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In zwei Kapiteln
»The Haunted House«
Keiner der üblichen gespenstigen Umstände waltete, und nichts in meiner Umgebung hatte etwas von dem konventionellen gespenstigen Charakter an sich, als ich zum erstenmal das Haus sah, von dem diese Weihnachtsgeschichte handelt. Ich sah es bei Tage, während heller Sonnenschein darauf lag. Es gab keinen Wind, keinen Regen, keinen Blitz, keinen Donner, keinen unheimlichen oder ungewöhnlichen Umstand irgendeiner Art, um den Eindruck, den es machte, zu erhöhen. Ja noch mehr: ich war geradewegs von einer Eisenbahnstation aus zu diesem Haus gekommen; die Entfernung betrug nicht mehr als eine fünftel Meile, und während ich vor dem Haus auf den Weg, den ich gekommen war, zurückblickte, konnte ich die Güterzüge auf dem Eisenbahndamm im Tal rasch dahinfahren sehen. Ich will nicht behaupten, daß alles ganz und gar alltäglich war, weil ich bezweifle, daß irgendeine Sache ganz und gar alltäglich sein kann, ausgenommen für ganz und gar alltägliche Leute – und hier kommt meine Eitelkeit mit ins Spiel. Aber ich wage zu behaupten, daß jeder beliebige Mensch an jedem schönen Herbstmorgen das Haus so sehen könnte, wie ich es sah.
Ich stieß in folgender Weise darauf:
Ich befand mich auf der Reise aus den nördlichen Provinzen nach London und hatte die Absicht, meine Fahrt zu unterbrechen, um mir das Haus anzusehen. Ich hatte aus gesundheitlichen Gründen einen kurzen Aufenthalt auf dem Lande nötig, und ein Freund von mir, der das wußte und zufällig an dem Haus vorbeigefahren war, hatte mir geschrieben und es mir als einen passenden Aufenthaltsort empfohlen. Ich hatte den Zug um Mitternacht bestiegen. Nach kurzer Zeit war ich eingeschlafen, bald darauf wieder aufgewacht und hatte dagesessen und durch das Fenster das strahlende Nordlicht am Himmel betrachtet. Dann war ich wieder eingeschlafen, und als ich abermals erwachte, sah ich, daß die Nacht vergangen war. Wie gewöhnlich war ich von der unzufriedenen Überzeugung erfüllt, daß ich überhaupt nicht geschlafen hatte, und in der ersten Verwirrung kurz nach dem Erwachen hätte ich fast wegen dieser Frage, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, den Reisenden gegenüber zum Zweikampf herausgefordert. Dieser Reisende von gegenüber hatte die ganze Nacht hindurch – wie das stets der Fall ist – einige Beine zuviel und alle zu lang gehabt. Dazu kam noch, daß er einen Bleistift und ein Notizbuch in der Hand gehalten und ständig gelauscht und sich Aufzeichnungen gemacht hatte. Allem Anschein nach bezogen sich diese ärgerlichen Notizen auf das Stoßen und Rattern des Wagens, und ich hätte mich schließlich in der Annahme, daß er ein Ingenieur sei, damit abgefunden, daß er sich diese Aufzeichnungen machte, wenn er nicht beim Lauschen genau auf einen Punkt über meinem Kopf gestarrt hätte. Er hatte ein Paar große Glotzaugen mit einem ratlosen Ausdruck, und sein Benehmen wurde unerträglich.
Es war ein kalter, finsterer Morgen (die Sonne war noch nicht durchgedrungen), und als ich das verblassende Licht der Hochöfen in dem Eisenland und den schweren Rauchvorhang, der sich zwischen mir und den Sternen und zwischen mir und dem Tag befand, bis zu ihrem Verschwinden beobachtet hatte, wandte ich mich an meinen Reisegefährten und sagte:
»Ich bitte sehr um Verzeihung, Sir, aber nehmen Sie etwas Besonderes an mir wahr?«
Denn es hatte wirklich den Anschein, als zeichne er entweder meine Reisemütze oder mein Haar mit einer Genauigkeit auf, die an Frechheit grenzte.
Der glotzäugige Gentleman riß sich von dem Punkt über meinem Kopf los und sagte mit einem hochmütigen Blick des Mitleids für meine Unbedeutendheit:
»An Ihnen, Sir? – B.«
»B, Sir?« fragte ich und begann mich für ein Gespräch zu erwärmen.
»Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen, Sir«, erwiderte der Gentleman. »Lassen Sie mich bitte lauschen – O.«
Er gab diesen Buchstaben nach einer Pause von sich und schrieb ihn auf.
Anfangs war ich beunruhigt, denn mit einem Irrsinnigen in einem Expreßzug zu sitzen, ohne daß eine Verbindung mit dem Schaffner besteht, ist kein sehr erfreulicher Gedanke. Zu meiner Beruhigung fiel mir ein, daß der Gentleman vielleicht ein Spiritist sei, ein Angehöriger einer Sekte, für die ich (wenigstens für manche ihrer Mitglieder) die größte Hochachtung habe, an die ich jedoch nicht glaube. Ich war gerade im Begriff ihn zu fragen, als er mir das Wort aus dem Munde nahm.
»Sie werden mich entschuldigen«, sagte der Gentleman verächtlich, »wenn ich der gewöhnlichen Menschheit zu weit voraus bin, um mich überhaupt um sie zu kümmern. Ich habe die Nacht – wie ich es jetzt während der ganzen Zeit tue – im Gespräch mit Geistern zugebracht.«
»Oh!« sagte ich ein wenig ironisch.
»Die Sitzung dieser Nacht«, fuhr der Gentleman fort, während er in seinem Notizbuch blätterte, »begann mit dieser Botschaft: ›Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten.‹«
»Sehr wahr«, sagte ich; »aber nichts Neues.«
»Neu von Geistern«, erwiderte der Gentleman.
Ich konnte nur mein ziemlich ironisches »Oh!« wiederholen und stellte die Frage, ob er so gut sein wolle, mich diese letzte Mitteilung wissen zu lassen.
