern sie sich von der wirren Masse ab und gehen jeder seinen Weg.«
Er stieg einen niedrigen, langgestreckten Hügel hinauf und kam an ein paar Häuschen. Dort blickte er um sich in einer Art, wie man es von einem sehr zurückhaltenden Mann, der sich niemals zuvor in seinem Leben umgeblickt hatte, erwarten konnte, und sah sechs bis acht Kinder, die lustig lärmend und sich drängend aus einem der Häuschen herauskamen und sich zerstreuten. Aber nicht, ohne daß sie sich zuvor sämtlich an der kleinen Gartentür umgedreht und Kußhändchen zu einem Gesicht am oberen Fenster geschickt hatten: ein ganz niedriges Fenster, obwohl es das obere war, denn das Häuschen hatte nur ein Stockwerk mit einem Zimmer über dem Boden.
Nun, daß die Kinder dies taten, darin lag nichts weiter Besonderes; daß sie es aber für ein Gesicht taten, das auf dem Sims des offenen Fensters lag und ihnen horizontal zugekehrt war, und offenbar nur ein Gesicht, das war etwas Bemerkenswertes. Er blickte noch einmal zu dem Fenster empor. Aber er sah nichts als ein sehr schmächtiges, wenn auch sehr freundlich und heiter aussehendes Gesicht, das auf einer Wange auf dem Fenstersims lag. Das zarte, lächelnde Gesicht eines Mädchens oder einer Frau. Umrahmt von langem, glänzendem, braunem Haar, das von einem um das Kinn geschlungenen hellblauen Band zusammengehalten wurde.
Er setzte seinen Weg fort, kehrte wieder um, ging abermals an dem Fenster vorbei und blickte verstohlen wieder danach empor. Alles wie vorher. Er schlug einen gewundenen Seitenweg oben auf dem Hügel ein – sonst hätte er den Hügel wieder hinabsteigen müssen – und machte, die Häuschen stets im Auge behaltend, einen weiten Bogen, so daß er wieder auf die Hauptstraße kam und noch einmal an dem Häuschen vorbeigehen mußte. Noch immer lag das Gesicht auf dem Fenstersims, aber nicht mehr so sehr gegen ihn geneigt. Und jetzt nahm er auch ein Paar zarte Hände wahr. Sie bewegten sich, als spielten sie irgendein Musikinstrument, und doch konnte er nicht vernehmen, daß sie einen Ton hervorbrachten.
»Station Mugby muß der verrückteste Ort in ganz England sein«, sagte Gebrüder Barbox zu sich selbst, während er den Hügel hinabging. »Das erste, was ich hier finde, ist ein Eisenbahnträger, der komische Lieder verfaßt, die er an seinem Bett singt. Das zweite, was ich hier finde, ist ein Gesicht und ein Paar Hände, die ein unhörbares Musikinstrument spielen!«
Es war ein schöner, sonniger Tag Anfang November, die Luft war klar und belebend, und die Landschaft lag in bunter Farbenpracht da. Die wenigen Farben in dem Hof an der Lombard Street in der City von London hatten alle einen dunklen Ton gehabt. Bisweilen, wenn das Wetter an anderen Stellen wirklich sehr schön war, konnten sich die Bewohner jener Zelte an ein oder zwei pfeffer-und-salzfarbenen Tagen erfreuen, aber gewöhnlich sah ihre Atmosphäre schiefergrau oder schnupftabakbraun aus.
Er genoß seinen Spaziergang so sehr, daß er ihn am nächsten Morgen wiederholte. Er war ein wenig früher an dem Häuschen als am Tage zuvor, und er konnte hören, wie die Kinder oben sangen und dabei im Takt in die Hände klatschten.
»Und doch habe ich wieder keinen Ton von einem Musikinstrument vernommen«, sagte er zu sich selbst, während er an der Ecke lauschte, »und dabei sah ich im Vorbeigehen wiederum die spielenden Hände. Was singen die Kinder bloß? Sie können doch, wahrhaftiger Gott, nicht das Einmaleins singen?«
Und doch war dies der Fall, und sie sangen es mit dem größten Genuß. Das geheimnisvolle Gesicht besaß eine Stimme, die gelegentlich einen neuen Einsatz angab oder die Kinder korrigierte. Sie sang so fröhlich, daß es eine Lust war zuzuhören. Schließlich hörte der Gesang auf, und man vernahm ein vielfältiges Murmeln von jungen Stimmen. Darauf folgte ein kurzes Lied, das, wie er hören konnte, von dem laufenden Monat handelte und von der Arbeit, die er für den Bauer in Feld und Hof mit sich brachte. Dann gab es ein Getrappel von kleinen Füßen, und die Kinder kamen rufend und sich drängend heraus, wie es am Tag zuvor gewesen war. Und wieder, wie am Tag zuvor, drehten sie sich alle an der Gartentür um und schickten Kußhändchen – offenbar zu dem Gesicht auf dem Fenstersims hinauf, obwohl Gebrüder Barbox es von seiner versteckten Ecke aus, die ihm bloß einen geringen Überblick bot, nicht sehen konnte.
Aber als die Kinder sich zerstreuten, schnitt er einem kleinen Nachzügler – einem Jungen mit braunem Gesicht und flachsfarbenem Haar – den Weg ab und sagte zu ihm:
»Komm einmal her, Kleiner. Sage mir, wessen Haus ist das?«
Der Junge, der einen schwärzlichen Arm quer vor seine Augen hielt, halb aus Schüchternheit und halb aus Verteidigungsbereitschaft, sagte hinter seinem Ellbogen hervor:
»Phoebes Haus.«
»Und wer«, sagte Gebrüder Barbox, nicht weniger verlegen als der Junge, »ist Phoebe?«
Worauf der Junge antwortete:
»Nun, eben Phoebe.«
Der kleine, aber scharfe Beobachter hatte den Fragenden genau betrachtet und wußte jetzt, was er von ihm zu halten hatte. Er ließ den Arm sinken und nahm einen gewissen überlegenen Ton an, als habe er die Entdeckung gemacht, es mit einem Mann zu tun zu haben, der in der Kunst der höflichen Unterhaltung noch unerfahren war.
»Phoebe«, sagte der Kleine, »kann niemand sonst als Phoebe sein. Nicht wahr?«
»Ja, das scheint mir auch so.«
»Nun also«, erwiderte der Kleine, »weshalb haben Sie mich dann gefragt?«
Da Gebrüder Barbox es für angebracht hielt, seine Stellung zu wechseln, ging er auf einen neuen Punkt über.
»Was macht ihr dort? Dort oben in dem Zimmer mit dem offenen Fenster. Was macht ihr dort?«
»Lule«, sagte der Kleine.
»Was?«
»Lu-u-ule«, wiederholte der Kleine mit erhobener Stimme, das Wort lang dehnend. Dabei sah er den Fremden starr an und sprach mit großem Nachdruck, als wollte er sagen: »Wozu sind Sie denn erwachsen, wenn Sie solch ein Esel sind, daß Sie mich nicht verstehen können?«
»Ach so! Schule, Schule«, sagte Gebrüder Barbox. »Ja, ja, ja. Und Phoebe gibt euch Unterricht?«
Der Junge nickte.
»Guter Junge.«
»Haben Sie es nun verstanden?« fragte der Kleine.
»Ja, jetzt habe ich es verstanden. Was würdest du mit einem Zweipencestück tun, wenn ich es dir gäbe?«
»Mir was dafür kaufen.«
Da die niederschmetternde Raschheit dieser Antwort ihm nichts übrigließ, woran er sich hätte anklammern können, zog Gebrüder Barbox mit sehr wenig gutem Willen das Zweipencestück hervor und ging gedemütigt davon.
Aber da er das Gesicht auf dem Fenstersims wahrnahm, als er an dem Häuschen vorüberkam, grüßte er mit einer Gebärde zu ihm hinauf, die kein Nicken, keine Verbeugung, kein Hutabnehmen, sondern ein mißtrauischer Kompromiß oder ein Kampf mit allen dreien war. Die Augen in dem Gesicht schienen belustigt oder erfreut oder beides zu sein, und die Lippen sagten mit bescheidener Freundlichkeit:
»Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.«
»Ich glaube, ich muß noch eine Zeitlang in Mugby bleiben«, sagte Gebrüder Barbox mit tiefem Ernst zu sich selbst, nachdem er auf dem Rückweg noch einmal haltgemacht hatte, um an der Stelle, wo sie so ruhig auseinandergingen, die verschiedenen Eisenbahnlinien zu betrachten. »Ich kann noch zu keinem Entschluß kommen, welchen Schienenstrang ich wählen soll. Ich muß mich wirklich erst ein wenig an die Station gewöhnen, ehe ich mich entscheiden kann.«
Infolgedessen teilte er im Gasthaus mit, daß er »vorläufig dabliebe«, und benutzte diesen Abend und den nächsten Morgen und wieder den nächsten Abend und den übernächsten Morgen, um seine Bekanntschaft mit dem Eisenbahnknotenpunkt zu vertiefen. Er begab sich an die Station, mischte sich unter die Leute dort, sah sich alle Linien an und begann sich für die Ankunft und Abfahrt der Züge zu interessieren. Anfangs steckte er oft seinen Kopf in das kleine Häuschen des Lampenwärters hinein, aber er fand den Lampenwärter niemals darin. Ein oder zwei Paar Manchester-Schultern waren gewöhnlich, über das Feuer gebückt und bisweilen ein zusammengeklapptes Messer und ein Stück Brot und Fleisch vor sich, darin anwesend. Aber die Antwort auf seine Frage: »Wo ist der Lampenwärter?« war entweder, daß er sich »auf der anderen Seite der Linie« befand oder daß gerade seine Freizeit war, und im letzteren Fall wurde er meist einem anderen Lampenwärter vorgestellt, der nicht sein Lampenwärter war. Jedoch war er jetzt nicht so sehr darauf erpicht, den Lampenwärter zu Gesicht zu bekommen, als daß er die Enttäuschung nicht hätte hinnehmen können. Auch widmete er sich nicht so ausschließlich seinem ersten Vorhaben, die Station zu studieren, als daß er seine Spaziergänge darüber vernachlässigt hätte. Im Gegenteil, er unternahm jeden Tag eine Wanderung, und immer war es derselbe Weg, den er einschlug. Aber das Wetter war wieder kalt und naß geworden, und das Fenster war niemals offen.
Endlich, nach einigen Tagen, trat wieder schönes, klares, frisches Herbstwetter ein. Es war an einem Sonnabend. Das Fenster stand offen, und die Kinder waren fort.
»Guten Tag«, sagte er zu dem Gesicht, und diesmal nahm er tatsächlich ganz richtig den Hut ab.
»Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.«
»Es freut mich, daß Sie wieder einen hellen Himmel zum Beschauen haben.«
»Ich danke Ihnen, Sir. Es ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Sie sind krank, fürchte ich?«
»Nein, Sir. Ich bin bei sehr guter Gesundheit.«
»Aber liegen Sie nicht stets?«
»O ja, ich liege stets, weil ich mich nicht aufsetzen kann. Aber ich bin nicht krank.«
Die lachenden Augen schienen über seinen großen Irrtum im höchsten Grade belustigt zu sein.
»Würde es Ihnen sehr viel Mühe machen hereinzukommen, Sir? Von diesem Fenster aus hat man eine schöne Aussicht. Und Sie würden sehen, daß ich gar nicht krank bin – da Sie doch die Güte haben, sich dafür zu interessieren.«
Dies war gesagt, um ihm zu helfen, da er unentschlossen, aber offenbar mit dem Wunsch einzutreten, dastand und seine mißtrauische Hand auf der Klinke der Gartentür liegen hatte. Es half ihm, und er trat ein.
Das Zimmer oben war ein sehr sauberer, weißgetünchter Raum mit einer niedrigen Decke. Seine einzige Bewohnerin lag auf einem Sofa, das ihr Gesicht in dieselbe Höhe mit dem Fenster brachte. Das Sofa war ebenfalls weiß, und da ihr einfaches Kleid wie ihr Haarband hellblau war, hatte sie ein ätherisches Aussehen, und ihre Erscheinung machte den phantastischen Eindruck, zwischen Wolken zu liegen. Er fühlte, daß sie ihn instinktiv als einen gewöhnlich niedergeschlagenen, schweigsamen Menschen erkannte, und es war eine weitere Hilfe für ihn, daß sie diesen Zug so rasch und leicht erkannt hatte und daß er somit ein für allemal abgetan war.
Trotzdem lag eine gewisse Unsicherheit und Gezwungenheit in seinem Benehmen, als er ihre Hand berührte und neben ihrem Sofa auf einem Stuhl Platz nahm.
»Ich sehe jetzt«, begann er ziemlich stockend, »was sie mit ihren Händen machen. Als ich Sie nur vom Weg draußen beobachtete, glaubte ich, Sie spielten auf einem Instrument.«
Sie war mit flinken und geschickten Fingern dabei, Spitzen zu klöppeln. Ein Klöppelkissen lag auf ihrer Brust, und die bei der Arbeit rasch wechselnde Bewegung ihrer Hände hatte den falschen Eindruck bei ihm hervorgerufen.
»Das ist interessant«, erwiderte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Denn wenn ich bei der Arbeit bin, kommt es mir selbst oft so vor, als spielte ich ein Instrument.«
»Verstehen Sie etwas von Musik?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, ich könnte mit ein paar Liedern zurechtkommen, wenn ich ein Instrument hätte, das mir so handlich gemacht werden könnte wie mein Klöppelkissen. Aber ich täusche mich darin wohl. Auf jeden Fall werde ich es niemals wissen.«
»Sie haben eine melodische Stimme. Entschuldigen Sie, aber ich habe Sie singen hören.«
»Mit den Kindern?« erwiderte sie leicht errötend. »O ja. Ich singe oft mit den lieben Kindern, wenn man das singen nennen kann.«
Gebrüder Barbox blickte auf die beiden kleinen Bänke, die im Zimmer standen, und wagte die Bemerkung, daß sie Kinder wohl gern hätte und in neuen Unterrichtsmethoden Erfahrung hätte.
»Ich habe sie sehr gern«, sagte sie, abermals den Kopf schüttelnd, »aber ich verstehe nichts vom Unterrichten, abgesehen von dem Interesse, das ich dafür habe, und dem Vergnügen, das es mir bereitet, wenn sie lernen. Sie haben vielleicht irrtümlicherweise geglaubt, ich wäre eine großartige Lehrerin, weil Sie hörten, wie meine kleinen Schüler einige ihrer Lektionen sangen? Ah! Das dachte ich mir! Nein, ich habe von dieser Methode nur gelesen und gehört. Sie schien mir so nett und amüsant, daß ich sie in meinen bescheidenen Verhältnissen in Anwendung brachte. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, wie bescheiden meine Verhältnisse sind, Sir«, fügte sie hinzu, indem sie einen Blick auf die kleinen Bänke und den ganzen Raum warf.
Während dieser ganzen Zeit waren ihre Hände mit dem Klöppelkissen beschäftigt. Da sie auch jetzt in ihrer Tätigkeit fortfuhren und da das Klappern der Klöppel eine Art Unterhaltungsersatz war, benutzte Gebrüder Barbox die Gelegenheit, sie genau zu betrachten. Er schätzte sie auf etwa dreißig Jahre. Der Reiz ihres durchscheinenden Gesichts und ihrer glänzenden, großen braunen Augen bestand nicht in leidender Ergebenheit, sondern in einer tätigen und sie ganz erfüllenden Fröhlichkeit. Sogar ihre fleißigen Hände, die schon durch ihre Gebrechlichkeit hätten Mitleid erregen können, taten ihre Arbeit mit einem heiteren Mut, der bloßes Mitleid als eine unberechtigte Anmaßung erscheinen ließ.
Er bemerkte, wie sich ihre Augen auf ihn richteten und blickte schnell zum Fenster, indem er sagte:
»Die Aussicht ist wirklich schön!«
»Sehr schön, Sir. Manchmal hätte ich mir schon gewünscht, mich nur ein einziges Mal aufrichten zu können, bloß um zu erfahren, wie die Aussicht dann erscheint. Aber was ist das auch für ein närrischer Wunsch! Sie kann niemandem schöner erscheinen als mir!«
Während sie sprach, waren ihre Augen dem Fenster zugewandt. Bewunderung und Entzücken stand in ihnen, aber keine Spur von einem Gefühl der Entbehrung.
»Und diese Eisenbahnlinien, auf denen die Rauch- und Dampfwolken so rasch dahinziehen, erfüllen sie so mit Leben für mich«, fuhr sie fort. »Ich denke an die vielen Menschen, die gehen können, wohin sie wollen, ihrem Geschäft oder ihrem Vergnügen nach; ich erinnere mich daran, daß die Dampfwolken mir zuwinken und mich wissen lassen, daß sie wirklich auf dem Weg sind, während ich hinunterblicke; und das verschafft mir eine Menge Gesellschaft, wenn ich Gesellschaft brauche. Da ist auch noch die große Station. Ich kann sie nicht sehen, weil sie am Fuß des Hügels liegt, aber ich kann sie sehr oft hören, und ich weiß stets, daß sie da ist. Es kommt mir vor, als verbinde sie mich irgendwie mit zahllosen Orten und Dingen, die ich niemals sehen werde.«
Er dachte mit einer Art Beschämung, sie habe ihn vielleicht bereits mit etwas verbunden, was er niemals gesehen hatte, und sagte gezwungen:
»Ganz richtig.«
»Und so sehen Sie, Sir«, fuhr Phoebe fort, »daß ich nicht die Kranke bin, für die Sie mich hielten, mir geht es wirklich sehr gut.«
»Sie haben ein sonniges Gemüt«, sagte Gebrüder Barbox. Vielleicht lag eine leichte Entschuldigung wegen seines eignen Gemüts in dem Ton seiner Worte.
»Ah! Sie müßten meinen Vater kennen«, erwiderte sie. »Er hat ein sonniges Gemüt! – Behalten Sie Platz, Sir!« bat sie, denn seine Schüchternheit hatte ihn bei einem Fußtritt auf der Treppe emporfahren lassen, da er befürchtete, daß er für einen lästigen Eindringling angesehen werden könnte. »Mein Vater kommt.«
Die Tür ging auf, und der Vater blieb auf der Schwelle stehen.
»Wahrhaftig, der Lampenwärter!« rief Gebrüder Barbox und sprang von seinem Stuhl auf. »Wie geht es Euch, Lampenwärter?«
Worauf der Lampenwärter erwiderte:
»Der Gentleman nach nirgendwohin! Wie geht es Ihnen, Sir?«
Und sie schüttelten sich die Hand, während die Tochter des Lampenwärters freudig erstaunt zusah.
»Ich bin seit jener Nacht wohl ein halbes dutzendmal in Eurem Häuschen eingekehrt«, sagte Gebrüder Barbox, »habe Euch aber nie getroffen.«
»Ich habe davon gehört, Sir, ich habe davon gehört«, erwiderte der Lampenwärter. »Weil Sie so oft auf der Station unten bemerkt worden sind, ohne einen Zug zu nehmen, ist es nach und nach unter uns üblich geworden, von Ihnen als von dem Gentleman nach nirgendwohin zu sprechen. Sie nehmen es hoffentlich nicht für ungut, daß ich Sie in der ersten Überraschung so nannte, Sir?«
»Durchaus nicht. Der Name paßt mir ebensogut wie irgendein anderer, bei dem Ihr mich nennen könnt. Aber kann ich einmal unter vier Augen eine Frage an Euch richten?«
Der Lampenwärter ließ sich an einem der Knöpfe seiner Manchesterjacke vom Lager seiner Tochter wegführen.
»Ist dies das Bett, an dem Ihr Eure Lieder singt?«
Der Gentleman nach nirgendwohin schlug ihm auf die Schulter, und sie drehten sich wieder um.
»Auf Ehrenwort, mein Kind«, sagte der Lampenwärter darauf zu seiner Tochter, während er von ihr auf den Besucher blickte, »ich bin so verblüfft über deine Bekanntschaft mit diesem Gentleman, daß ich, wenn mich der Gentleman entschuldigen will, mir einen Reiber geben muß.«
Der Lampenwärter erklärte die Bedeutung seiner Worte durch die Tat, indem er sein öliges Taschentuch, wie ein Ball zusammengerollt, hervorzog und sich gründlich damit einschmierte. Er fing hinter dem rechten Ohr an, fuhr die Wange hinauf, über die Stirn und über die andere Wange hinab bis hinter das linke Ohr, und als er fertig war, glänzte er wie eine Speckschwarte.
»Das ist stets meine Gewohnheit, wenn mir durch irgendeine Aufregung besonders warm geworden ist, Sir«, sagte er in entschuldigendem Ton. »Und ich bin wirklich derartig über Ihre Bekanntschaft mit Phoebe verblüfft, daß ich – daß ich denke, ich werde mir, wenn Sie mich entschuldigen wollen, noch einen Reiber geben.«
Das tat er denn auch, und es schien ihn wieder vollständig ins Gleichgewicht zu bringen.
Sie standen jetzt beide neben ihrem Lager, während sie an ihrem Klöppelkissen weiterarbeitete.
»Eure Tochter erzählte mir«, sagte Gebrüder Barbox immer noch in einer Weise, die nicht frei von Schüchternheit und Scham war, »daß sie sich niemals aufsetzt.«
»Nein, Sir, und sie hat es auch bisher niemals getan. Sie müssen verstehen, ihre Mutter (sie starb, als Phoebe ein Jahr und zwei Monate alt war) litt an sehr schlimmen Anfällen, und da sie mir nie etwas von diesem Leiden gesagt hatte, konnte ich keine Vorsorge dagegen treffen. So ließ sie während eines Anfalls das Kind fallen, und dies war die Folge.«
»Es war sehr unrecht von ihr«, sagte Gebrüder Barbox mit gerunzelter Stirn, Euch zu heiraten und Euch dabei ihr Leiden zu verheimlichen.«
»Nun, Sir!« wendete der Lampenwärter zugunsten der längst Dahingegangenen ein. »Sie müssen verstehen, Phoebe und ich, wir haben auch darüber gesprochen, und bei Gott, so viele von uns haben die eine oder andere Art von Gebrechen, daß, wenn wir sie alle vor der Heirat gestehen wollten, die meisten von uns niemals zum Heiraten kämen.«
»Wäre das nicht besser?«
»Nicht in diesem Fall, Sir«, sagte Phoebe, ihrem Vater die Hand reichend.
»Nein, nicht in diesem Fall, Sir«, sagte ihr Vater, die Hände zwischen den seinigen streichelnd.
»Ihr tut gut daran, mich zurechtzuweisen«, sagte Gebrüder Barbox errötend, »und ich muß euch so sehr als ein gefühlloser Mensch vorkommen, daß es auf jeden Fall überflüssig ist, diese Schwäche einzugestehen. Ich wünschte, ihr erzähltet mir ein bißchen mehr von euch beiden. Ich weiß kaum, wie ich euch darum bitten soll, denn ich bin mir bewußt, eine unangenehme, steife Art und ein langweiliges, abstoßendes Wesen zu haben, aber ich wünschte, ihr tätet es.«
»Von ganzem Herzen, Sir«, erwiderte der Lampenwärter heiter für beide. »Und vor allem anderen, damit Sie meinen Namen wissen+…«
»Halt!« unterbrach ihn der Besucher mit einem leichten Erröten. »Was bedeutet Euer Name? Lampenwärter ist Name genug für mich. Er gefällt mir. Er ist hell und ausdrucksvoll. Was brauche ich mehr?«
»Da haben Sie ganz recht, Sir«, erwiderte der Lampenwärter. »In der Regel nennt man mich unten auf der Station auch bei keinem anderen Namen. Aber ich dachte, da Sie hier als eine erste Klasse einfach und als Privatmann hier sind, es wäre Ihnen lieber+…«
Der Besucher wehrte die Vermutung mit der Hand ab, und der Lampenwärter erkannte dieses Zeichen des Vertrauens dadurch an, daß er sich wieder einen Reiber gab.
»Ihr seid sicherlich mit Arbeit überlastet?« sagte Gebrüder Barbox, als die Prozedur des Reibens beendet und das Gesicht des Lampenwärters um vieles schmutziger als zuvor wieder zum Vorschein kam.
»Der Lampenwärter begann: »Nicht allzusehr+…«, als seine Tochter ihm ins Wort fiel:
»O ja, Sir, er ist sehr mit Arbeit überlastet. Vierzehn, fünfzehn, achtzehn Stunden am Tag. Manchmal vierundzwanzig Stunden hintereinander.«
»Und Sie, Phoebe«, sagte Gebrüder Barbox, »mit Ihrer Schule und Ihrem Klöppeln+…«
»Aber die Schule ist ein Vergnügen für mich«, unterbrach sie ihn, ihre braunen Augen weiter öffnend, als wundere sie sich über seinen Mangel an Verständnis. »Ich fing damit an, als ich noch ein Kind war, weil es mir die Gesellschaft anderer Kinder verschaffte, verstehen Sie? Eine Arbeit war das nicht. Ich tue es jetzt weiter, weil es einen Kreis von Kindern um mich festhält. Aber eine Arbeit ist es nicht. Ich tue es als ein Liebeswerk, nicht als eine Arbeit. Und dann mein Klöppelkissen«, ihre emsigen Hände hatten innegehalten, so als erfordere die Auseinandersetzung all ihren fröhlichen Ernst, aber jetzt, als sie es erwähnte, fuhr sie mit ihrer Arbeit daran fort; »es geht im Takt meiner Gedanken, wenn ich nachdenke, und es geht im Takt meiner Lieder, wenn ich welche vor mich hin summe, und auch das ist keine Arbeit. Sie wissen doch, Sir, Sie haben selbst gedacht, es wäre Musik. Und das ist es auch für mich.«
»So ist es mit allem!« rief der Lampenwärter strahlend. »Alles ist Musik für sie, Sir.«
»Mein Vater ist es auf jeden Fall«, sagte Phoebe, indem sie liebevoll mit ihrem dünnen Zeigefinger nach ihm hinwies. »In meinem Vater ist mehr Musik als in einer ganzen Kapelle.«
»Aber, aber, mein Herz! Es spricht zwar für deine kindliche Liebe; aber du schmeichelst deinem Vater«, protestierte er strahlend.
»Nein, so ist es, Sir, das versichere ich Ihnen, wahrhaftig! Wenn Sie meinen Vater einmal singen hören könnten, dann würden Sie erkennen, daß es so ist. Aber Sie werden ihn niemals singen hören, weil er niemals vor jemand anderem als vor mir singt. Mag er auch noch so müde sein, wenn er nach Hause kommt, singt er mir doch immer etwas vor. Als ich lange Jahre hier lag, eine arme, zerbrochene kleine Puppe, pflegte er mir vorzusingen. Ja, noch mehr, er pflegte selbst Lieder zu verfassen, in denen er die kleinen scherzhaften Vorfälle, die sich zwischen uns zugetragen hatten, anbrachte. Ja, noch mehr, er tut das auch jetzt noch oft. Oh! Ich verrate Euch, Vater, da der Gentleman nach Euch gefragt hat. Er ist ein Dichter, Sir.«
»Ich möchte nicht, mein Kind«, bemerkte der Lampenwärter, für den Augenblick ernst werdend, »daß der Gentleman diese Meinung über deinen Vater mit fortnähme. Denn es könnte so aussehen, als hätte ich die Gewohnheit, die Sterne melancholisch zu befragen, was mit ihnen los wäre. Damit möchte ich weder meine Zeit verlieren, noch mir soviel herausnehmen, mein Kind.«
»Mein Vater«, begann Phoebe, ihre Worte verbessernd, wieder, »ist stets auf der Seite, wo es gut und freundlich hergeht. Sie sagten mir eben, ich hätte ein sonniges Gemüt. Wie könnte es anders sein?«
»Nun ja, aber, mein Kind«, erwiderte der Lampenwärter erklärend, »wie könnte es mit mir anders sein? Urteilen Sie selbst, Sir. Sehen Sie sie an. Sie ist immer so, wie Sie sie jetzt sehen. Stets bei der Arbeit – und für alles, Sir, bloß ein paar Schillinge wöchentlich –, aber stets zufrieden, stets lebhaft, stets für alles mögliche andere interessiert. Ich sagte soeben, sie sei stets so, wie Sie sie jetzt sehen. So verhält es sich auch, bloß mit einem kleinen Unterschied. Denn wenn ich meinen dienstfreien Sonntag habe und die Morgenglocken verklungen sind, bekomme ich die Gebete in der rührendsten Weise vorgelesen und die Lieder aus dem Gesangbuch werden mir vorgesungen, so leise, Sir, daß Sie sie außerhalb dieses Zimmers nicht hören könnten, und in Tönen, die mir vom Himmel zu kommen und zu ihm zurückzukehren scheinen.«
Vielleicht war es deshalb, weil diese Worte die feierlich-stillen Sonntage vor Phoebes Geist aufsteigen ließen, oder vielleicht brachten sie ihr auch in Erinnerung, wie der Erlöser an den Betten der Kranken gestanden hatte; auf jeden Fall hielten ihre flinken Finger auf dem Klöppelkissen inne und schlangen sich um seinen Nacken, während er sich zu ihr niederbeugte. Der Besucher konnte leicht sehen, daß sowohl Vater wie Tochter von Natur empfindsame Menschen waren; aber jedes suchte um des anderen willen seine Gefühle zu verbergen, und ein unbesiegbarer Frohmut, entweder angeboren oder im Laufe des Lebens angeeignet, war ihnen beiden eigen. Nach einigen ganz wenigen Augenblicken gab sich der Lampenwärter abermals einen Reiber, wobei sein komisches Gesicht strahlte, während Phoebes lachende Augen, nur ein winziges funkelndes Tröpfchen auf den Wimpern, sich wieder abwechselnd auf ihren Vater, auf ihre Arbeit und auf Gebrüder Barbox richteten.
»Wenn mein Vater«, sagte sie lächelnd, »Ihnen davon erzählt, Sir, daß ich mich für andere Menschen interessiere, selbst wenn sie nicht das mindeste von mir wissen – was ich Ihnen ja, nebenbei bemerkt, selbst gesagt habe –, so müßten Sie wissen, woher das kommt. Mein Vater ist daran schuld.«
»Nein, das bin ich nicht!« widersprach er.