»›Ein Vogel in der Hand‹«, las der Gentleman seine letzte Eintragung mit großer Feierlichkeit vor, »›ist zwei im Busch wert.‹«
Der Gentleman teilte mir weiter mit, daß der Geist des Sokrates ihm im Lauf der Nacht folgende spezielle Enthüllung gemacht hätte:
»Mein Freund, ich hoffe, daß du dich wohl befindest. Es sitzen zwei Menschen in diesem Eisenbahnabteil. Wie geht es dir? Es sind hier siebzehntausendvierhundertneunundsiebzig Geister anwesend, aber du kannst sie nicht sehen. Pythagoras ist hier. Es steht ihm nicht frei, es auszusprechen, aber er hofft, dir gefällt das Reisen.«
Auch Galilei hatte sich mit folgender wissenschaftlichen Mitteilung eingestellt:
»Ich freue mich, Sie zu sehen, amico. Come sta? Wasser gefriert, wenn es kalt genug ist. Addio!«
Im Laufe der Nacht hatten sich ferner folgende Phänomene zugetragen: Bischof Butler hatte darauf beharrt, seinen Namen »Bubler« zu buchstabieren, einen Verstoß gegen Rechtschreibung und gutes Benehmen, für den er als übellaunig fortgeschickt worden war. Shakespeare, gegen den der Gentleman den Verdacht absichtlicher Irreführung hegte, hatte geleugnet, der Verfasser des »Hamlet« zu sein und hatte als gemeinschaftliche Urheber dieses Dramas zwei unbekannte Gentlemen namens Grungers und Scadgingtone eingeführt. Und Prinz Arthur, der Neffe des Königs Johann von England, hatte mitgeteilt, daß er sich im siebenten Kreise leidlich wohl fühle und dort unter der Anleitung von Mrs. Trimmer und Maria, Königin von Schottland, auf Samt zu malen lerne.
Falls dieses Buch dem Gentleman, der mir liebenswürdigerweise diese Enthüllungen machte, einmal vor Augen kommen sollte, so hoffe ich, er wird mir das Geständnis zugute halten, daß der Anblick der aufgehenden Sonne und die Betrachtung des weiten Universums mir die Geduld zum Zuhören nahmen. Mit einem Wort, ich hatte so wenig dafür übrig, daß ich von Herzen froh war, an der nächsten Station aussteigen und diese Wolken und Dünste mit der freien Himmelsluft vertauschen zu können.
Inzwischen war es ein schöner Morgen geworden. Während ich auf den Blättern dahinschritt, die bereits von den in goldener, brauner und rostroter Farbe erstrahlenden Bäumen abgefallen waren, und während ich die Wunder der Schöpfung rings um mich her betrachtete und mir die festen, unabänderlichen, harmonischen Gesetze vor Augen hielt, auf denen sie beruhen, schien mir der Geisterverkehr des Gentleman ein so armseliges Ding zu sein, wie es nur je eines gegeben hat. In dieser heidnischen Geistesverfassung sah ich das Haus schon von weitem und blieb stehen, um es aufmerksam zu betrachten.
Es war ein einsames Haus, umgeben von einem traurig vernachlässigten Garten, der ein ziemlich gleichmäßiges Quadrat von etwa hundert Metern bildete. Es stammte etwa aus der Zeit Georgs des Zweiten und war so steif, so kalt, so förmlich und so geschmacklos, wie es der ergebenste Bewunderer des ganzen Quartetts der George nur hätte wünschen können. Es war unbewohnt, aber vor ein oder zwei Jahren hatte man es für wenig Geld instand gesetzt, um es bewohnbar zu machen. Ich sage für wenig Geld, weil die Arbeit nur oberflächlich gemacht worden war, und Gipsbewurf und Anstrich bereits wieder abbröckelten, obwohl die Farben noch frisch leuchteten. Über der Gartenmauer hing eine Tafel schief herab, auf der zu lesen war, daß es »zu sehr mäßigen Bedingungen und gut möbliert zu vermieten« war. Es war zu dicht von Bäumen umgeben, die es in dunkle Schatten einhüllten, und vor allem der Standort für sechs hohe Pappeln vor den Vorderfenstern war sehr unglücklich gewählt, da sie einen äußerst melancholischen Eindruck machten.
Man konnte leicht ersehen, daß es ein gemiedenes Haus war – ein Haus, von dem das Dorf, das sich durch einen Kirchturm in ein paar hundert Metern Entfernung ankündigte, nichts wissen wollte –, ein Haus, in das niemand einziehen mochte. Und der logische Schluß daraus war, daß es in dem Ruf eines Spukhauses stand.
Es gibt keine Zeit innerhalb der vierundzwanzig Stunden von Tag und Nacht, die für mich so feierlich wäre wie der frühe Morgen. Im Sommer stehe ich oft sehr früh auf und gehe in mein Arbeitszimmer, um noch vor dem Frühstück einen Teil meiner Tagesarbeit zu leisten, und bei diesen Gelegenheiten pflegt die Stille und Einsamkeit um mich herum stets den tiefsten Eindruck auf mich zu machen. Außerdem liegt etwas, was ein Gefühl frommen Schauders erweckt, in der Tatsache, daß man von vertrauten Gesichtern umgeben ist, die tiefer Schlaf umfängt. Die Menschen, die uns am teuersten sind und denen wir am teuersten sind, liegen regungslos und ohne sich unserer bewußt zu sein da. Und dies, wie alles ringsumher – das stillstehende Leben, die abgerissenen Fäden des gestrigen Tages, der leere Sessel, das geschlossene Buch, die unvollendete, aber liegengelassene Arbeit –, sind Bilder des Todes und erinnern an jenen geheimnisvollen Zustand, nach dem wir alle streben. Die Stille der Stunde ist die Stille des Todes. Das bleiche Licht und die Kälte erwecken denselben Gedanken in uns. Aber der Vergleich erstreckt sich noch weiter. Vertraute Gegenstände des Hausrats pflegen, wenn sie zuerst aus den Schatten der Nacht auftauchen und in das Licht des Morgens treten, auszusehen, als seien sie neuer und so, wie sie vor langer Zeit einmal waren; und auch dies hat sein Gegenstück in dem im Tod eintretenden Wandel abgelegter Gesichtszüge der Reife oder des Alters zu dem längst vergangenen jugendlichen Aussehen. Außerdem erschien mir einst mein Vater zu dieser Stunde. Er war damals am Leben und bei guter Gesundheit und das Ereignis hatte auch weiter keine Folgen, aber ich sah ihn im Tageslicht, wie er, mit dem Rücken zu mir, auf einem Stuhl neben meinem Bett saß. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, und ich konnte nicht erkennen, ob er schlummerte oder bekümmert war. Erstaunt, ihn da zu sehen, setzte ich mich auf, lehnte mich zum Bett hinaus und beobachtete ihn. Da er keine Bewegung machte, sprach ich ihn einige Male an. Als er sich auch daraufhin nicht regte, wurde ich unruhig und legte ihm die Hand auf die Schulter, wie ich meinte – aber es war niemand da.