»Glauben Sie ihm nicht, Sir. Es ist doch so. Er erzählt mir alles, was er unten bei seiner Arbeit zu sehen bekommt. Sie würden überrascht sein, wieviel Neues er täglich für mich sammelt. Er blickt in die Abteile und erzählt mir, wie die Damen angezogen sind – so daß ich die neueste Mode kenne! Er blickt in die Abteile und erzählt mir, was für Liebespärchen und Hochzeitsreisende er sieht – so daß ich alles darüber weiß! Er hebt liegengebliebene Zeitungen und Bücher auf – so daß ich eine Menge zu lesen habe! Er erzählt mir von den Kranken, die Reisen machen, in der Hoffnung, gesund zu werden – so daß ich alles von ihnen weiß! Kurz, wie ich anfangs schon sagte, er erzählt mir alles, was er unten bei seiner Arbeit sieht und erfährt, und Sie können sich nicht denken, was er alles sieht und erfährt.«
»Was das Aufheben von Zeitungen und Büchern angeht, mein Kind«, sagte der Lampenwärter, »so ist es klar, daß mir kein Verdienst dabei zukommt, weil das nicht zu meinem Amt gehört. Sie müssen verstehen, Sir, es geht folgendermaßen zu: Ein Schaffner sagt zu mir: ›Hallo, da seid Ihr ja, Lampenwärter. Ich habe diese Zeitung für Eure Tochter aufgehoben. Wie geht es ihr?‹ Ein andermal spricht mich ein Träger an: ›Da, nehmt, Lampenwärter. Hier sind ein paar Schmöker für Eure Tochter. Geht es ihr noch wie sonst?‹ Und das macht mir die Gaben doppelt willkommen, verstehen Sie. Wenn sie tausend Pfund in einer Schachtel hätte, würden sie sich nicht um sie kümmern; da es aber so um sie steht – das heißt, verstehen Sie«, fügte der Lampenwärter mit einer gewissen Eilfertigkeit hinzu, »da sie keine tausend Pfund in einer Schachtel hat – so denken sie an sie. Und was die jungen Pärchen angeht, verheiratete und unverheiratete, so ist es bloß natürlich, daß ich das bißchen, was ich von ihnen zu sehen bekomme, zu Hause erzähle, da es doch kein Pärchen von der einen oder anderen Art in der Nachbarschaft gibt, das nicht von selbst hierherkäme, um sich Phoebe anzuvertrauen.«
Sie erhob ihre Augen mit einem triumphierenden Ausdruck zu Gebrüder Barbox, während sie sagte:
»Das ist allerdings wahr, Sir. Wenn ich hätte aufstehen und zur Kirche gehen können, so wäre ich schon unzählige Male Brautjungfer gewesen. Jedoch, wenn ich dazu imstande gewesen wäre, so wären vielleicht einige verliebte Mädchen auf mich eifersüchtig geworden; jetzt aber ist kein Mädchen eifersüchtig auf mich. Und unter mein Kopfkissen würden nicht halb soviel Hochzeitskuchenstücke gelegt werden, wie ich jetzt immer darunter finde«, fügte sie hinzu, indem sie mit einem leichten Seufzer und einem Lächeln gegen ihren Vater ihr Gesicht daraufdrückte.
Ein kleines Mädchen, die größte der Schülerinnen, trat mit einem Eimer, mit dem man die Kleine hätte zudecken können, und einem Besen, der dreimal so lang war wie sie selbst, ins Zimmer, und Gebrüder Barbox begriff, daß sie in dem Häuschen den Posten eines Dienstmädchens versah und gekommen war, um sich fleißig darin zu betätigen. Er stand deshalb auf, um sich zu entfernen. Beim Abschied sagte er, wenn es Phoebe recht wäre, würde er wiederkommen.
Er hatte gemurmelt, daß er »im Laufe seiner Spaziergänge« wiederkommen wollte. Der Lauf seiner Spaziergänge muß seinem Wiederkommen sehr günstig gewesen sein, denn er sprach bereits am übernächsten Tag wieder vor.
»Vermutlich haben Sie geglaubt, Sie würden mich nie mehr wiedersehen?« sagte er zu Phoebe, indem er ihre Hand berührte und sich neben ihrem Lager niedersetzte.
»Weshalb hätte ich das glauben sollen?« war ihre überraschte Erwiderung.
»Ich nahm es als selbstverständlich an, daß Sie mir mißtrauen würden.«
»Als selbstverständlich, Sir? Sind Sie so oft auf Mißtrauen gestoßen?«
»Ich denke, ich kann getrost mit ja antworten. Aber vielleicht bin auch ich mißtrauisch gewesen. Doch darauf kommt es ja jetzt nicht an. Wir sprachen das vorige Mal von der Station. Seit vorgestern bin ich ganze Stunden lang dort gewesen.«
»Sind Sie nun der Gentleman nach irgendwohin?« fragte sie mit einem Lächeln.
»Sicherlich nach irgendwohin; aber ich weiß noch nicht wohin. Sie würden nie erraten, wovor ich davongefahren bin. Soll ich es Ihnen sagen? Ich fahre vor meinem Geburtstag davon.«
Ihre Hände hielten bei der Arbeit inne, und sie blickte ihn mit ungläubigem Staunen an.
»Ja«, sagte Gebrüder Barbox und rutschte ein wenig verlegen auf dem Sessel hin und her, »vor meinem Geburtstag. Ich bin mir selbst ein unverständliches Buch, dessen Anfangskapitel alle herausgerissen und weggeworfen worden sind. Meine Kindheit war ohne Glück, meine Jugend ohne Freude, und was kann nach einem solchen verlorenen Anfang noch erwartet werden?«
Während seine Augen den ihrigen begegneten, die fest auf ihn gerichtet waren, schien sich etwas in seiner Brust zu regen und ihm zuzuflüstern:
»War dieses Bett vielleicht ein Ort, wo Kindheitsglück und Jugendfreude gern verweilten? Oh, schäme dich, schäme dich!«
»Es ist eine schlechte Angewohnheit von mir«, sagte Gebrüder Barbox, wobei er eine Mundbewegung machte, als schlucke er etwas mit Mühe hinunter, »mich immer auf dieses Gebiet zu verirren. Ich verstehe gar nicht, wie ich darauf zu sprechen gekommen bin. Ich glaube, es kommt daher, weil ich einst zu einer Angehörigen Ihres Geschlechts ein Vertrauen gehabt habe, das mit einer schweren Enttäuschung und bitterem Verrat geendet hat. Ich weiß es nicht. Ich bin ganz verwirrt.«
Ihre Hände nahmen ruhig und langsam ihre Arbeit wieder auf.
»Ich fahre vor meinem Geburtstag davon«, begann er wieder, »weil er immer ein trauriger Tag für mich gewesen ist. Da mein erster freier Geburtstag in etwa fünf oder sechs Wochen fällig ist, bin ich davongefahren, um seine Vorgänger weit hinter mir zu lassen und den Versuch zu machen, den Tag zu verdrängen – oder ihn wenigstens aus den Augen zu bekommen –, indem ich neue Gegenstände auf ihn häufe.«
Da er innehielt, blickte sie zu ihm hin; aber sie schüttelte nur den Kopf, als wüßte sie nicht, was sie sagen sollte.
»Das ist Ihrem sonnigen Gemüt unbegreiflich«, fuhr er fort, bei seiner früheren Redewendung beharrend, als läge darin irgend etwas zu seiner Selbstverteidigung. »Ich wußte, daß es so sein würde und freue mich darüber. Jedoch habe ich auf dieser meiner Reise (mit der ich den Rest meiner Tage zuzubringen gedenke, da ich jeden Gedanken an ein ständiges Heim aufgegeben habe) hier in Mugby haltgemacht, wie Sie von Ihrem Vater gehört haben. Die vielen abzweigenden Linien machten mich ganz verwirrt und ich konnte zu keinem Entschluß kommen, wohin ich von hier aus gehen sollte. Ich habe mich auch jetzt noch nicht entschieden. Was glauben Sie, daß ich zu tun gedenke? Wie viele der auseinanderlaufenden Linien können Sie von Ihrem Fenster aus sehen?«
Sie sah voll Interesse hinaus und antwortete:
»Sieben.«
»Sieben«, sagte Gebrüder Barbox, sie mit einem ersten Lächeln beobachtend. »Nun gut! Ich nehme mir auf der Stelle vor, die ganze Menge auf diese sieben zu reduzieren, sie allmählich bis auf eine herabzusetzen – diejenige, die die günstigste für mich ist – und diese zu nehmen.«
»Aber wie sollen Sie wissen, welches die günstigste ist?« fragte sie, während ihre leuchtenden Augen über die Landschaft hinglitten.
»Ah!« sagte Gebrüder Barbox wieder mit einem ernsten Lächeln, während seine Rede bedeutend leichter floß. »Das ist allerdings ein Problem. Ich will es auf folgende Art lösen. Wo Ihr Vater Tag für Tag so viel für einen guten Zweck aufsammeln kann, werde ich vielleicht hin und wieder etwas für einen mittelmäßigen Zweck finden. Der Gentleman nach nirgendwohin muß auf der Station noch besser bekannt werden. Er wird sie weiter erforschen, bis er etwas, was er am Ausgangspunkt jeder der sieben Linien gesehen, gehört oder herausgefunden hat, mit der Linie selbst in Verbindung bringen kann. Und dann soll die Wahl einer Linie von seiner Wahl zwischen diesen seinen Entdeckungen abhängen.«
Während ihre Hände weiterarbeiteten, blickte sie wieder auf die Landschaft, als läge etwas Neues darin, das früher nicht dagewesen war, und lachte, als gewährte sie ihr eine neue Freude.
»Aber ich darf nicht vergessen«, sagte Gebrüder Barbox, »da ich nun schon einmal so weit gekommen bin, Sie um etwas zu bitten: Ich brauche Ihre Hilfe bei meinem Plan. Ich möchte Ihnen alles bringen, was ich am Ausgangspunkt der sieben Linien, die Sie von hier aus sehen, auflese, und mich dann mit Ihnen darüber beraten. Darf ich das? Man sagt, zwei Köpfe seien besser als einer. Ich würde sagen, daß das wahrscheinlich von den betreffenden Köpfen abhängt. Aber ich bin ganz sicher, obwohl wir erst so kurze Zeit miteinander bekannt sind, daß Ihr Kopf und der Ihres Vaters bessere Dinge herausgefunden haben, Phoebe, als je der meinige von selbst entdeckt hat.«
Sie reichte ihm, von seinem Vorschlag aufs höchste entzückt, ihre Rechte und dankte ihm herzlich.
»So ist es recht!« sagte Gebrüder Barbox. »Aber ich habe noch eine Bitte: Wollen Sie bitte die Augen schließen?«
Mit einem heiteren Lachen über dieses seltsame Verlangen tat sie, um was er sie bat.
»Halten Sie sie fest geschlossen«, sagte Gebrüder Barbox, indem er vorsichtig nach der Tür und zurück ging. »Sie geben mir Ihr Ehrenwort, Ihre Augen nicht eher zu öffnen, als bis ich Ihnen sage, daß Sie es dürfen?«
»Ja! Mein Ehrenwort.«
»Gut. Darf ich Ihnen für eine Minute Ihr Klöppelkissen fortnehmen?«
Immer noch lachend und voll Verwunderung nahm sie ihre Hände vom Kissen, und er legte es beiseite.
»Antworten Sie mir. Haben Sie die Dampf- und Rauchwolken gesehen, die der gestrige Morgenschnellzug auf der Linie Nummer sieben von hier aus ausgestoßen hat?«
»Hinter den Ulmen und dem Kirchturm?«
»Das ist die Linie«, sagte Gebrüder Barbox, indem er seine Augen darauf richtete.
»Ja. Ich sah zu, wie sie sich auflösten.«
»Lag etwas Ungewöhnliches in dem, was sie ausdrückten?«
»Nein!« erwiderte sie fröhlich.
»Das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich, denn ich saß in diesem Zug. Ich war auf dem Weg – öffnen Sie Ihre Augen noch nicht um dies für Sie aus der großen Stadt zu holen. Es ist nicht halb so groß wie Ihr Klöppelkissen und liegt leicht und bequem auf seinem Platz. Diese kleinen Tasten gleichen den Tasten eines Miniaturklaviers, und den Blasebalg betätigen Sie mit der linken Hand. Mögen Sie köstliche Musik daraus schöpfen, mein Kind! Für jetzt – Sie können die Augen nun öffnen – leben Sie wohl!«
Er ging rasch und verlegen aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Während er das tat, bemerkte er nur noch, wie sie das Geschenk verzückt an ihre Brust preßte und es liebkoste. Der Anblick machte ihn froh und traurig zugleich. Denn so hätte sie, wenn ihrer Jugend eine natürliche Blüte beschert gewesen wäre, jetzt die schlummernde Musik der Stimme ihres eigenen Kindes an die Brust drücken können.
* * *
Der Gentleman nach nirgendwohin begann schon am nächsten Tag mit Eifer und Ernst seine Nachforschungen an den Ausgangspunkten der sieben Linien. Die Ergebnisse, die er nachher gemeinsam mit Phoebe sauber aufgezeichnet hat, haben ihre gebührende Stelle in dieser Chronik gefunden. Freilich brauchte es viel mehr Zeit, sie zusammenzubekommen, als jemals nötig sein wird, um sie durchzulesen. Und das ist wahrscheinlich bei jedem Schriftstellerwerk der Fall, ausgenommen wenn es von jener (für die Nachwelt) höchst wertvollen Art ist, die »in einigen wenigen Augenblicken freier Zeit hingeworfen« wird von den erhabenen poetischen Genies, die es verächtlich ablehnen, sich prosaische Mühe zu geben.
Es muß jedoch eingeräumt werden, daß Barbox sich keineswegs beeilte. Sein Herz war bei seinem Liebeswerk, und er schwelgte darin. Er hatte auch die Freude (und es war eine Freude für ihn), bisweilen neben Phoebes Lager zu sitzen und ihr zuzuhören, wie sie ein immer reicheres Zwiegespräch mit ihrem Musikinstrument hielt und wie ihr natürliches Talent und ihr feines Ohr ihre ersten Entdeckungen täglich mehr verfeinerten. Außer einem Vergnügen war dies auch eine Beschäftigung, mit der er im Laufe der Wochen lange Stunden ausfüllte. Das ging so lange, bis sein gefürchteter Geburtstag ganz nahe bevorstand, ohne daß er überhaupt wieder daran gedacht hatte.
Die Sache wurde noch dringender durch den unvorhergesehenen Umstand, daß die Beratungen über die zu wählende Linie (an denen bei einigen wenigen Gelegenheiten der Lampenwärter, in höchstem Glanz strahlend, teilnahm) letzten Endes in keiner Weise durch seine Nachforschungen unterstützt wurden. Denn er hatte zwar mit dieser Linie dieses, mit jener jenes Interesse verknüpft, aber er konnte darin keinen Grund finden, einer Linie den Vorzug vor den anderen zu geben. Infolgedessen standen die Dinge, als die letzte Beratung abgehalten wurde, noch genau auf demselben Fleck wie zu Anfang.
»Aber, Sir«, bemerkte Phoebe, »wir haben nach allem bis jetzt nur sechs Linien. Ist die siebte Linie stumm?«
»Die siebte Linie? Oh!« sagte Gebrüder Barbox und rieb sich das Kinn. Das ist die Linie, auf der ich fuhr, um Ihnen Ihr kleines Geschenk zu holen, verstehen Sie. Das ist ihre Geschichte, Phoebe.«
»Hätten Sie etwas dagegen, diese Linie nochmals zu benutzen, Sir?« fragte sie zögernd.