Aus allen diesen Gründen und aus noch einigen anderen, die sich nicht so leicht und kurz darstellen lassen, ist der frühe Morgen für mich die geisterhafteste Zeit. Jedes Haus würde mir am frühen Morgen mehr oder weniger gespensterhaft vorkommen, und ein Gespensterhaus könnte zu keiner anderen Zeit lebhafter auf meine Einbildungskraft wirken.
Ich ging weiter in Richtung auf das Dorf zu, das Bild des verfallenen Hauses immer vor meinen geistigen Augen, und traf auf den Wirt des kleinen Gasthofes, der gerade Sand auf seine Schwelle streute. Ich bestellte ein Frühstück und begann von dem verlassenen Haus zu sprechen.
»Geht es darin um?« fragte ich.
Der Wirt sah mich an, schüttelte den Kopf und erwiderte:
»Ich sage nichts.«
»Es geht also darin um?«
»Nun ja«, rief der Wirt in einem Ausbruch von Offenheit, der wie ein Verzweiflungsschrei erschien – »ich möchte darin nicht schlafen.«
»Warum nicht?«
»Wenn ich mir wünschte, daß alle Glocken in einem Haus läuteten, ohne daß jemand sie berührte, und daß alle Türen in einem Haus zufielen, ohne daß jemand sie zuwürfe, und daß alle möglichen Füße umhertrampelten, ohne daß Füße darin wären – dann«, sagte der Wirt, »würde ich in diesem Haus schlafen.«
»Zeigt sich dort irgend etwas?«
Der Wirt sah mich abermals an und rief dann in einem Ton, der wieder wie ein Verzweiflungsschrei klang, über seinen Stallhof hin: »Ikey!«
Auf diesen Ruf erschien ein junger Bursche mit hohen Schultern, einem runden, roten Gesicht, kurz geschnittenen sandfarbenen Haaren, einem sehr breiten, grinsenden Mund und einer aufwärts gebogenen Nase. Er trug eine weite Ärmelweste mit roten Streifen und Perlmuttknöpfen. Letztere schienen überhaupt auf ihm zu wachsen und hätten, wenn sie nicht beschnitten würden, bestimmt schon seinen Kopf bedeckt und seine Stiefel überzogen.
»Dieser Gentleman möchte wissen«, sagte der Wirt, »ob sich etwas in dem Pappelhause zeigt.«
»Ein Weib in einer Kapuze mit einer Heule«, sagte Ikey in einem Zustand vollkommener geistiger Frische.
»Meint Ihr ein Geschrei?«
»Ich meine einen Vogel, Sir.«
»Ein Weib in einer Kapuze mit einer Eule. Du lieber Gott! Habt Ihr es je gesehen?«
»Ich habe die Eule gesehen.«
»Niemals das Weib?«
»Nicht so deutlich wie die Eule, aber sie halten stets zusammen.«
»Hat jemals ein Mensch das Weib so deutlich wie die Eule gesehen?«
»Der Herr segne Sie, Sir! Eine Menge.«
»Wer?«
»Der Herr segne Sie, Sir! Eine Menge.«
»Etwa der Krämer da gegenüber, der gerade seinen Laden aufmacht?«
»Perkins? Du lieber Himmel, Perkins würde nicht in die Nähe des Hauses gehen. Nein!« bemerkte der junge Mann mit tiefem Mitgefühl; »er ist zwar nicht überklug, der Perkins, aber solch ein Narr ist er doch nicht.«
(Hier gab der Wirt in einem Murmeln seiner Zuversicht Ausdruck, daß Perkins etwas Besseres zu tun hätte.)
»Wer ist – oder wer war – das Weib in der Kapuze mit der Eule? Wißt Ihr es?«
»Nun«, sagte Ikey, während er mit der einen Hand seine Kappe in die Höhe hielt und sich mit der anderen den Kopf kratzte, »man sagt im allgemeinen, daß sie ermordet worden sei und daß die Eule dabei schrie.«
Diese sehr kurze Zusammenfassung der Tatsachen war alles, was ich erfahren konnte. Nur das eine fügte er noch hinzu, daß ein junger Mann, ein so beherzter und sympathischer Bursche, wie man ihn sich nur denken konnte, von Krämpfen befallen worden war und auch jetzt noch unter ihnen litt, nachdem er das Weib in der Kapuze gesehen hatte. Ferner, daß eine Person, die er unklar beschrieb als »einen alten Kerl, eine Art einäugiger Strolch, der auf den Namen Joby hörte, wenn man ihn nicht mit ›Grünholz‹ hänselte, daß dieser Alte etwa fünf- oder sechsmal dem Weib in der Kapuze begegnet war. Aber diese Zeugen konnten mir wenig nützen. Der erstere war nämlich in Kalifornien, und der letztere war, wie Ikey sagte (und der Wirt bestätigte es), überall.
Nun pflege ich zwar die Geheimnisse, zwischen denen und unserem Dasein die Grenze der großen Prüfung und Veränderung liegt, die alle lebendigen Dinge einmal trifft, mit stiller, ehrfurchtsvoller Scheu zu betrachten. Auch besitze ich nicht die Verwegenheit zu behaupten, daß ich etwas von ihnen wüßte. Und doch kann ich das bloße Zuschlagen von Türen, das Läuten von Glocken, das Knarren von Dielen und derartige unbedeutende Vorkommnisse nicht mit der majestätischen Schönheit und allesbeherrschenden Folgerichtigkeit aller der göttlichen Gesetze vereinigen, die mir zu begreifen vergönnt ist. Ebensowenig wie ich kurz zuvor den Geisterverkehr meines Reisegefährten mit dem Triumphwagen der aufgehenden Sonne in Verbindung bringen konnte. Außerdem hatte ich bereits in zwei Spukhäusern gewohnt – beide Male im Ausland. Eines davon, ein italienischer Palast, stand in dem Ruf, daß es darin ganz besonders übel spukte, und war deshalb in letzter Zeit zweimal geräumt worden. Ich aber wohnte acht Monate lang ganz ruhig und behaglich darin. Und dabei hatte das Haus fast zwei Dutzend geheimnisvoller Schlafzimmer, die nie benutzt wurden, und ein großer Raum, in dem ich zahllose Male zu allen möglichen Stunden lesend gesessen hatte und der an mein Schlafzimmer grenzte, war ein Spukzimmer ersten Ranges.