»Nicht das geringste. Schließlich ist es eine wichtige Hauptlinie.«
»Ich würde mich freuen, wenn Sie sie benützten«, fuhr Phoebe mit einem überredenden Lächeln fort, »weil mir das kleine Geschenk, das Sie mir gemacht haben, so sehr ans Herz gewachsen ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie sie benützten, weil diese Linie niemals mehr wie irgendeine andere Linie für mich sein kann. Ich würde mich freuen, wenn Sie sie benützten, in Erinnerung daran, wieviel Gutes Sie mir getan haben, um wieviel glücklicher ich durch Sie geworden bin! Wenn Sie mich auf der Linie verlassen, die Sie benutzten, um mir diese große Freundlichkeit zu erweisen«, bei diesen Worten entlockte sie dem Instrument einen leisen Klang, »so werde ich das Gefühl haben, wenn ich hier liege und von meinem Fenster aus die Linie mit den Augen verfolge, als müsse sie Sie zu einem glücklichen Ziel führen und eines Tages wieder zurückbringen.«
»Es soll geschehen, meine Liebe, es soll geschehen.«
So löste schließlich der Gentleman nach nirgendwohin eine Fahrkarte nach irgendwohin, und sein Ziel war die große, betriebsame Stadt.
Er hatte so lange Zeit mit seinen Wanderungen um die Station Mugby zugebracht, daß es bereits der achtzehnte Dezember war, als er sie verließ.
»Es war höchste Zeit«, dachte er bei sich selbst, als er sich in den Zug setzte, »daß ich endlich aufbrach! Nur noch ein Tag liegt zwischen mir und dem Tag, vor dem ich auf der Flucht bin. Ich werde morgen nach dem Hügelland weiterfahren. Ich gehe nach Wales.«
Er stellte sich mit einiger Mühe die unbestreitbaren Vorteile vor, die diese Reise bieten würde. Nebelumhüllte Berge, angeschwollene Flüsse, Regen, Kälte, ein wild tosendes Seegestade und rauhe Pfade würden seinen Sinnen neue Eindrücke bieten. Und doch schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Ob die arme Kranke, trotz ihrer neuen Unterhaltung, der Musik, jetzt – zumindest zu Anfang – ein Gefühl der Einsamkeit empfinden würde, das sie früher nicht gekannt hatte? Ob sie dieselben Rauch- und Dampfwolken wahrnahm, die er vor Augen hatte, während er, in Gedanken mit ihr beschäftigt, im Zug saß? Ob auf ihrem Gesicht ein nachdenklicher Schatten liegen würde, wenn sie von ihrem Fenster aus die Wolken sich in weiter Ferne auflösen sah – diese und andere Gedanken drängten sich zwischen ihn und sein Gemälde von der wallisischen Landschaft. Dazu klangen immer noch ihre Worte in seinem Innern, daß er ihr so viel Gutes getan hätte, und er fragte sich, ob sich damit nicht unbewußt sein altes mürrisches Jammern wegen seines Lebenslaufs als verkehrt erwiesen hätte. Denn sie hatte dadurch den Gedanken in ihm geweckt, daß ein Mensch, wenn er wollte, ein großer Heiler sein konnte, ohne daß er ein großer Arzt zu sein brauchte. Auch empfand er die dumpfe Leere, die auf die Trennung von einem Gegenstand des Interesses und das Aufhören einer angenehmen Beschäftigung zu folgen pflegt, und dieses für ihn ganz neue Gefühl machte ihn unruhig. Außerdem hatte er beim Verlassen der Station Mugby sich selbst wiedergefunden, und weil er kürzlich seine Zeit in besserer Gesellschaft zugebracht hatte, war er jetzt nicht mehr so verliebt in sich selbst.
Aber jetzt mußte die große, betriebsame Stadt nicht mehr weit sein. Dieses Rattern und Klirren des Zuges und die Menge neuer Geräusche, die sich hineinmischten, konnten nichts anderes bedeuten, als daß er sich der großen Stadt näherte. Und so verhielt es sich auch. Nach einigem kurzen Aufblitzen von Stadtansichten – rote Ziegelhausblöcke, hochrote Ziegelschornsteine, langgestreckte rote Eisenbahnviadukte, Feuerzungen, Rauchwolken, tiefeingeschnittene Kanäle und Kohlenhügel – donnerte der Zug in den Bahnhof ein.
Nachdem er sich überzeugt hatte, daß seine Koffer in dem von ihm gewählten Hotel sicher untergebracht waren, und nachdem er die Stunde, zu der er zu Abend essen wollte, bestimmt hatte, ging Gebrüder Barbox aus, um einen Spaziergang durch die belebten Straßen zu unternehmen. Und jetzt tauchte der Verdacht in ihm auf, daß der Eisenbahnknotenpunkt bei Mugby sehr viele Zweiglinien besaß, unsichtbare sowohl als sichtbare, und ihn mit einer unendlichen Anzahl von Nebenwegen verbunden hatte. Denn während er vor kurzem diese Straßen noch in Gedanken versunken und ohne auf seine Umgebung zu achten durchwandert hätte, hatte er nun Augen und Gedanken für eine neue äußere Welt übrig. Er dachte daran, wie die vielen arbeitenden Menschen lebten, liebten und starben. Er erwog, wie wunderbar die verschiedene Beschaffenheit von Auge und Hand, die genauen Unterschiede im Gesichts- und Tastsinn waren, die die Menschen in verschiedene Klassen von Arbeitern einteilten. Ja, diese Klassen hatten noch weitere Unterschiede, indem ihre verschiedenartigen Intelligenzen und Kräfte zu einem großen Ganzen zusammengefaßt wurden, mochte dessen Zweck auch nur die Herstellung eines billigen Gebrauchs- oder Schmuckgegenstandes sein. Und ein solches Zusammenwirken ihrer individuellen Fähigkeiten zu einem Ziel machte sie nicht schlechter, wie unter den hochmütigen Eintagsfliegen der Menschheit zu behaupten Mode war, sondern erzeugte unter ihnen eine Achtung vor sich selbst, die aber dabei mit dem bescheidenen Wunsch, noch viel dazuzulernen, verknüpft war. Das erstere zeigte sich in ihrem ruhigen, ausgeglichenen Benehmen und Reden, als Gebrüder Barbox gelegentlich stehenblieb, um eine Frage zu stellen; das letztere in den Ankündigungen ihrer bevorzugten Studien und Vergnügungen auf den Plakatmauern. Diese und viele andere derartige Betrachtungen machten den Spaziergang zu einem denkwürdigen Ereignis für ihn.
»Ich bin auch selbst nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen«, begann er zu überlegen; »und wenn ich mir selbst oder andern nützen oder glücklich sein will, muß ich mein Interesse mit dem aller anderen vereinigen und mein Glück als einen Teil des allgemeinen Glücks suchen.«
Obwohl es Mittag gewesen war, als er an dem für diesen Tag gesteckten Reiseziel angelangt war, war er seitdem, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, so weit und so lange in der Stadt umhergewandert, daß die Lampenanzünder bereits in den Straßen ihrer Beschäftigung nachgingen und die Läden sich hell erleuchteten. Das erinnerte ihn daran, daß es Zeit zum Umkehren sei, und er war im Begriff, seine Schritte nach seinem Hotel zu lenken, als eine winzige Hand sich in die seine schlich und ein dünnes Stimmchen sagte:
»Oh! bitte, ich habe mich verirrt!«
Er blickte nach unten und sah ein ganz kleines blondhaariges Mädchen.
»Ja«, sagte die Kleine, indem sie ihren Worten mit einem ernsthaften Kopfnicken Nachdruck verlieh. »Ich habe mich wirklich verirrt.«
Er blieb verlegen stehen und blickte sich nach Beistand um. Da niemand in der Nähe war, beugte er sich tief nieder und fragte:
»Wo wohnst du denn, mein Kind?«
»Ich weiß nicht, wo ich wohne«, erwiderte die Kleine. »Ich habe mich verirrt.«
»Polly.«
»Und mit Familiennamen?«
Die Antwort kam rasch, aber unverständlich.
Er ahmte den Laut nach, den er hatte verstehen können, und riet aufs Geratewohl: »Trivits«.
»O nein!« sagte die Kleine und schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht.«
»Sage es nochmals, Kleine.«
Ein wenig erfolgversprechendes Unternehmen. Denn diesmal klang es ganz anders.
Er sprach die Vermutung aus: »Paddens?«
»O nein!« sagte die Kleine. »Ganz und gar nicht.«
»Noch einmal. Wir wollen es noch einmal versuchen, mein Kind.«
Ein hoffnungsloses Unternehmen. Diesmal wuchs es zu vier Silben an.
»Es kann nicht Tappitarver sein?« fragte Gebrüder Barbox und rückte seinen Hut ratlos auf dem Kopf hin und her.
»Nein! Das ist es nicht«, stimmte die Kleine ruhig zu.
Als sie noch einmal versuchte, diesen unglücklichen Namen auszusprechen, wobei sie sich ganz außerordentlich Mühe gab, deutlich zu sein, schwoll er zu mindestens acht Silben an.
»Ah! Ich glaube«, sagte Gebrüder Barbox mit verzweifelter Resignation, »daß wir besser daran täten, es aufzugeben.«
»Aber ich habe mich verirrt«, sagte die Kleine, ihr Händchen enger in seine Hand schmiegend, »und Sie werden mir helfen, nicht wahr?«
Wenn sich jemals ein Mensch im Zwiespalt zwischen Mitleid und der einfältigen Unentschlossenheit befand, so stand dieser Mensch hier.
»Verirrt!« wiederholte er, auf die Kleine niederblickend. »Was ist da zu tun?«
»Wo wohnen Sie?« fragte die Kleine und schaute ernsthaft zu ihm auf.
»Dort drüben«, erwiderte er mit einer unbestimmten Bewegung in Richtung auf sein Hotel.
»Wollen wir nicht am besten dorthin gehen?« fragte die Kleine.
»Ja, wahrhaftig«, erwiderte er, »das wird das beste sein.«
Sie machten sich Hand in Hand auf den Weg. Er, da er sich im Geiste mit seiner kleinen Gefährtin verglich, mit einem verlegenen Gefühl, als hätte er sich eben erst zu einem einfältigen Riesen entwickelt. Sie mit einer offenbaren Steigerung ihres kleinen Selbstbewußtseins, weil sie ihm so hübsch aus seiner Verlegenheit geholfen hatte.
»Wir werden vermutlich zu Abend essen, wenn wir dort ankommen?« sagte Polly.
»Nun«, erwiderte er, »ich – ja, ich denke, das werden wir tun.«
»Essen Sie gern?« fragte die Kleine.
»Nun, im großen und ganzen«, sagte Gebrüder Barbox, »glaube ich, ja.«
»Ich auch«, sagte Polly. »Haben Sie Geschwister?«
»Nein. Hast du welche?«
»Sie sind gestorben.«
»Oh!« sagte Gebrüder Barbox.
Niedergedrückt von diesem seltsamen Gefühl der Unbeholfenheit, das von seinem Geist und seinem Körper Besitz ergriffen hatte, hätte er nicht gewußt, wie er die Unterhaltung über diese kurze Erwiderung hinaus fortführen sollte, aber die Kleine hatte stets eine neue Frage für ihn.
»Was werden Sie nach dem Essen anfangen, um mich zu unterhalten?« fragte sie, ihre weiche Hand schmeichelnd in der seinigen hin und her drehend.
»Bei meiner Seele, Polly«, rief Gebrüder Barbox in höchster Verlegenheit, »ich habe nicht die geringste Ahnung!«
»Dann will ich Ihnen etwas sagen«, meinte Polly. »Haben Sie Spielkarten zu Hause?«
»Eine Menge«, sagte Gebrüder Barbox prahlerisch.
»Sehr gut. Dann werde ich Häuser daraus bauen, und Sie sollen mir zusehen. Bloß dürfen Sie nicht blasen, verstehen Sie.«
»O nein«, sagte Gebrüder Barbox. »Nein, nein, nein. Nicht blasen. Blasen gehört sich nicht.«
Er schmeichelte sich, daß er das für ein idiotisches Ungeheuer ziemlich gut gesagt hätte, aber die Kleine merkte sofort, wie ungeschickt sein Versuch war, sich ihr anzupassen. Sie zerstörte sein sich hoffnungsvoll regendes Selbstgefühl gänzlich, indem sie mit mitleidiger Stimme sagte:
»Was für ein komischer Mann Sie sind!«
Nach diesem traurigen Mißerfolg von einem Gefühl ergriffen, als ob sein Körper jede Minute dicker und schwerer und sein Geist schwächer und schwächer würde, gab Barbox sich selbst als hoffnungslos auf. Nie hat sich ein Riese williger im Triumph davonführen lassen, als Gebrüder Barbox sich in die Sklaverei fügte, die Polly ihm auferlegte.
»Wissen Sie ein paar Geschichten?« fragte sie ihn.
Er mußte das demütigende Geständnis ablegen:
»Nein.«
»Sie müssen ein rechter Dummkopf sein, was?« sagte Polly.
Er mußte das demütigende Geständnis ablegen:
»Ja.«
»Möchten Sie, daß ich Ihnen eine Geschichte beibringe? Aber Sie müssen sie auch behalten, verstehen Sie, und imstande sein, sie nachher jemand anders richtig wiederzuerzählen.«
Er erklärte, daß es ihm die höchste geistige Befriedigung verschaffen würde, wenn ihm jemand eine Geschichte beibringen wollte, und daß er sich demütig bemühen würde, sie im Gedächtnis zu bewahren. Daraufhin drehte Polly ihre Hand abermals ein wenig in der seinigen, als eine Art Vorbereitung auf den nun kommenden Genuß, und begann einen langen Roman zu erzählen. Jeder neue Absatz fing mit den Worten an: »So war dieser«, oder: »Und so war diese«. Zum Beispiel: »So war dieser Junge«; oder: »So war diese Fee«; oder: »Und so war diese Pastete vier Ellen rund und zweieinviertel Ellen tief«. Das Thema des Romans behandelte das Eingreifen dieser Fee, um diesen Jungen wegen seiner Freßgier zu bestrafen. Um diesen Zweck zu erreichen, stellte diese Fee diese Pastete her, und dieser Junge aß und aß und aß und seine Wangen schwollen und schwollen und schwollen. Es gab eine ganze Anzahl von Nebenumständen, aber das Hauptereignis war die gänzliche Verzehrung dieser Pastete und das Platzen dieses Jungen. Es war wirklich ein schöner Anblick, wie Gebrüder Barbox mit einem ernsthaften, aufmerksamen Gesicht und abwärts geneigtem Ohr zuhörte. Er wurde auf dem Pflaster der geschäftigen Stadt viel hin und her gestoßen, aber er achtete nicht darauf, denn er hatte Angst, eine Einzelheit des Epos zu verlieren und bei einem nachfolgenden Examen schlecht dazustehen.
So kamen sie am Hotel an. Und dort mußte er im Büro Bescheid geben, was er ungeschickt genug tat:
»Ich habe ein kleines Mädchen gefunden.«
Das ganze Personal kam heraus, um sich das kleine Mädchen anzusehen. Niemand kannte die Kleine; niemand konnte ihren Namen verstehen, wie sie ihn vorbrachte, mit Ausnahme eines Zimmermädchens, das behauptete, es wäre Konstantinopel, was aber unrichtig war.