Ich gab diese Überlegungen dem Wirt behutsam zu verstehen. Und was den schlechten Ruf dieses Hauses anging, so stellte ich ihm vor Augen, wie viele Dinge unverdient in einem schlechten Ruf stünden und wie leicht es wäre, etwas in einen schlechten Ruf zu bringen. Glaubte er nicht auch, er und ich brauchten bloß eine Zeitlang im Dorf zu flüstern, daß irgendein unheimlich aussehender, trunksüchtiger alter Kesselflicker in der Nachbarschaft sich dem Teufel verkauft habe, und dieser würde bald in den Verdacht kommen, diese geschäftliche Transaktion wirklich abgeschlossen zu haben. Jedoch machten, wie ich gestehen muß, alle diese weisen Reden auf den Wirt nicht den geringsten Eindruck, und meinen Bemühungen war so wenig Erfolg beschieden, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Kurz, um mit diesem Teil der Geschichte zu Ende zu kommen: Das Spukhaus hatte meine Neugier erregt, und ich war bereits halb entschlossen, es zu nehmen. Ich holte mir deshalb nach dem Frühstück die Schlüssel von Perkins' Schwager (einem Sattlermeister, der nebenbei das Postamt verwaltet und unter dem Pantoffel eines grimmigen Weibes, einer leidenschaftlichen Sektiererin, steht) und begab mich, von meinem Wirt und von Ikey begleitet, zu dem Haus.
Drinnen war es wie erwartet unendlich düster. Die langsam wechselnden Schatten, die die riesigen Bäume in das Innere warfen, waren äußerst melancholisch; das Haus war schlecht plaziert, schlecht gebaut, schlecht entworfen und schlecht ausgestattet. Es war feucht, es war nicht frei von Trockenfäule, es roch nach Ratten und es war das traurige Opfer jenes schwer zu beschreibenden Verfalls, der sich über alle Werke von Menschenhand legt, wenn sie nicht zum Nutzen des Menschen gebraucht werden. Die Küchen und Wirtschaftsräume waren viel zu groß und viel zu weit voneinander entfernt. Oben und unten lagen kilometerlange Korridore zwischen den Zimmern, und am Fuße der Hintertreppe verbarg sich ein verfallener, von Grün überwachsener alter Brunnen wie eine Mörderfalle unter der Doppelreihe der Glocken. Eine dieser Glocken hatte ein Schild, auf dem in verblichenen weißen Buchstaben, die sich von einem schwarzen Hintergrunde abhoben, »Master B.« stand. Dies, sagte man mir, war die Glocke, die am häufigsten läutete.
»Wer war Master B.?« fragte ich. »Weiß man, was er tat, während die Eule schrie?«
»Er läutete die Glocke«, sagte Ikey.
Die behende Geschicklichkeit, mit der dieser junge Mann seine Pelzmütze nach der Glocke warf und sie so zum Läuten brachte, setzte mich ziemlich in Erstaunen. Es war eine laute, mißtönende Glocke, und ihr Klang berührte einen im höchsten Grade unangenehm. Die Aufschriften der anderen Glocken entsprachen den Zimmern, nach denen ihre Drähte führten, wie: »Gemäldezimmer«, »Doppelzimmer«, »Uhrenzimmer«, und so weiter. Als ich den Draht von Master B.s Glocke bis zu seinem Ausgangspunkt verfolgte, fand ich, daß dieser junge Gentleman in einer Kabine unter der Dachkammer eine äußerst mäßige, drittklassige Unterkunft gehabt haben mußte. In einer Ecke stand ein Kamin, dessen Größe entsprechend Master B. ein ganz kleines Kerlchen gewesen sein mußte, wenn es ihm je gelungen sein sollte, sich daran zu wärmen, und der Kaminsims in der Ecke sah wie eine pyramidenförmige Treppe für den kleinen Däumling aus. An der einen Wand war die Tapete gänzlich herabgefallen mitsamt einigen kleinen Stückchen Gips, die daran klebten, und die Tür war dadurch fast versperrt. Es hatte den Anschein, daß Master B. in seinem geisterhaften Zustand stets darauf erpicht war, die Tapete herunterzureißen. Doch konnte weder der Wirt noch Ikey eine Erklärung dafür geben, weshalb er sich so närrisch aufführte.
Abgesehen davon, daß das Haus einen ungeheuer großen, weitläufigen Dachboden hatte, konnte ich keine weiteren Entdeckungen machen. Es war leidlich gut, aber ziemlich dürftig möbliert. Einige Möbelstücke – etwa ein Drittel der ganzen Einrichtung – waren ebenso alt wie das Haus; der Rest stammte aus verschiedenen Zeitabschnitten des letzten halben Jahrhunderts. Man wies mich an einen Kornhändler auf dem Marktplatz der Grafschaftsstadt, um mit ihm wegen des Hauses zu verhandeln. Ich ging noch am selben Tag zu ihm und mietete es für sechs Monate.
Es war gerade Mitte Oktober, als ich mit meiner unverheirateten Schwester einzog. (Ich scheue mich nicht, ihr Alter von achtunddreißig Jahren anzugeben, denn sie ist sehr hübsch, gescheit und liebenswürdig.) Wir nahmen einen tauben Stallburschen mit, meinen Bluthund Türk, zwei Dienstmädchen und eine junge Person, die wir das »überzählige Mädchen« nannten. Ich habe Grund, von der letztgenannten Dienerin, die ein Waisenkind aus der Saint-Lawrence's-Union-Anstalt war, mitzuteilen, daß wir mit ihrer Anstellung einen unheilvollen Mißgriff getan hatten.
Der Herbst neigte sich seinem Ende zu, die Blätter fielen haufenweise, und es war ein rauher, kalter Tag, als wir einzogen. Die Düsterkeit des Hauses wirkte im höchsten Grade niederdrückend auf uns. Die Köchin (ein nettes Mädchen, aber mit einem etwas schwachen Verstand) brach beim Anblick der Küche in Tränen aus und bat, daß, im Falle ihr etwas zustieße, ihre silberne Uhr ihrer Schwester (Tuppintock's Gardens Nummer zwei, Ligg's Walk, Clapham Rise) übergeben werden sollte. Streaker, das Zimmermädchen, heuchelte gute Laune, war aber die größere Märtyrerin. Nur das »überzählige Mädchen«, das noch nie auf dem Land gewesen war, fühlte sich wohl und traf Vorbereitungen, um im Garten vor dem Küchenfenster eine Eichel zu stecken, aus der sie eine Eiche ziehen wollte.
Noch bevor die Dunkelheit hereinbrach, machten wir alle natürlichen – im Gegensatz zu den übernatürlichen – Plagen durch, die zu unserem Zustand gehörten. Entmutigende Berichte stiegen in dicken Schwaden wie Rauch aus dem Erdgeschoß nach oben und von dem oberen Stockwerk nach unten. Es gab keine Teigrolle, es gab keine Röstschaufel (worüber ich mich nicht wunderte, denn ich weiß ohnehin nicht recht, was das ist), es gab überhaupt nichts in dem Haus und was da war, war zerbrochen; die letzten Bewohner mußten wie die Schweine gelebt haben. Was dachte sich dieser Wirt bloß? Während all dieser Nöte blieb das überzählige Mädchen gutgelaunt und benahm sich musterhaft. Aber vier Stunden nach Einbruch der Dunkelheit waren wir bereits auf ein übernatürliches Geleise geraten, das überzählige Mädchen hatte »Augen« gesehen und lag in hysterischen Krämpfen.
Meine Schwester und ich waren übereingekommen, über die Spukgeschichte kein Wort verlauten zu lassen, und ich hatte den Eindruck (und habe ihn auch jetzt noch), daß ich Ikey, als er beim Ausladen des Wagens half, nicht eine Minute lang mit den Mädchen, oder einem von ihnen, allein gelassen hatte. Trotzdem hatte, wie ich sage, das überzählige Mädchen vor neun Uhr »Augen gesehen« (das war die einzige Erklärung, die aus ihr herauszubringen war), und um zehn war sie bereits mit so viel Essig eingerieben worden, wie zum Marinieren eines Lachses von hübschem Gewicht gereicht hätte.
Ich überlasse es einer verständnisvollen Leserschaft, sich meine Gefühle auszumalen, als unter diesen widrigen Umständen um halb elf Uhr Master B.s Glocke äußerst ungestüm zu läuten begann, während Türk heulte, daß das Haus von seinen Klagen widerhallte!
Ich will hoffen, daß ich nie wieder in einer so unchristlichen Gemütsverfassung sein werde, wie in der, in der ich in den nächsten Wochen in bezug auf das Gedächtnis des Masters B. lebte. Ob seine Glocke von Ratten, Mäusen, Fledermäusen, dem Wind oder durch irgendeinen anderen Zufall, oder ob sie bisweilen von dem einen, bisweilen von dem anderen und manchmal von mehreren zugleich geläutet wurde, das weiß ich nicht. Fest steht jedoch, daß sie in zwei von drei Nächten läutete, bis ich auf den glücklichen Einfall kam, Master B. den Hals umzudrehen – mit anderen Worten, seine Glocke einfach abzureißen – und diesen jungen Gentleman somit für immer zum Schweigen zu bringen.
Aber inzwischen hatte das überzählige Mädchen eine derartige Anlage zur Starrsucht entwickelt, daß es ein leuchtendes Beispiel dieser sehr unbequemen Krankheit geworden war. Es verfiel bei den unbedeutendsten Gelegenheiten in Starrheit. Ich hielt zum Beispiel eine durchdachte Ansprache an die Dienstboten und wies sie darauf hin, daß ich Master B.s Zimmer hätte streichen lassen und dadurch der Sache mit der Tapete ein Ende gemacht hätte, und daß ich ferner Master B.s Glocke hätte abnehmen lassen, wodurch das Läuten aufgehört hätte. Wenn sie also glauben könnten, daß dieser verflixte Junge nur gelebt hätte und gestorben wäre, um sich ein solches Benehmen zuzulegen – könnten sie dann ebenfalls annehmen, daß ein bloßes armseliges menschliches Wesen wie ich imstande wäre, durch diese lächerlichen Mittel die Kräfte der körperlosen Geister zu hemmen und einzuschränken? So sprach ich, und meine Rede wurde nachdrücklich und zwingend, um nicht zu sagen selbstgefällig, als alles zu nichts wurde, weil das überzählige Mädchen plötzlich von den Zehen an aufwärts steif wurde und uns wie ein versteinertes Wesen anstarrte.
Auch das Zimmermädchen Streaker besaß eine Eigenheit, die dazu angetan war, einen in die größte Verwirrung zu versetzen. Ich kann nicht sagen, ob sie ein ungewöhnlich lymphatisches Temperament hatte oder was sonst mit ihr los war, aber dieses junge Mädchen wurde zu einem bloßen Destillierapparat der größten und durchsichtigsten Tränen, die mir je vorgekommen sind. Zu diesen charakteristischen Eigenschaften kam noch eine besondere Haftfähigkeit dieser Exemplare, so daß sie nicht herabfielen, sondern auf ihrem Gesicht und ihrer Nase hängenblieben. Wenn sie in dieser Verfassung vor mir stand und noch in einer still klagenden Art den Kopf schüttelte, konnte mich ihr Schweigen viel leichter umwerfen, als es dem bewundernswürdigen Crichton in einer Preisdisputation gelungen wäre. Auch die Köchin brachte mich stets gänzlich aus der Fassung, indem sie die Sitzung mit der Mitteilung schloß, daß das Haus ihr auf die Nerven ginge, und mit sanfter Stimme ihren letzten Wunsch in bezug auf ihre silberne Uhr wiederholte.
Was unser Leben bei Nacht angeht, so hatten wir uns untereinander mit Verdacht und Furcht angesteckt, und es gibt keine schlimmere Ansteckung unter dem Himmelszelt. Ein Weib in einer Kapuze? Nach den Berichten befanden wir uns in einem ganzen Kloster von Weibern in Kapuzen. Geräusche? Von der Furcht des Gesindes angesteckt, habe ich selbst in dem ungemütlichen Wohnzimmer gesessen und gelauscht, bis ich so viele und so seltsame Geräusche hörte, daß sie mir das Blut hätten erstarren lassen, wenn ich es nicht erwärmt hätte, indem ich hinausstürzte, um Entdeckungen zu machen. Versucht dies einmal im Bett in der Stille der Nacht! Oder versucht es am Abend an eurem behaglichen Kamin! Wenn ihr wollt, so könnt ihr jedes Haus mit Geräuschen erfüllen, bis ihr für jeden Nerv in eurem Nervensystem ein Geräusch habt.