»Ich will mit meiner jungen Freundin in einem Einzelzimmer essen«, sagte Gebrüder Barbox zu den Hotelgrößen, »und vielleicht wollen Sie die Güte haben, der Polizei mitzuteilen, daß die hübsche Kleine hier ist. Vermutlich wird bald nach ihr geforscht werden, wenn es nicht bereits der Fall ist. Komm, Polly.«
Polly ging in vollster Seelenruhe und sich durchaus in ihrem Element fühlend mit ihm mit, aber da sie die Treppen zu beschwerlich fand, wurde sie von Gebrüder Barbox hinaufgetragen. Das Diner war ein ganz außergewöhnlicher Erfolg, und die Blödigkeit von Gebrüder Barbox bei Pollys Anweisungen, wie er das Fleisch für sie in kleine Stücke schneiden und reichlich und gleichmäßig Bratensauce über ihren Teller schütten sollte, war wieder sehr interessant.
»Und nun«, sagte Polly, »während wir beim Essen sind, seien Sie so gut und erzählen Sie mir die Geschichte, die ich Ihnen beigebracht habe.«
Mit der Angst eines Kandidaten, der in ein Staatsexamen eintritt, und sehr unsicher nicht nur in bezug auf den Zeitpunkt des erstmaligen historischen Auftretens der Pastete, sondern auch in bezug auf die Größenverhältnisse dieser unerläßlichen Tatsache machte Gebrüder Barbox einen zaghaften Anfang, aber da er Ermutigung von Seiten Pollys fand, so ging es schließlich ganz gut. Zwar war in seiner Wiedergabe der Wangen sowie des Appetits des Jungen ein Mangel an Breite erkennbar und seine Fee fiel ein wenig zahm aus, was auf einen mit unterströmenden Wunsch zurückzuführen war, für ihre Handlungsweise Rechenschaft abzulegen, jedoch war die Leistung als erster ungeschickter Versuch eines gutmütigen Ungeheuers ganz annehmbar.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie gut sein sollten«, meinte Polly, »und Sie sind gut, nicht wahr?«
»Ich hoffe es«, erwiderte Gebrüder Barbox.
Seine Unterwürfigkeit war derartig, daß Polly, die auf ein paar übereinandergelegten Sofakissen in einem Stuhl zu seiner Rechten thronte, ihn durch ein gelegentliches Tätscheln im Gesicht mit der fettigen Kelle ihres Löffels und sogar durch einen gnädigen Kuß ermutigte. Als sie jedoch in ihrem Stuhl aufstand, um ihm die letztere Belohnung zuteil werden zu lassen, stürzte sie vornüber zwischen die Schüsseln und veranlaßte ihn, während er sie rettete, zu dem Ausruf:
»Barmherziger Himmel! Ich glaubte, wir wären im Feuer!«
»Sie sind doch ein rechter Hasenfuß, nicht wahr?« sagte Polly, als er sie wieder auf ihren Platz gesetzt hatte.
»Ja, ich bin ziemlich nervös«, erwiderte er. »Nicht, Polly! Schwenke deinen Löffel nicht, sonst fällst du seitwärts hinunter. Wirf die Beine nicht in die Höhe, wenn du lachst, Polly, sonst fällst du hinterrücks hinunter. Ach, Polly, Polly, Polly«, sagte Gebrüder Barbox, der Verzweiflung nahe, »wir sind von Gefahren umgeben!«
Er konnte auch keine andere Sicherheit gegen die Fallen, die auf Polly lauerten, entdecken, als daß er ihr nach dem Diner vorschlug, sich auf einen niedrigen Stuhl zu setzen.
»Ich will es tun, wenn Sie es auch tun«, sagte Polly.
Infolgedessen, da Seelenruhe über alles geht, bat er den Kellner, den Tisch beiseite zu rollen, ein Kartenspiel, ein Paar Fußschemel und einen Wandschirm zu bringen und Polly und ihn selbst vor dem Feuer, gewissermaßen in ein trauliches Zimmer innerhalb des Zimmers, einzuschließen. Darauf gab es den schönsten Anblick von allen an diesem Abend, als Gebrüder Barbox auf seinem Schemel saß, mit einer Karaffe vor sich auf dem Teppich, und Polly zuschaute, wie sie mit Erfolg baute. Dabei hielt er, um ja nicht die Häuser umzublasen, den Atem so ängstlich an, daß er ganz blau im Gesicht wurde.
»Wie Sie mich anstarren!« sagte Polly in einer unbeschäftigten Pause.
Auf der schändlichen Tat ertappt, sah er sich genötigt, entschuldigend zuzugeben:
»Ich fürchte, ich habe dich ein wenig fest angeblickt, Polly.«
»Weshalb starren Sie so?« fragte Polly.
»Ich weiß nicht recht warum«, murmelte er zu sich selbst. »Ich weiß nicht, Polly«, fügte er laut hinzu.
»Sie müssen ein Dummkopf sein, wenn Sie etwas tun und nicht wissen, warum, nicht wahr?« sagte Polly.
Trotz dieses Tadels betrachtete er die Kleine wieder genau, während sie das Köpfchen über ihren Kartenbau beugte, wobei ihre reichen Locken das Gesicht verhüllten.
»Es ist unmöglich«, dachte er, »daß ich diese hübsche Kleine jemals zuvor gesehen habe. Kann ich von ihr geträumt haben? In einem schmerzlichen Traum?«
Er konnte nicht mit sich ins reine kommen. Infolgedessen widmete er sich als Pollys Gehilfe dem Baugewerbe, und sie bauten drei Stockwerke hoch, vier Stockwerke hoch, sogar fünf.
»Hören Sie mal! Wer, glauben Sie wohl, kommt jetzt?« fragte Polly, sich nach dem Tee die Augen reibend.
Er riet: »Der Kellner?«
»Nein«, sagte Polly. »Der Sandmann. Ich werde müde.«
Eine neue Verlegenheit für Gebrüder Barbox!
»Ich glaube nicht, daß man mich heute abend abholen wird«, sagte Polly. »Was glauben Sie?«
Er glaubte es ebensowenig. Als nach einer weiteren Viertelstunde der Sandmann nicht nur drohte, sondern auch wirklich ankam, rief er den Beistand des konstantinopolitanischen Zimmermädchens an. Diese versprach bereitwillig, daß die Kleine in einem behaglichen und sauberen Zimmer schlafen sollte, das sie selbst mit ihr teilen würde.
»Und ich weiß, Sie werden aufpassen«, sagte Gebrüder Barbox, von einer neuen Befürchtung ergriffen, »daß sie nicht aus dem Bett fällt, nicht wahr?«
Polly fand das so spaßhaft, daß sie sich genötigt sah, mit beiden Armen seinen Hals zu umschlingen, während er auf seinem Schemel saß und die Karten auflas. Sie schaukelte ihn hin und her, während ihr Grübchenkinn auf seiner Schulter lag.
»Oh, was Sie doch für ein Ängsterling sind!« sagte Polly. »Fallen Sie aus dem Bett heraus?«
»Gewöhnlich nicht, Polly.«
»Ich auch nicht!«
Damit umarmte ihn Polly noch ein- oder zweimal, um ihn zu beruhigen, legte dann ihr Händchen vertrauensvoll in die Hand des konstantinopolitanischen Zimmermädchens und trippelte schwatzend mit ihr davon, ohne auch nur eine Spur von Ängstlichkeit zu zeigen.
Er blickte ihr nach; ja, als er den Wandschirm bereits hatte entfernen und Tisch und Stühle wieder zurückstellen lassen, blickte er ihr immer noch nach. Er ging eine halbe Stunde lang im Zimmer auf und ab.
»Ein reizendes kleines Geschöpf, aber es ist nicht das. Eine gewinnende kleine Stimme, aber es ist nicht das. Es hat viel damit zu tun, aber es ist noch etwas anderes dabei. Wie kann es möglich sein, daß ich diese Kleine zu kennen scheine? Was rief sie mir undeutlich ins Gedächtnis zurück, als ich auf der Straße ihre Berührung fühlte und, auf sie niederblickend, sie zu mir emporblicken sah?«
Er fuhr auf und wandte sich nach der Stelle um, von wo der Laut der leisen Stimme erklungen war, und sah die Antwort auf seine Frage an der Tür stehen.
»Oh, Mr. Jackson, seien Sie nicht streng gegen mich! Lassen Sie mich ein ermutigendes Wort hören, ich bitte Sie.«
»Sie sind Pollys Mutter.«
»Ja.«
Ja. Eines Tages könnte Polly selbst so aussehen. Wie man an den welken Blättern noch erkennen kann, was die Rose einst war; wie man an den winterlichen Zweigen noch sehen kann, was der blühende Baum im Sommer war; so könnte man eines Tages noch Pollys Züge im Gesicht einer grauhaarigen, sorgengebeugten Frau wie diese hier wiederfinden. Er sah die Asche eines erstorbenen Feuers vor sich, das einst hell lodernd gebrannt hatte. Dies war die Frau, die er geliebt hatte. Dies war die Frau, die er verloren hatte. Seine Phantasie hatte ihr Bild so treu bewahrt und so spurlos waren die Jahre daran vorübergegangen, daß jetzt, wo er sah, wie rauh die unerbittliche Hand der Zeit sie mitgenommen hatte, seine Seele von Staunen und Mitleid erfüllt war.
Er führte sie zu einem Sessel und lehnte sich gegen eine Ecke des Kamins. Sein Haupt ruhte auf seiner Hand und sein Gesicht war halb abgewandt.
»Haben Sie mich auf der Straße gesehen und mich Ihrem Kind gezeigt?« fragte er.
»Ja.«
»Das kleine Geschöpf ist also an der Täuschung beteiligt?«
»Ich will hoffen, daß keine Täuschung besteht. Ich sagte zu Polly: ›Wir sind vom Weg abgekommen, und ich muß versuchen, den meinigen selbst zu finden. Geh zu diesem Gentleman und sage ihm, du hättest dich verirrt. Du wirst bald abgeholt werden.‹ Sie haben vielleicht nicht bedacht, wie klein sie noch ist?«
»Sie ist sehr selbständig.«
»Vielleicht weil sie so klein ist.«
Nach einem kurzen Schweigen fragte er:
»Weshalb haben Sie das getan?«
»Oh, Mr. Jackson, wie können Sie so fragen? In der Hoffnung, daß Sie in meinem unschuldigen Kind etwas sehen möchten, was Ihr Herz gegen mich weicher stimmen könnte. Nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meinen Gatten.«
Er wandte sich plötzlich um und ging nach dem entgegengesetzten Ende des Zimmers. Dann kam er mit langsameren Schritten wieder zurück und nahm seine vorige Stellung wieder ein, indem er sagte:
»Ich glaubte, Sie wären nach Amerika ausgewandert?«
»So ist es. Aber das Leben spielte uns dort übel mit, und wir kehrten in die Heimat zurück.«
»Leben Sie hier in der Stadt?«
»Ja. Ich gebe Musikstunden. Mein Gatte ist Buchhalter.«
»Sind Sie – entschuldigen Sie die Frage – arm?«
»Wir verdienen genug für unsere Bedürfnisse. Das ist auch nicht unser Kummer. Mein Gatte ist schwer krank an einem langwierigen Leiden. Er kann nie wieder gesund werden+…«
»Sie halten inne. Wenn es geschieht, weil Sie das ermutigende Wort, von dem Sie sprachen, vermissen, so nehmen Sie es von mir. Ich kann die alte Zeit nicht vergessen, Beatrice.«
»Gott segne sie!« erwiderte sie mit einem Tränenausbruch und reichte ihm ihre zitternde Hand.
»Fassen Sie sich. Ich kann nicht ruhig sein, wenn Sie es nicht sind, denn Sie weinen zu sehen, bereitet mir unsägliche Schmerzen. Sprechen Sie offen mit mir. Haben Sie Vertrauen zu mir.«
Sie beschattete ihr Gesicht mit ihrem Schleier, und nach einer kurzen Pause fuhr sie mit ruhiger Stimme zu sprechen fort. Der Klang ihrer Stimme erinnerte an Polly.
»Es verhält sich nicht so, daß der Geist meines Gatten irgendwie von seinem körperlichen Leiden mitgenommen wäre; ich versichere Ihnen, das ist nicht der Fall. Aber in seiner Schwäche und in dem Bewußtsein, daß er unheilbar krank ist, kann er sich von einer bestimmten Vorstellung nicht freimachen. Sie nagt an ihm, verbittert jeden Augenblick seines schmerzensreichen Daseins und wird dazu beitragen, es zu verkürzen.«
Da sie innehielt, wiederholte er:
»Sprechen Sie offen mit mir. Haben Sie Vertrauen zu mir.«
»Wir haben vor diesem unserem Liebling fünf Kinder gehabt, die alle in ihren kleinen Gräbern liegen. Er glaubt, daß sie unter einem Fluch dahingegangen sind und daß er auch dieses Kind wie die übrigen treffen wird.«
»Unter welchem Fluch?«
»Es liegt schwer sowohl auf meinem wie auf seinem Gewissen, daß wir Ihnen einen furchtbaren Schmerz zugefügt haben, und wenn ich so krank wäre wie er, würde ich wohl ebensolche geistigen Qualen leiden wie er. Er wiederholt beständig: ›Ich glaube, Beatrice, ich war der einzige Mensch, mit dem Mr. Jackson jemals Freundschaft schloß, obwohl ich um so vieles jünger war als er. Je einflußreicher er im Geschäft wurde, desto mehr beförderte er mich, und ich war sein einziger Vertrauter im Privatleben. Ich trat zwischen ihn und dich und nahm dich ihm. Alles spielte sich heimlich und verschwiegen ab, und der Schlag traf ihn völlig unvorbereitet. Der Schmerz, den es einem so verschlossenen Menschen bereitete, muß entsetzlich gewesen sein; der Zorn, den es in ihm erweckte, nicht zu besänftigen. So kam es, daß ein Fluch über unsere armen hübschen kleinen Blumen ausgesprochen wurde, und sie welken dahin.‹«
»Und Sie, Beatrice«, fragte er, als sie zu sprechen aufgehört hatte, nach einem Schweigen, »was sagen Sie?«
»Bis vor wenigen Wochen fürchtete ich Sie und ich glaubte, daß Sie nie, nie verzeihen würden.«
»Bis vor wenigen Wochen«, wiederholte er. »Haben Sie in diesen wenigen Wochen Ihre Meinung über mich geändert?«
»Ja.«
»Aus welchem Grunde?«
»Ich war im Begriff, mir einige Noten in einem Laden in der Stadt zu kaufen, als Sie zu meinem Schrecken hereintraten. Während ich den Schleier herabließ und mich in den dunklen Teil des Ladens zurückzog, hörte ich, wie Sie erklärten, Sie brauchten ein Musikinstrument für ein bettlägeriges Mädchen. Ihre Stimme und Ihre ganze Art und Weise waren so sanft, Sie zeigten ein solches Interesse bei der Auswahl des Instruments und trugen es mit so viel zärtlicher Sorgfalt und so viel Freude eigenhändig davon, daß ich sah, Sie sind ein Mensch mit einem weichen, empfindsamen Herzen. Oh, Mr. Jackson, Mr. Jackson, wenn Sie die erfrischenden Tränen gefühlt haben könnten, die darauf aus meinen Augen brachen!«
Spielte Phoebe in diesem Augenblick auf ihrem fernen Lager? Es kam ihm vor, als hörte er sie.