Ich wiederhole, wir hatten uns untereinander mit Verdacht und Furcht angesteckt, und es gibt keine schlimmere Ansteckung unter dem Himmelszelt. Die Mädchen, deren Nasenspitzen sich durch den Gebrauch von Riechsalz in einem chronischen Zustand der Abschürfung befanden, waren jeden Augenblick bereit, in Ohnmacht zu fallen. Die beiden älteren schickten das überzählige Mädchen auf alle Expeditionen, die als doppelt gefährlich angesehen wurden, allein aus, und dieses hielt stets den Ruf derartiger Abenteuer aufrecht, indem es erstarrt zurückkam. Wenn die Köchin oder das Hausmädchen nach Dunkelwerden auf den Boden ging, so wußten wir, daß wir in Kürze einen Fall gegen die Decke hören würden. Und das trat so regelmäßig ein, als ob ein Boxer angestellt worden wäre, um durch das Haus zu gehen und jedem ihm begegnenden Dienstboten eine Probe seiner Kunst zu kosten zu geben.
Es war vergebliche Mühe, etwas dagegen zu tun. Es nützte nichts, wenn man etwa im Augenblick selbst vor einer wirklichen Eule erschrocken war, die Eule hinterher zu zeigen. Es nützte nichts, durch den auffälligen Anschlag einer Dissonanz auf dem Piano die Entdeckung zu machen, daß Türk bei bestimmten Tönen und Tonkombinationen stets heulte. Es nützte nichts, ein Rhadamanth gegen die Glocken zu sein, und wenn eine unglückliche Glocke ohne Erlaubnis ertönte, sie unerbittlich abnehmen zu lassen und zum Schweigen zu bringen. Es nützte nichts, Kamine einzuheizen, mit Fackeln in den Brunnen hinabzuleuchten, verdächtige Zimmer und Winkel zu untersuchen. Wir wechselten die Dienstboten, aber es wurde nicht besser. Die neuen liefen davon, eine dritte Partie kam, aber es wurde nicht besser. Schließlich war unser behaglicher Haushalt so aus der Ordnung und in einem derartig jämmerlichen Zustand, daß ich eines Abends niedergeschlagen zu meiner Schwester sagte:
»Patty, ich beginne daran zu verzweifeln, daß wir Leute bekommen werden, die mit uns hier leben wollen, und ich denke, wir müssen das Haus aufgeben.«
Meine Schwester, die ein kolossal mutiges Mädchen ist, erwiderte:
»Nein, John, gib es nicht auf. Wirf die Flinte nicht ins Korn, John. Es gibt noch einen anderen Weg.«
»Und welchen?« fragte ich neugierig.
»John«, erwiderte meine Schwester, »wenn wir uns nicht schuldlos aus diesem Haus vertreiben lassen wollen, müssen wir uns selbst helfen und die Bewirtschaftung in unsere eigenen Hände nehmen.«
»Aber die Dienstboten«, wendete ich ein.
»Wir halten einfach keine Dienstboten mehr«, sagte meine Schwester kühn.
Wie die meisten Leute in meinem Stand hatte ich nie an die Möglichkeit gedacht, ohne diese treuen Hindernisse auszukommen. Als daher meine Schwester diesen Vorschlag machte, war mir die Idee so neu, daß ich eine sehr zweifelnde Miene aufsetzte.
»Wir wissen, daß sie hierherkommen, sich erschrecken lassen und einander mit ihrer Furcht anstecken«, sagte meine Schwester.
»Mit Ausnahme von Bottles«, bemerkte ich in nachdenklichem Ton.
(Bottles ist der taube Stallbursche. Ich hielt ihn in meinem Dienst und halte ihn noch heute darin, als ein Phänomen von mürrischem Wesen, wie man in ganz England kein zweites finden kann.)
»Ganz recht, John«, stimmte meine Schwester zu, »mit Ausnahme von Bottles. Und was beweist das? Bottles spricht mit niemandem und hört niemanden, wenn man ihm nicht direkt in die Ohren brüllt, und wann hat Bottles je Unruhe verursacht oder wegen irgend etwas Unruhe gezeigt! Niemals.«
Das war vollkommen richtig, denn das fragliche Individuum hatte sich jeden Abend um zehn Uhr in seine Kammer über der Wagenremise zurückgezogen, wo er keine andere Gesellschaft hatte als die einer Mistgabel und eines Eimers Wasser.
Daß der Eimer Wasser sich über mich entleeren und die Mistgabel durch mich hindurchstechen würde, falls ich mich ohne vorherige Ankündigung eine Minute nach dieser Zeit Bottles in den Weg stellen würde, das hatte ich mir als eine erinnerungswürdige Tatsache fest eingeprägt. Auch hatte Bottles niemals auch nur die geringste Notiz von einer der in letzter Zeit häufig bei uns auftretenden Unruhen genommen. In unerschütterlicher, schweigender Ruhe hatte er bei seinem Abendbrot gesessen, während Streaker neben ihm in Ohnmacht lag und das überzählige Mädchen zu Marmor wurde, und hatte lediglich eine weitere Kartoffel in seine Backe gesteckt oder sich die allgemeine Verwirrung zunutze gemacht, indem er nach der Beefsteak-Pastete langte.
»Und daher«, fuhr meine Schwester fort, »schließe ich Bottles auch aus. Und in Anbetracht dessen, John, daß das Haus zu groß und vielleicht auch zu einsam ist, als daß Bottles und wir beide es ordentlich besorgen könnten, mache ich den Vorschlag, daß wir unter unseren Freunden eine bestimmte Anzahl der zuverlässigsten und willigsten aussuchen – hier auf drei Monate eine Gemeinschaft bilden – uns gegenseitig bedienen – fröhlich und gesellig miteinander leben – und zusehen, was sich ereignen wird.«
Ich war derartig von meiner Schwester entzückt, daß ich sie auf der Stelle umarmte und mit größtem Eifer auf ihren Plan einging.
Wir befanden uns damals in der dritten Novemberwoche, trafen aber unsere Vorbereitungen so rasch und wurden dabei von den Freunden, zu denen wir Vertrauen hatten, so hilfreich unterstützt, daß sich schon in der vierten Woche des Monats unsere ganze Gesellschaft frohgemut in dem Spukhaus versammelte.