»Ich erkundigte mich in dem Laden nach Ihrer Wohnung, konnte aber keine Auskunft erhalten. Da ich Sie hatte sagen hören, daß Sie mit dem nächsten Zug zurückfahren wollten (freilich sagten Sie nicht wohin), beschloß ich, sooft ich konnte, zwischen meinen Unterrichtsstunden die Station um diese Tageszeit aufzusuchen, in der Hoffnung, Ihnen wieder zu begegnen. Ich bin sehr oft dort gewesen, habe Sie aber erst heute wieder zu Gesicht bekommen. Sie waren in Gedanken versunken, als Sie auf der Straße dahingingen, aber Ihr ruhiger Gesichtsausdruck machte mir Mut, meine Kleine zu Ihnen zu schicken. Und als ich sah, wie Sie sich niederbeugten und freundlich mit ihr sprachen, flehte ich zu Gott, er möge mir vergeben, ihnen jemals Kummer gebracht zu haben. Ich flehe jetzt Sie an, mir und meinem Gatten zu vergeben. Ich war damals noch sehr jung, und auch er war ein junger Mensch, und die Jugend versteht in ihrer unwissenden Kühnheit nicht, was sie denen antut, die schon mehr durchgemacht haben. Sie edler Mensch! Sie guter Mensch! Mich so aufzuheben und mein Vergehen für nichts zu achten!« – denn er wollte es nicht dulden, daß sie auf den Knien vor ihm lag, und besänftigte sie, wie ein guter Vater eine irrende Tochter besänftigt haben könnte – »ich danke Ihnen, Gott segne Sie, ich danke Ihnen!«
Als er wieder sprach, geschah es erst, nachdem er den Fenstervorhang beiseite gezogen und eine Zeitlang hinausgeblickt hatte. Dann sagte er bloß:
»Schläft Polly?«
»Ja. Als ich hereinkam, traf ich sie auf dem Weg nach oben und brachte sie selbst zu Bett.«
»Lassen Sie sie morgen bei mir, Beatrice, und schreiben Sie mir Ihre Adresse auf. Am Abend bringe ich sie dann nach Hause zu Ihnen – und zu ihrem Vater.«
»Hallo!« rief Polly, am nächsten Morgen, als das Frühstück bereitstand und streckte ihr freches, lachendes Gesicht zur Tür herein. »Ich dachte, ich würde gestern abend abgeholt?«
»Das wurdest du auch, Polly, aber ich habe darum gebeten, dich für heute hierbehalten zu dürfen und dich abends nach Hause zu bringen.«
»Auf Ehrenwort!« sagte Polly. »Sie sind sehr keck, ist's nicht so?«
Jedoch schien Polly das für einen guten Einfall zu halten, denn sie fügte hinzu:
»Ich glaube, ich muß Ihnen einen Kuß geben, obwohl Sie keck sind.«
Nachdem der Kuß gegeben und empfangen worden war, setzten sie sich, außerordentlich gesprächig aufgelegt, zum Frühstück nieder.
»Sie werden mich natürlich unterhalten?« sagte Polly.
»Oh, natürlich!« sagte Gebrüder Barbox.
Von freudigsten Erwartungen erfüllt, fand Polly es unumgänglich, ihre geröstete Brotschnitte auf den Tisch zu legen, das eine ihrer fetten kleinen Knie über das andere zu kreuzen und mit einem geschäftsmäßigen Schlag ihre fette kleine Rechte auf ihre Linke niederfallen zu lassen. Nachdem sie sich auf diese Weise gesammelt hatte, fragte Polly, die jetzt bloß noch ein Haufen von Grübchen war, mit schmeichelnder Stimme:
»Was werden wir unternehmen, Sie gutes, altes Haus?«
»Nun, ich habe mir gedacht«, sagte Gebrüder Barbox, »… aber magst du Pferde gern, Polly?«
»Ponys mag ich gern«, sagte Polly, »besonders wenn sie lange Schweife haben. Aber Pferde, n-nein, die sind mir zu groß, verstehen Sie.«
»Nun, Polly«, fuhr Gebrüder Barbox fort, mit einer ernsten, geheimnisvollen Vertraulichkeit sprechend, die der Wichtigkeit der Beratung angepaßt war, »ich sah gestern an den Mauern Bilder von zwei langschweifigen, über und über gesprenkelten Ponys+…«
»Nein, nein, nein!« rief Polly, in dem leidenschaftlichen Wunsch, bei den entzückenden Einzelheiten zu verweilen. »Nicht über und über gesprenkelt!«
»Über und über gesprenkelt. Diese Ponys springen durch Reifen+…«
»Nein!« rief Polly. »Sie springen niemals durch Reifen!«
»Doch, sie tun es. O, ich versichere dir, sie tun es! Und sie essen Pasteten in Lätzchen+…«
»Ponys essen Pasteten in Lätzchen!« sagte Polly. »Was Sie doch für ein Geschichtenerzähler sind, nicht wahr?«
»Mein Ehrenwort darauf. – Und feuern Kanonen ab.«
(Polly schien kein rechtes Verständnis dafür zu haben, was Besonderes dabei war, wenn Ponys Feuerwaffen bedienten.)
»Und ich habe mir gedacht«, fuhr der musterhafte Barbox fort, »daß, wenn du und ich in den Zirkus gehen wollten, wo diese Ponys sind, es unseren Konstitutionen guttun würde.«
»Heißt das, uns unterhalten?« fragte Polly. »Was Sie doch für lange Wörter benutzen, nicht wahr?«
In entschuldigendem Ton, weil er die ihm gesteckten Grenzen überschritten hatte, erwiderte er:
»Das heißt, uns unterhalten. Das ist genau das, was es heißt. Es gibt noch viele andere Wunder außer den Ponys, und wir werden sie alle zu sehen bekommen. Ladies und Gentlemen in Flitterkleidern und Elefanten und Löwen und Tiger.«
Polly richtete mit gekräuselter Nase, die eine gewisse geistige Unruhe verriet, ihre Augen auf den Teetopf.
»Sie kommen natürlich niemals heraus«, bemerkte sie als eine bloße Selbstverständlichkeit.
»Die Elefanten und Löwen und Tiger? O nein!«
»O nein!« sagte Polly. »Und natürlich hat niemand Angst, daß diese Ponys jemand totschießen.«
»Nicht im mindesten!«
»Nein, nein, nicht im mindesten«, sagte Polly.
»Ich habe mir auch gedacht«, fuhr Barbox fort, »daß, wenn wir mal in den Spielzeugladen hineingucken wollten, um eine Puppe auszusuchen+…«
»Nicht angezogen?« rief Polly mit einem Zusammenschlagen ihrer Hände. »Nein, nein, nein, nicht angezogen!«
»Vollständig angezogen. Zusammen mit einem Haus und allen Sachen, die für den Haushalt nötig sind+…«
Polly stieß einen kleinen Schrei aus und drohte vor Freude in Ohnmacht zu fallen.
»Was für ein Liebling Sie sind!« rief sie matt, indem sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte. »Kommen Sie, und lassen Sie sich umarmen, oder ich muß kommen und Sie umarmen.«
Dieses glanzvolle Programm wurde mit äußerster Gesetzesstrenge in die Tat umgesetzt. Da es wichtig war, den Einkauf der Puppe als ersten Punkt zu erledigen – denn sonst wären dieser Dame die Ponys entgangen –, so kam die Expedition nach dem Spielzeugladen vor allem anderen. Freilich, als Polly in dem zauberhaften Warenhaus stand, eine Puppe, die so lang war wie sie selbst, unter jedem Arm und eine schöne Auswahl von einigen weiteren zwanzig, die auf dem Ladentisch ausgebreitet waren, vor sich, bot sie ein Bild der Unentschlossenheit, das nicht ganz mit ungemischtem Glück vereinbar war, aber die leichte Wolke ging vorüber. Das liebliche Exemplar, das am häufigsten erwählt, am häufigsten verworfen und schließlich endgültig behalten wurde, war von tscherkessischer Herkunft, besaß so viel stolze Schönheit, wie sich mit einem äußerst schwachen Mund vereinigen ließ, und war angetan mit einer Kombination von einer himmelblauen Seidenmantille mit rosafarbenen Satinhosen und einem schwarzen Samthut – welches Kostüm dieser schöne Fremdling an unseren nordischen Gestaden von Porträts der verstorbenen Herzogin von Kent entlehnt zu haben schien. Der Name, den diese vornehme Fremde aus den heißen Gegenden eines sonnigen Klimas mit sich brachte, war (auf Pollys Gewähr hin) Miß Melluka, und die Kostbarkeit ihrer Ausstattung als Haushälterin aus den Koffern von Gebrüder Barbox kann aus den beiden Tatsachen geschlossen werden, daß ihre silbernen Teelöffel so groß wie das Feuereisen in ihrer Küche waren und daß ihre Uhr ihre Bratpfanne an Umfang übertraf.
Miß Melluka geruhte gnädig, dem Zirkus ihren rückhaltlosen Beifall zu zollen, und das gleiche tat Polly. Denn die Ponys waren wirklich gesprenkelt und brachten niemand zu Boden, als sie feuerten, und die Wildheit der Raubtiere schien bloßer Rauch zu sein – den sie auch in großen Mengen aus ihrem Innern hervorstießen. Es war wiederum ein sehenswerter Anblick, wie Gebrüder Barbox während des Genusses dieser Köstlichkeiten mit Leib und Seele bei der Sache war; und nicht weniger war das beim Essen der Fall. Er trank Miß Melluka zu, die auf einem Stuhl Polly gegenüber festgebunden war (denn die schöne Tscherkessin besaß keinen biegsamen Rücken), und er veranlaßte sogar den Kellner, seinerseits mit gebührendem Anstand an dem bezaubernden Spiel mitzuwirken. Zum Schluß kam die angenehme Aufregung, Miß Melluka und ihre ganze Garderobe und sonstige reiche Habe mit Polly in eine Droschke zu laden, um sie nach Hause zu bringen. Aber inzwischen war Polly unfähig geworden, auf solche gehäuften Freuden mit wachen Augen zu blicken, und hatte ihr Bewußtsein in das Wunderparadies eines Kinderschlafs zurückgezogen.
»Schlaf, Polly, schlaf«, sagte Gebrüder Barbox, während ihr Köpfchen auf seine Schulter niedersank; »jedenfalls sollst du aus diesem Bett nicht so leicht herausfallen!«
Was für ein raschelndes Stück Papier er aus seiner Tasche hervorzog und sorgfältig in den Busen von Pollys Kleid einwickelte, davon soll hier nicht die Rede sein. Er sagte nichts darüber, und es soll nichts darüber gesagt werden. Sie fuhren in einen bescheidenen Vorort der großen, betriebsamen Stadt und machten an dem Vorhof eines kleinen Hauses halt.
»Weckt die Kleine nicht auf«, sagte Gebrüder Barbox leise zu dem Kutscher. »Ich werde sie, so wie sie ist, hineintragen.«
Das Licht an der geöffneten Tür, das von Pollys Mutter gehalten wurde, begrüßend, trat Pollys Träger mit Mutter und Kind in ein Zimmer im Erdgeschoß ein. Darin lag, auf einem Sofa ausgestreckt, ein kranker, erbärmlich mitgenommener Mann, der die Augen mit seinen ausgemergelten Händen bedeckte.
»Tresham«, sagte Barbox mit freundlicher Stimme, »ich habe Ihnen Ihre Polly fest schlafend zurückgebracht. Geben Sie mir Ihre Hand, und sagen Sie mir, daß es Ihnen bessergeht.«
Der Kranke streckte seine Rechte aus, beugte den Kopf über die Hand, die die seine ergriff, und küßte sie.
»Danke, Danke! Jetzt kann ich sagen, daß ich wohl und glücklich bin.«
»Das ist brav«, sagte Barbox. »Tresham, ich habe einen Einfall – können Sie hier neben Ihnen für mich Platz schaffen?«
Er setzte sich auf das Sofa nieder, während er diese Worte sprach, und streichelte die runde, pfirsichweiche Wange, die auf seiner Schulter lag.
»Ich hatte den Einfall, Tresham (Sie wissen, ich werde jetzt ein alter Mann, und alte Leute dürfen sich zuweilen sonderbare Einfälle erlauben), Polly, nachdem ich sie gefunden habe, an niemand als an Sie auszuliefern. Wollen Sie sie von mir nehmen?«
Während der Vater seine Arme nach dem Kind ausstreckte, blickte jeder der beiden Männer fest den anderen an.
»Sie ist Ihnen sehr teuer, Tresham?«
»Unaussprechlich teuer.«
»Gott segne sie! Es hat nicht viel zu bedeuten, Polly«, fuhr er fort, seine Augen auf ihr friedliches Gesicht richtend, während er sie ansprach, »es hat nicht viel zu bedeuten, Polly, wenn ein blinder und sündiger Mann einen Segen herabfleht auf ein so viel besseres Wesen als er selbst, wie es ein kleines Kind ist. Aber es würde viel zu bedeuten haben – eine schwere Last auf seinem grausamen Haupt und seiner schuldbeladenen Seele –, wenn er so ruchlos sein könnte, einen Fluch auszusprechen. Es wäre ihm wohler, man täte einen Mühlstein um seinen Hals und würfe ihn in die tiefste See. Lebe und gedeihe, mein hübsches Kind!« Hier küßte er sie. »Lebe und sei glücklich und werde im Laufe der Zeit die Mutter von anderen kleinen Kindern, gleich den Engeln, die des Vaters Antlitz schauen!«
Er küßte sie nochmals, übergab sie vorsichtig ihren Eltern und verließ das Zimmer.
Aber er fuhr nicht nach Wales. Nein, ganz und gar nicht. Er unternahm vielmehr abermals eine Wanderung durch die Stadt und beobachtete die Leute bei ihrer Arbeit und bei ihrem Vergnügen hier und dort, überall und ringsumher. Denn er war jetzt Gebrüder Barbox und Co. und hatte Tausende von Partnern in die einsame Firma aufgenommen.
Er war schließlich in sein Hotelzimmer zurückgekehrt und stand jetzt vor dem Feuer und erfrischte sich mit einem Glas heißen Getränks, das er auf den Kaminsims gestellt hatte. Auf einmal hörte er die Stadtuhren schlagen, und als er auf seine Taschenuhr blickte, sah er, daß der Abend unversehens vergangen und es zwölf Uhr war. Während er seine Uhr wieder einsteckte, trafen seine Augen auf diejenigen seines Abbildes in dem Spiegel, der über dem Kamin hing.
»Nun, es ist bereits Geburtstag«, sagte er lächelnd. »Du siehst sehr gut aus. Ich wünsche dir viele glückliche Wiederholungen des Tages.«
Er hatte noch nie zuvor diesen Wunsch zu sich selbst ausgesprochen.