Ich will an dieser Stelle zwei kleine Veränderungen erwähnen, die ich vornahm, als ich noch allein mit meiner Schwester war. Da ich es nicht für unwahrscheinlich hielt, daß Türk zum Teil nur aus dem Grund nachts im Haus heulte, weil er hinauswollte, brachte ich ihn in seiner Hundehütte draußen unter. Ich legte ihn aber nicht an die Kette und warnte die Leute im Dorf ernsthaft, daß, wer ihm in die Quere käme, einen Biß am Hals zu erwarten hätte. Dann fragte ich Ikey bei Gelegenheit, ob er sich auf Flinten verstünde. Da er erwiderte: »Ja, Sir, ich erkenne eine gute Flinte, wenn ich sie sehe«, bat ich ihn, mit ins Haus zu kommen und sich meine einmal anzuschauen.
»Das ist eine richtige, Sir«, meinte Ikey, nachdem er eine doppelläufige Flinte untersucht hatte, die ich vor einigen Jahren in New York erstanden hatte. »Darüber kann es keinen Zweifel geben, Sir.«
»Ikey«, sagte ich, »erzählt niemandem davon, aber ich habe etwas in diesem Haus gesehen.«
»Nicht möglich, Sir!« flüsterte er und riß gierig seine Augen auf. »Eine Dame in einer Kapuze, Sir?«
»Keine Bange«, sagte ich. »Es war eine Gestalt so ziemlich wie die Eure.«
»Du lieber Gott, Sir?«
»Ikey!« sagte ich, ihm warm, ja ich kann sogar sagen herzlich die Hand schüttelnd; »wenn an diesen Gespenstergeschichten etwas Wahres ist, so besteht der größte Dienst, den ich Euch erweisen kann, darin, auf diese Gestalt zu schießen. Und ich verspreche Euch beim Himmel und der Erde, ich werde es mit dieser doppelläufigen Flinte tun, wenn ich die Gestalt noch einmal sehe!«
Der junge Mann dankte mir und verabschiedete sich hastig, ohne noch ein Glas Likör annehmen zu wollen. Ich hatte ihm mein Geheimnis mitgeteilt, weil ich niemals ganz vergessen hatte, wie er damals seine Mütze nach der Glocke geworfen hatte. Bei einer anderen Gelegenheit hatte ich eines Abends, als sie zu läuten angefangen hatte, etwas, was einer Pelzmütze sehr ähnlich war, nicht weit von der Glocke liegen sehen. Auch hatte ich bemerkt, daß der Geisterspuk immer am heftigsten tobte, wenn er abends vorsprach, um die Dienstboten zu trösten. Doch will ich nicht ungerecht gegen Ikey sein. Er hatte Angst vor dem Haus und glaubte an den Spuk darin, und doch spielte er uns selbst Gespensterstreiche, sowie er nur eine Gelegenheit dazu bekam. Mit dem überzähligen Mädchen war es genau dasselbe. Sie ging mit einem Gefühl wirklicher Furcht im Haus umher und brachte doch absichtlich ungeheure Lügen vor. Sie erfand viele der erschreckenden Vorkommnisse, die sie verbreitete, selbst und viele Geräusche, die wir hörten, gingen auf sie selbst zurück. Ich hatte auf die beiden aufgepaßt und weiß das bestimmt. Es liegt hier keine Notwendigkeit für mich vor, diesen widersprüchlichen Geisteszustand zu erklären. Die Bemerkung mag genügen, daß das Phänomen jedem intelligenten Menschen bekannt ist, der in der Medizin, der Jurisprudenz oder auf anderen Gebieten mit offenen Augen genügende Erfahrungen gesammelt hat.
Doch nun zurück zu unserer Gesellschaft. Das erste, was wir taten, als wir alle versammelt waren, war, die Schlafzimmer auszulosen. Nachdem das geschehen und jedes Schlafzimmer, ja sogar das ganze Haus von der ganzen Versammlung genau untersucht worden war, verteilten wir die verschiedenen Haushaltspflichten unter uns, als wären wir eine Zigeunerbande oder eine Gesellschaft auf einer Jacht oder einer Jagdpartie oder ein Häuflein Schiffbrüchiger. Darauf erzählte ich die umlaufenden Gerüchte in bezug auf die Dame in der Kapuze, die Eule und Master B. und fügte einige, noch unbedeutendere, hinzu, die während unseres Aufenthalts im Haus aufgekommen waren, von einem komischen alten Gespenst weiblichen Geschlechts, zum Beispiel, das hinauf und hinab ging und den Geist eines runden Tischchens mit sich trug, und von einem unantastbaren Esel, den noch nie jemand hatte einfangen können. Ich bin überzeugt, daß unsere Leute unten einige von diesen Gerüchten einander in einer krankhaften Weise mitgeteilt hatten, ohne sie in Worte zu fassen. Wir riefen dann in tiefem Ernst einander als Zeugen dafür an, daß wir nicht hier waren, um uns täuschen zu lassen oder zu täuschen – was wir so ziemlich als das gleiche ansahen –, und daß wir mit echtem Verantwortungsgefühl aufrichtig zueinander sein und die volle Wahrheit herausfinden wollten. Es wurde ausgemacht, daß jeder, der in der Nacht ungewöhnliche Geräusche wahrnahm und ihren Ursprung herausfinden wollte, an meine Tür pochen sollte. Schließlich kamen wir noch überein, daß am Dreikönigsabend, dem letzten Abend des heiligen Weihnachtsfestes, alle unsere individuellen Erfahrungen seit der Stunde unseres ersten Zusammentreffens in dem Spukhaus zum allgemeinen Besten ans Licht gebracht werden sollten; bis dahin wollten wir Stillschweigen bewahren, ausgenommen wenn etwas ganz Besonderes eintrat, das uns nötigte, das Schweigen zu brechen.