»Beim Jupiter!« rief er aus, als habe er eine Entdeckung gemacht. »Das ändert die ganze Sache mit dem Davonlaufen vor dem eigenen Geburtstag! Ich muß das Phoebe erklären. Außerdem ist hier eine ganze lange Geschichte für sie, die sich aus der Linie, die keine Geschichte hatte, entwickelt hat. Ich werde zurückfahren, anstatt weiterzufahren. Ich werde gleich mit dem nächsten Zug zurückkehren!«
Er fuhr nach Mugby zurück und ließ sich für immer in Mugby nieder. Es war der bequemste Aufenthaltsort, um Phoebes Leben glücklicher zu gestalten. Es war der bequemste Aufenthaltsort, um ihr von Beatrice Musikstunden geben zu lassen. Es war der bequemste Aufenthaltsort, um sich gelegentlich Polly auszuborgen. Es war der bequemste Aufenthaltsort, um nach Belieben mit allen möglichen angenehmen Orten und Personen verbunden zu werden. So ließ er sich also dort nieder, und da sein Haus auf einem hochgelegenen Platz stand, so kann man zum Schluß von ihm sagen, wie Polly selbst (nicht unehrerbietig) sich ausgedrückt haben könnte:
»Ein alter Barbox wohnt' einst auf einem Berge droben,
Und wenn er noch nicht fort ist, so wohnt er noch dort oben.«
Hier folgt einiges, was der Gentleman nach nirgendwohin bei seinem sorgfältigen Studium der Station gesehen, gehört oder anderweitig aufgelesen hat.
* * *
Ich bin der Junge in Mugby. Soviel zu mir.
Sie verstehen nicht, was ich sagen will? Das ist schade. Aber ich bin der Meinung, Sie sollten es, ja, Sie müßten es verstehen. Sehen Sie einmal her. Ich bin der Junge in dem, was man den Erfrischungsraum auf der Station Mugby nennt und dessen stolzester Ruhm es ist, daß darin noch niemals jemand eine Erfrischung gefunden hat.
In einer Ecke des Erfrischungsraums der Station Mugby, siebenundzwanzig einander kreuzenden Luftzügen ausgesetzt (ich habe sie oft gezählt, während sie das Haar der Passagiere in der ersten Klasse in siebenundzwanzig verschiedenen Richtungen kämmten), hinter den Flaschen, zwischen den Gläsern, im Nordwesten durch den Bierzapfen begrenzt, ziemlich weit zur Rechten von einem metallischen Gegenstand, der bisweilen die Teemaschine und bisweilen die Suppenterrine darstellt, je nach dem letzten Geschmackszusatz, der seinem in der Hauptsache immer gleichen Grundinhalt mitgeteilt worden ist, von dem Reisenden durch eine Barriere von auf dem Ladentisch aufgehäuften altbackenen Hörnchen getrennt und schließlich von der Seite dem starren Auge unserer Missis ausgesetzt – verlangen Sie von einem Jungen, der sich in dieser Lage befindet, das nächstemal, wenn Sie auf einen Augenblick in Mugby den Zug verlassen, etwas zu trinken; achten Sie besonders darauf, wie er sich den Anschein geben wird, Sie nicht gehört zu haben, daß es vielmehr so aussehen wird, als betrachte er geistesabwesend die Eisenbahnlinie durch ein durchsichtiges Medium, das sich aus Ihrem Kopf und Körper zusammensetzt, und daß er Sie so lange nicht bedienen wird, wie Sie es irgend ertragen können – und dann können Sie wissen, daß ich das bin.
Was für ein Spaß das ist! Wir sind der musterhafteste Erfrischungsraum, wir in ganz Mugby. Andere Erfrischungsräume schicken ihre jungen Damen zu uns, damit sie von unserer Missis den letzten Schliff bekommen. Denn einige der jungen Damen, die neu in dem Geschäft sind, sind noch ganz zahm! Ah! Unsere Missis treibt ihnen das bald aus. Ja, ich selbst war ganz zahm und mild, als ich zuerst in das Geschäft kam. Aber unsere Missis hat mir das bald ausgetrieben.
Was für ein köstlicher Spaß das ist! Meiner Ansicht nach stehen wir Erfrischungsräumler als die einzigen der ganzen Linie auf dem Fuß stolzer Unabhängigkeit. Da ist zum Beispiel der Zeitungsjunge – mein ehrenwerter Freund, wenn er mir gestatten will, ihn so zu nennen – der Junge von Smiths Bücherstand. Er würde es ebensowenig wagen, sich eine von unseren Erfrischungsraummanieren zu leisten, wie er es wagen würde, auf eine Lokomotive, deren Dampf unter vollem Druck steht, aufzuspringen und allein als Führer mit mäßiger Schnellzugsgeschwindigkeit auf ihr davonzufahren. Der Zeitungsjunge würde an jedem Abteil, erster, zweiter und dritter Klasse, den ganzen Zug entlang, Kopfnüsse einzustecken haben, wenn er den Versuch machte, mein Benehmen nachzuahmen. Dasselbe gilt für die Träger, die Schaffner, die Fahrkartenverkäufer bis hinauf zu dem Sekretär, dem Verkehrsleiter und sogar dem Direktor der Gesellschaft. Nicht ein einziger unter ihnen steht auf dem Fuß vornehmer Unabhängigkeit, auf dem wir uns befinden. Haben Sie etwa jemals einen von denen, wenn Sie etwas von ihnen wollten, dabei ertappt, daß er das System in Anwendung brachte, die Linie durch ein durchsichtiges Medium, das sich aus Ihrem Kopf und Körper zusammensetzt, zu betrachten? Ich denke, wohl niemals.
Sie müßten einmal unseren Pomadenraum auf Station Mugby sehen. Man gelangt zu ihm durch die Tür hinter dem Schenktisch, die, wie Sie bemerken werden, gewöhnlich halb angelehnt steht, und es ist der Raum, wo unsere Missis und unsere jungen Damen ihr Haar pomadisieren. Sie sollten sie beobachten, wie sie zwischen den Zügen drauflospomadisieren, als salbten sie sich für die Schlacht. Wenn der Telegraph den Zug anzeigt, dann müßten Sie einmal sehen, wie ihre Nasen verächtlich in die Höhe gehen, als würden sie von derselben elektrischen Maschinerie wie der Telegraph in Bewegung gesetzt. Sie müßten mit anhören, wie unsere Missis die Parole ausgibt: »Jetzt kommen die wilden Tiere zur Fütterung!«, und dann müßten Sie einmal erleben, wie widerwillig sie über die Schienen hüpfen, vom oberen Erfrischungsraum nach dem unteren oder umgekehrt, und sich daranmachen, das altbackene Gebäck auf die Teller zu werfen, die Sägemehlbutterbrote unter die Glasglocken zu stoßen und den – ha, ha, ha! – den Sherry – ach du lieber Gott, du lieber Gott! – zu Ihrer Erfrischung hervorzuholen.
Es geschieht nur auf der Insel der Braven und im Lande der Freien (womit ich natürlich Großbritannien meine), daß das Erfrischungennehmen eine so wirkungsvolle, heilsame, konstitutionelle Hemmung für das Publikum ist. Einstmals betrat ein Fremder den Raum und bat unsere jungen Damen und unsere Missis höflich mit abgezogenem Hut um ein kleines Glas Branntwein. Als sich daraufhin alle die Schienen durch ihn hindurch ansahen und keinerlei Notiz von ihm nahmen, machte er schließlich Anstalten, sich selbst zu bedienen, wie es in seinem Heimatland üblich zu sein scheint. Aber da fiel unsere Missis, deren Haar sich vor Wut fast entpomadisierte und aus deren Augen Funken sprühten, über ihn her, riß ihm die Karaffe aus der Hand und schrie:
»Stellen Sie sie hin! Ich erlaube das nicht!«
Der Fremde wurde blaß, trat mit ausgestreckten Armen und zusammengeschlagenen Händen einige Schritte zurück und rief:
»Ah! Sollte man das für möglich halten? Daß diese hochmütigen Mädchen und dieses wütende alte Weib von der Verwaltung hierhergesetzt worden sind, die Reisenden nicht nur zu vergiften, sondern auch sie zu beleidigen! Großer Gott! Wie kommt das? Diese Engländer! Sind sie denn Sklaven oder Idioten?«
Ein andermal hatte ein fröhlicher amerikanischer Gentleman, der sich nichts vormachen ließ, das Sägemehl versucht und es ausgespuckt und hatte den Sherry versucht und den ausgespuckt und hatte vergeblich versucht, seine erschöpften Kräfte durch eine Stange Zuckerzeug wiederherzustellen. Außerdem war er noch mehr als üblich pomadisiert und die Eisenbahnlinie durch ihn hindurch noch länger betrachtet worden, und als die Glocke läutete und er unsere Missis bezahlte, fragte er sehr laut und in gutmütigem Ton:
»Ich will Ihnen etwas sagen, Ma'am. Ich lache. Tatsächlich! Ich lache. Das tue ich. Ich habe schon allerhand gesehen, denn ich komme von der unbegrenzten Seite des Atlantischen Ozeans und habe ein gutes Stück seiner begrenzten Seite bereist, Jerusalem und den Osten und Frankreich und Italien, die ganze alte Welt Europas, und ich bin jetzt auf der Fahrt nach dem größten europäischen Nest; aber eine solche Einrichtung wie Sie und Ihre jungen Damen und Ihre festen und flüssigen Erfrischungen, das habe ich beim ewigen Gott noch nie gesehen! Und wenn ich in Ihnen und Ihren jungen Damen und Ihren festen und flüssigen Erfrischungen in einem Land, wo die Leute nicht vollkommen verrückt sind, nicht das achte Weltwunder gefunden habe, so hole mich der und jener! Deshalb lache ich! Das tue ich, Ma'am. Ich lache!«
Und damit ging er davon, den ganzen Bahnsteig entlang bis zu seinem Abteil mit den Füßen stampfend und sich vor Lachen schüttelnd.
Ich glaube, es war ihr erfolgreiches Auftreten gegen den Fremden, das unsere Missis auf den Einfall kommen ließ, nach Frankreich hinüberzugehen. Sie wollte dort das Erfrischungsgeschäft, wie es unter den Froschverzehrern üblich ist, mit dem Erfrischungsgeschäft vergleichen, wie es auf der Insel der Braven und im Lande der Freien (womit ich natürlich wiederum Großbritannien meine) triumphiert. Unsere jungen Damen, Miß Whiff, Miß Piff und Mrs. Sniff, waren einmütig gegen diese Reise. Denn, wie sie zu unserer Missis wie aus einem Mund sagten, es ist bis ans Ende der Welt wohlbekannt, daß kein anderes Volk, außer dem englischen, von irgend etwas eine richtige Vorstellung hat, besonders aber vom Geschäft, Weshalb wolle sie sich also ermüden, um etwas zu beweisen, was schon bewiesen sei? Unsere Missis aber, die stets ein Querkopf ist, blieb hartnäckig bei ihrem Entschluß und ließ sich ein Freiretourbillett für die südöstliche Linie geben, um, wenn es ihr so gefiele, geradewegs bis nach Marseille zu fahren.
Sniff ist der Gatte von Mrs. Sniff und ein ganz unbedeutender Mensch. Er besorgt in einem Hinterzimmer die Sägemehlabteilung, und bisweilen, wenn uns die Umstände durchaus dazu nötigen, wird er mit einem Korkenzieher hinter den Schenktisch gelassen. Aber das geschieht nur in einer äußersten Zwangslage, denn er legt dem Publikum gegenüber ein widerwärtig kriechendes Benehmen an den Tag. Wie Mrs. Sniff sich jemals so weit erniedrigen konnte, ihn zu heiraten, das weiß ich nicht. Aber vermutlich weiß er es, und, soviel ich glaube, wünschte er lieber, es wäre nicht geschehen, denn er führt ein trauriges Dasein. Mrs. Sniff könnte nicht viel härter gegen ihn sein, wenn er Publikum wäre. Auch Miß Whiff und Miß Piff nehmen ihm gegenüber den Ton von Mrs. Sniff an und stoßen ihn umher, wenn er einmal mit einem Korkenzieher hereingelassen wird. Sie schnappen ihm Dinge aus der Hand, die er in seiner Unterwürfigkeit dem Publikum geben will, sie fallen ihm ins Wort, wenn er in der kriechenden Niedrigkeit seines Gemüts eine Frage des Publikums beantworten will, sie bringen mehr Tränen in seine Augen, als es jemals der Senf tut, den er den ganzen Tag lang über das Sägemehl ausbreitet. (Obwohl er gar nicht stark ist.) Einmal, als sich Sniff die abstoßende Handlungsweise zuschulden kommen ließ, die Hand nach dem Milchtopf auszustrecken, um ihn für ein kleines Kind hinüberzureichen, da sah ich, wie unsere Missis ihn in ihrer Wut an beiden Schultern packte und in den Pomadisierraum hineindrehte.
Dagegen Mrs. Sniff – welch ein Gegensatz! Das ist eine! Das ist eine, die immer anderswohin blickt, wenn Sie sie ansehen. Das ist eine mit einer schmalen Taille, die vorn eng zugeschnürt ist, und mit Spitzenmanschetten an den Handgelenken, die sie auf dem Rand des Schenktisches vor sich ausbreitet und glättet, während das Publikum schäumt. Dieses Glätten der Manschetten und das Anderswohinblicken, während das Publikum schäumt, ist der letzte Firnis, der den jungen Damen, die zur Vollendung ihrer Ausbildung nach Mugby zu unserer Missis geschickt werden, zuteil wird, und es ist stets Mrs. Sniff, die es ihnen beibringt.
Als unsere Missis ihre Reise antrat, ließ sie Mrs. Sniff als Stellvertreterin zurück, und sie hielt das Publikum prachtvoll im Zaum. Während meiner ganzen Zeit habe ich nie so viele Tassen ohne Milch an Leute abgeben sehen, die den Tee mit Milch haben wollten, noch so viele Tassen Tee mit Milch an Leute, die ihn ohne haben wollten. Wenn darauf ein Wutausbruch erfolgte, so pflegte Mrs. Sniff zu sagen:
»Machen Sie das doch unter sich ab und tauschen Sie miteinander.«
Es war ein Kapitalspaß. Das Erfrischungsgeschäft gefiel mir mehr denn je, und ich war von Herzen froh, daß ich in der Jugend diesen Beruf ergriffen hatte.
Unsere Missis kam wieder nach Hause. Unter den jungen Damen ging das Gerücht, und es drang sozusagen durch die Spalten des Pomadisierraumes zu mir durch, daß sie Greuel zu enthüllen hatte, wenn so verächtliche Enthüllungen diese Bezeichnung wert waren. Aufregung erwachte. Unruhe stand in den Steigbügeln. Erwartung stellte sich auf die Zehenspitzen. Schließlich hieß es, daß an diesem Abend zwischen den Zügen unsere Missis im Pomadisierraum ihre Ansichten über ausländische Erfrischungsmethoden zum besten geben würde.
Der Raum wurde für diesen Zweck geschmackvoll hergerichtet. Der Pomadisiertisch und -spiegel wurde in einer Ecke verstaut, ein Lehnstuhl für unsere Missis auf eine Packkiste gehoben und ein Tisch mit einem Glas Wasser darauf (kein Sherry darin, danke schön) danebengestellt. Da es Herbst war und Stockrosen und Dahlien blühten, so schmückten zwei von den Schülerinnen die Wand mit drei aus diesen Blumen hergestellten Sinnsprüchen. Der eine lautete: »Möge Albion niemals lernen«; der andere: »Haltet das Publikum nieder«; der dritte: »Unser Erfrischungs-Freibrief.« Das Ganze machte einen schönen Eindruck, mit dem die Schönheit des Inhalts der Sprüche auf das beste übereinstimmte.
Auf der Stirn unserer Missis stand Strenge geschrieben, als sie das unheildrohende Podest bestieg. (Das war freilich an sich nichts Neues.) Miss Whiff und Miß Piff saßen zu ihren Füßen. Drei Stühle aus dem Wartezimmer, auf denen die Schülerinnen vor ihr saßen, hätten von einem Durchschnittsauge wahrgenommen werden können. Hinter ihnen hätte ein sehr scharfer Beobachter einen Jungen erkennen können. Mich nämlich.
»Wo«, sprach unsere Missis, finster um sich blickend, »ist Sniff?«
»Ich hielt es für besser, ihn nicht hereinkommen zu lassen«, erwiderte Mrs. Sniff. »Er ist solch ein Esel.«
»Zweifellos«, pflichtete unsere Missis bei. »Aber ist es nicht gerade deshalb wünschenswert, seinen Geist zu bilden?«
»Oh, nichts wird ihn jemals bilden«, sagte Mrs. Sniff.
»Immerhin«, fuhr unsere Missis fort, »ruf ihn herein, Ezechiel.«
Ich rief ihn herein. Die Erscheinung des niedriggesinnten Burschen wurde von allseitigen Mißbilligungsäußerungen begleitet, weil er seinen Korkenzieher mitgebracht hatte. Er wandte zur Entschuldigung »die Macht der Gewohnheit« ein.
»Die Macht!« fragte Mrs. Sniff. »Sprich du uns um Himmels willen nicht von Macht. Da! Bleib still stehen, wo du bist, und lehne dich mit dem Rücken gegen die Wand.«
Er ist ein lächelndes Stück Albernheit, und er lächelte in der niedrigen Art, in der er sogar dem Publikum zulächelt, wenn er Gelegenheit dazu hat. (Was das Niedrigste ist, das man von einem Menschen aussagen kann.) So stand er aufrecht neben der Tür mit dem Hinterkopf an die Wand gepreßt, als wartete er auf jemand, der kommen und sein Soldatenmaß nehmen sollte.
»Meine Damen«, sagte unsere Missis, »ich würde mich auf die abstoßenden Enthüllungen, die ich zu machen im Begriff bin, nicht einlassen, wenn ich nicht die Hoffnung hegte, daß Sie sich dadurch veranlaßt fühlen werden, noch unerbittlicher in der Ausübung der Gewalt zu sein, die Sie in einem konstitutionellen Lande besitzen, und noch mehr dem konstitutionellen Wahlspruch ergeben, den ich vor mir sehe« – er war hinter ihr, aber die Rede klang so besser – »Möge Albion niemals lernen!«
Hier blickten die Schülerinnen, die den Wahlspruch angefertigt hatten, bewundernd darauf hin und riefen: »Hört! Hört! Hört!« Sniff, der eine Neigung zeigte, sich dem Chore anzuschließen, wurde von jeder finster gerunzelten Stirn in seine Schranken zurückgewiesen.
»Die niedrige Gesinnung der Franzosen«, fuhr unsere Missis fort, »die sich in der kriechenden Art ihrer Erfrischungseinrichtungen zeigt, kommt allem gleich, was jemals von der niedrigen Gesinnung des gefeierten Bonaparte vernommen wurde, oder übertrifft es sogar.«
Miß Whiff, Miß Piff und ich taten einen schweren Atemzug, so als wollten wir damit sagen: »Das haben wir uns gedacht!« Da Miß Whiff und Miß Piff es übelzunehmen schienen, daß ich den meinigen zusammen mit ihnen tat, tat ich noch einen zweiten, um sie zu ärgern.
»Werden Sie mir glauben«, sagte unsere Missis mit blitzenden Augen, »wenn ich Ihnen sage, daß ich, sowie ich meinen Fuß auf diesen verräterischen Strand gesetzt hatte+…«
Hier bemerkte Sniff, entweder weil er verrückt geworden war oder laut denkend, mit leiser Stimme:
»Füße. Mehrzahl, wie Sie wissen.«
Die Einschüchterung, die über ihn kam, als alle Augen finster auf ihn gerichtet waren, zusammen mit der Tatsache, daß ihn niemand einer Antwort würdigte, war für einen so niedrigen Burschen eine genügende Strafe. Während eines Schweigens, das durch die gerümpften weiblichen Nasen, von denen es durchdrungen war, noch eindrucksvoller gemacht wurde, fuhr unsere Missis fort:
»Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich, sowie ich an diesem verräterischen Strand gelandet war«, dieses Wort mit einem tödlichen Blick auf Sniff, »in einen Erfrischungsraum geleitet wurde, wo es – ich übertreibe nicht – wirklich eßbare Dinge zu essen gab?«
Ein Stöhnen brach aus der Brust der Damen. Ich gab mir nicht nur die Ehre mit einzustimmen, sondern es auch möglichst lang zu machen.
»Wo es«, fügte unsere Missis hinzu, »nicht nur eßbare Dinge zu essen, sondern auch trinkbare Dinge zu trinken gab?«
Ein Murmeln, das fast zu einem Schrei anschwoll, erhob sich. Miß Piff, die vor Entrüstung zitterte, rief:
»Im einzelnen?«
»Ich will es im einzelnen aufzählen«, sagte unsere Missis. »Es gab gebratenes Geflügel, warm und kalt. Es gab dampfenden Kalbsbraten mit Bratkartoffeln. Es gab heiße Suppe mit (ich fragte mich wiederum, ob man mir glauben wird?) nichts Bitterem darin und ohne Mehl, um den Verzehrer zu ersticken. Es gab verschiedene kalte Gerichte mit Gelee. Es gab Salat. Es gab – achten Sie auf meine Worte! – frisches leichtes Backwerk. Es gab eine Auswahl von appetitlichen Früchten. Es gab Flaschen und Karaffen mit gutem leichtem Wein von jeder Größe und für jede Tasche. Dieselbe abstoßende Tatsache war für Branntwein festzustellen. Und alles das war auf dem Schenktisch ausgestellt, so daß jeder sich nehmen konnte, was er wollte.«
Die Lippen unserer Missis zitterten so heftig, daß Mrs. Sniff, obwohl sie kaum weniger angegriffen war als die Erzählerin, aufstand und das Wasserglas daranhielt.
»Dies«, fuhr unsere Missis fort, »war meine erste unkonstitutionelle Erfahrung. Wohl mir, wenn es meine letzte und schlimmste gewesen wäre. Aber nein. Als ich weiter in dieses unwissende Sklavenland hineinfuhr, wurde sein Anblick immer gräßlicher. Ich brauche doch dieser Versammlung die Bestandteile und die Herstellung des britischen Erfrischungs-Sandwichs nicht auseinanderzusetzen?«
Allgemeines Gelächter – mit Ausnahme von Sniff, der, als Sandwich-Schneider, in einem Zustand äußerster Hoffnungslosigkeit seinen Kopf schüttelte, während er mit diesem gegen die Wand gepreßt dastand.
»Nun!« sagte unsere Missis mit geblähten Nüstern. »Nehmen Sie ein frisches, knuspriges, langes, braungebackenes Pennybrot, aus dem weißesten und besten Mehl hergestellt. Schneiden Sie es der Länge nach durch. Fügen Sie eine schöne und genau passende Schinkenschnitte ein. Binden Sie ein hübsches buntes Band um die Mitte des Ganzen, um es zusammenzuhalten. Bringen Sie an einem Ende einen handlichen Umschlag von sauberem weißen Papier an, mit dem man es anfassen kann. Und der allgemeine französische Erfrischungs-Sandwich erscheint vor Ihren angeekelten Augen.«
Ein Schrei »Schändlich!« aus aller Munde – mit Ausnahme von Sniff, der sich besänftigend den Magen rieb.
»Ich brauche doch dieser Versammlung nicht die gewöhnliche Einrichtung und Ausstattung des britischen Erfrischungsraumes auseinanderzusetzen?« sagte unsere Missis.
Nein, nein und Gelächter. Sniff schüttelte in niedergeschlagener Stimmung wieder den Kopf und preßte ihn gegen die Wand.
»Nun«, sagte unsere Missis, »was würden Sie dann dazu sagen, daß alles dekoriert ist, daß es Vorhänge gibt, die bisweilen geradezu elegant sind, ferner bequeme Samtsessel, eine Menge kleiner Tische, eine Menge kleiner Stühle, flinke, freundliche Kellner, große Bequemlichkeit und überall eine Reinlichkeit und eine geschmackvolle Ausstattung, die das Publikum in jeder Hinsicht angenehm berühren und bei diesem Tier den Gedanken erregen muß, daß es die Mühe wert sei?«
Wut und Verachtung bei allen Damen. Mrs. Sniff macht ein Gesicht, als brauchte sie jemanden, der sie festhielte, und die übrigen sehen aus, als wollten sie es lieber nicht tun.
»Dreimal«, sagte unsere Missis, sich in einen wirklich furchtbaren Zorn hineinsteigernd – »dreimal habe ich diese schändlichen Dinge allein zwischen der Küste und Paris zu sehen bekommen: in Hazebroucke, in Arras und in Amiens. Aber es kommt noch schlimmer! Sagen Sie mir, was für eine Bezeichnung würden Sie einem Menschen beilegen, der in England den Vorschlag machte, daß man, etwa auf unserer eigenen musterhaften Station Mugby, hübsche Körbchen bereithalten sollte, jedes mit einem ausgesuchten kalten Lunch und Nachtisch für eine Person, das jeder Reisende für einen bestimmten Preis mitnehmen könnte, um den Inhalt im Zug in vollkommener Ruhe zu verzehren und dann das Körbchen an einer anderen Station zehn oder zwanzig Meilen weiter wieder abzugeben?«
Die Meinungen waren geteilt, was für eine Bezeichnung man einem solchen Menschen beilegen sollte. Ob Revolutionär, Atheist, gescheiter Kerl (dafür stimme ich) oder Nicht-Engländer. Miß Piff gab als letzte mit schriller Stimme ihre Meinung in den Worten ab:
»Ein boshafter Wahnsinniger!«
»Ich entscheide mich für das Brandmal«, sagte unsere Missis, »das die gerechte Empörung meiner Freundin Miß Piff einem solchen Menschen eindrückt. Ein boshafter Wahnsinniger! So erfahren Sie denn, daß dieser boshafte Wahnsinnige aus dem geistesverwandten Boden Frankreichs entsprungen ist und daß seine boshafte Tollheit auf diesem selben Abschnitt meiner Reise in ungehemmter Tätigkeit war.«
Ich bemerke, daß Sniff seine Hände rieb und daß Mrs. Sniff ihn scharf anblickte. Aber ich setzte meine Beobachtungen nicht weiter fort, weil die jungen Damen in einem Zustand höchster Erregung waren und ich mich verpflichtet fühlte, mich meinerseits durch ein Geheul an der allgemeinen Stimmung zu beteiligen.
»Über meine Erfahrungen südlich von Paris«, sagte unsere Missis mit tiefer Stimme, »will ich mich nicht verbreiten. Es wäre eine zu widerwärtige Aufgabe! Aber stellen Sie sich folgendes vor: Stellen Sie sich vor, daß ein Schaffner durch den Zug geht, während dieser sich in voller Fahrt befindet, und fragt, wieviel Diners auf der nächsten Station gewünscht werden. Stellen Sie sich vor, das Essen wird telegraphisch vorausbestellt! Stellen Sie sich vor, daß jeder erwartet ist und der Tisch für die ganze Gesellschaft elegant gedeckt ist. Stellen Sie sich ein reizendes Diner in einem reizenden Zimmer vor, wobei der Küchenchef, dem ein jedes Gericht am Herzen liegt, in seiner sauberen weißen Jacke und Kappe die Aufsicht führt. Stellen Sie sich das Tier vor, wie es hundertundzwanzig Meilen hintereinander sehr rasch und mit größter Pünktlichkeit reist und dabei noch in der Erwartung gehalten wird, daß man alles dies für es tut!«
Ein lebhafter Chor rief: »Das Tier!«
Ich bemerkte, daß Sniff wiederum besänftigend seinen Magen rieb und daß er ein Bein hochgezogen hatte. Aber ich setzte wiederum meine Beobachtungen nicht weiter fort, da ich mich verpflichtet fühlte, die öffentliche Meinung anzustacheln. Außerdem war es ein Riesenspaß.
»Wenn man alles zusammennimmt«, sagte unsere Missis, »kommt das französische Erfrischungsgeschäft auf folgendes hinaus, und es ist wahrhaftig ein schönes Ergebnis! Erstens: eßbare Dinge zu essen und trinkbare Dinge zu trinken.«
Ein Stöhnen der Damen, das von mir unterstützt wurde.
»Zweitens: Bequemlichkeit und sogar Eleganz.«
Wieder ein Stöhnen der jungen Damen, das ich unterstützte.
»Drittens: mäßige Preise.«
Diesmal ein Stöhnen von mir, das von den jungen Damen unterstützt wurde.
»Viertens: – und hier«, sagte unsere Missis, »erbitte ich Ihr zornigstes Mitgefühl – Aufmerksamkeit, freundliches Entgegenkommen, ja sogar Höflichkeit.«
Die jungen Damen und ich, wir alle zusammen, gerieten in eine regelrechte Raserei.
»Und nun zum Schluß«, sagte unsere Missis mit ihrem giftigen Hohn, »kann ich Ihnen nach allem, was ich Ihnen erzählt habe, kein vollständigeres Bild von dieser verächtlichen Nation geben, als indem ich Ihnen versichere, daß sie unsere konstitutionelle Art und Weise und edle Unabhängigkeit in Station Mugby nicht für einen einzigen Monat dulden würden. Sie würden uns davonjagen und dafür ein anderes System einführen, sobald sie uns gesehen hätten; ja vielleicht schon früher, denn ich glaube nicht, daß sie den guten Geschmack haben, sich viel aus unserem Anblick zu machen.«
Der sich erhebende Tumult wurde am Losbrechen gehemmt. Sniff hatte nämlich, von seinem kriechenden Charakter fortgerissen, sein Bein mit immer größerer Wonne hochgezogen und wurde jetzt dabei ertappt, wie er seinen Korkenzieher über dem Kopf schwenkte. In diesem Augenblick geschah es, daß Mrs. Sniff, die ihn die ganze Zeit über im Auge behalten hatte, über ihr Opfer herfiel. Unsere Missis folgte ihnen beiden aus dem Zimmer, und in der Sägemehlabteilung ertönten Schreie.
Kommen Sie in unseren Erfrischungsraum auf Station Mugby, stellen Sie sich so, als kennten Sie mich nicht, und ich will Ihnen mit meinem rechten Daumen über meiner Schulter zeigen, welche unsere Missis und welche Miß Whiff und welche Miß Piff und welche Mrs. Sniff ist. Jedoch werden Sie keine Gelegenheit haben, Sniff zu Gesicht zu bekommen, denn er verschwand an jenem Abend. Ob er sein Ende fand, indem er in Stücke gerissen wurde, kann ich nicht sagen; aber sein Korkenzieher ist allein übriggeblieben, um von seinem kriechenden Charakter Zeugnis zu geben.
* * *