Unsere Gesellschaft bestand der Anzahl und den Charakteren nach aus folgenden Mitgliedern:
Zuerst – um meine Schwester und mich gleich zu erledigen – waren wir zwei da. Bei der Verlosung hatte meine Schwester ihr eigenes Zimmer bezogen und ich das von Master B. Dann kam unser Vetter John Herschel, so benannt nach dem großen Astronomen, der, wie ich glaube, nicht seinesgleichen am Fernrohr hat. Er hatte seine Frau mitgebracht, ein reizendes Wesen, mit dem er im vorhergehenden Frühjahr getraut worden war. Ich hielt es (wie die Dinge lagen) für etwas unvorsichtig, sie mitzubringen, weil man nicht wissen kann, was selbst ein falscher Alarm zu einer solchen Zeit für Folgen haben kann. Aber ich vermute, er wußte selbst am besten, was er tat, und ich muß gestehen, wäre sie meine Frau gewesen, so hätte ich mich niemals von ihrem lieben, freundlichen Gesicht trennen können. Sie bezogen das Uhrenzimmer. Alfred Starling, ein äußerst liebenswürdiger junger Mensch von achtundzwanzig Jahren, für den ich die größte Sympathie hege, war in dem Doppelzimmer untergebracht, das sonst ich bewohnte. Es hatte diese Bezeichnung von einem darin enthaltenen Ankleideraum mit zwei großen plumpen Fenstern, die allen Pflöcken, die ich je zu verfertigen imstande war, widerstanden und bei jedem Wetter, windig oder nicht windig, klapperten. Alfred ist ein junger Mann, der »schneidig« zu sein vorgibt, aber viel zu gut und vernünftig für einen derartigen Unsinn ist. Er würde auch schon längst etwas Hervorragendes geleistet haben, wenn ihm sein Vater nicht unglücklicherweise ein kleines Renteneinkommen von zweihundert Pfund im Jahre hinterlassen hätte. Darauf gestützt, bestand seine einzige Beschäftigung im Leben darin, jährlich sechshundert auszugeben. Ich hege jedoch die Hoffnung, daß sein Bankier Bankrott machen oder sich auf eine Spekulation einlassen wird, die garantiert zwanzig Prozent einbringen soll. Denn ich bin überzeugt, daß sein Glück gemacht wäre, wenn er bloß ruiniert werden könnte. Belinda Bates, die Busenfreundin meiner Schwester und ein äußerst intelligentes, liebenswürdiges und reizendes Mädchen, bekam das Gemäldezimmer. Sie besitzt eine feine poetische Begabung, zusammen mit wirklichem Ernst, und »macht feste mit« – um einen Ausdruck Alfreds zu gebrauchen – bei der Frauenmission, den Frauenrechten, kurz, bei allem, was die Frauen betrifft und was entweder nicht existiert, aber existieren sollte, oder existiert und nicht existieren sollte.
»Das ist im höchsten Grade lobenswert von Ihnen, meine Liebe, und der Himmel schenke Ihnen Erfolg!« flüsterte ich ihr am ersten Abend zu, als ich an der Tür des Gemäldezimmers von ihr Abschied nahm. »Aber übertreiben Sie es nicht. Und was die große Notwendigkeit betrifft, den Frauen den Zugang zu mehr Berufen zu eröffnen als ihnen unsere Zivilisation bisher gestattet hat, so fallen Sie nicht über die unglücklichen Männer her, selbst nicht über diejenigen Männer, die Ihnen auf den ersten Blick im Weg zu sein scheinen, als wären sie die natürlichen Bedrücker Ihres Geschlechts. Denn, glauben Sie mir, Belinda, sie geben oft genug ihren Lohn für Frauen und Töchter, Schwestern, Mütter, Tanten und Großmütter aus, und das Spiel ist wirklich nicht ganz und gar Rotkäppchen und der Wolf, sondern es hat noch andere Seiten.«
Doch ich schweife ab.
Belinda, wie ich schon sagte, hatte das Bilderzimmer inne. Wir hatten bloß noch drei andere Zimmer: das Eckzimmer, das Schrankzimmer und das Gartenzimmer. Mein alter Freund Jack Governor hängte seine Hängematte, wie er sich ausdrückte, im Eckzimmer auf. Ich habe Jack stets als den schönsten Seemann angesehen, der je auf einem Segelschiff fuhr. Er ist jetzt grau, aber noch ebenso hübsch, wie er vor einem Vierteljahrhundert war – ja sogar noch hübscher. Ein stattlicher, fröhlicher, gutgebauter, breitschultriger Mann mit einem offenen Lächeln, glänzenden schwarzen Augen und dichten schwarzen Augenbrauen. Er ist überall gewesen, wo immer sein Namensvetter Der »Union-Jack«, die englische Nationalflagge. fliegt, und ich bin alten Schiffskameraden von ihm im Mittelmeer und auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans begegnet, deren Gesichter bei der zufälligen Erwähnung seines Namens aufleuchteten und die ausriefen:
»Sie sind mit Jack Governor bekannt? Dann kennen Sie einen Fürsten unter den Menschen!«
Und das ist er auch! Und dabei so unverkennbar Marineoffizier, daß Sie ihn auch noch für einen solchen hielten, wenn er mit Seehundsfellen bekleidet aus einer Eskimo-Schneehütte herausträte.
Jack hatte einst sein helles, klares Auge auf meine Schwester geworfen, aber schließlich doch eine andere Dame geheiratet und nach Südamerika mitgenommen, wo sie starb. Das ist schon zwölf Jahre oder länger her. Er brachte ein kleines Fäßchen Pökelrindfleisch mit in unser Spukhaus, denn er ist seit jeher der Überzeugung, daß alles Pökelrindfleisch, das er nicht selbst in Salz gelegt hat, bloßes Aas ist, und er packt deshalb stets, wenn er nach London geht, ein Stück davon in seinen Koffer. Er hatte sich auch von selbst erboten, einen gewissen »Nat Beaver« mitzubringen, einen alten Kameraden von ihm, der Kapitän eines Kauffahrers ist. Mr. Beaver, von Gesicht und Gestalt vierschrötig und wie aus Holz geschnitzt und anscheinend am ganzen Körper so hart wie ein Eichenklotz, erwies sich als ein intelligenter Mensch mit einer Unmenge Erfahrungen auf dem Wasser und großen praktischen Kenntnissen. Bisweilen war eine sonderbare Nervosität an ihm zu bemerken, offenbar die noch nicht ganz überwundene Folge einer früheren Krankheit; jedoch dauerte das selten mehr als ein paar Minuten lang. Er erhielt das Schrankzimmer und schlief dort neben Mr. Undery, meinem Freund und Rechtsanwalt. Dieser, der der beste Whistspieler im ganzen Anwaltsverzeichnis ist, war unserer Einladung als Amateur gefolgt, »um die Sache abzumachen«, wie er sich ausdrückte.
Ich habe mich in meinem ganzen Leben niemals glücklicher gefühlt, und ich glaube, den anderen ging es genauso. Jack Governor, der in jeder Lage die wunderbarsten Fähigkeiten zu entwickeln versteht, war Küchenchef und stellte einige der besten Gerichte her, die ich je gegessen habe; unter anderem unvergleichliche Ragouts. Meine Schwester hatte die Pasteten und das Zuckerzeug zu besorgen. Starling und ich waren Küchenmaate und hatten den Bratspieß um und um zu drehen, und bei besonderen Gelegenheiten »preßte« der Küchenchef den Mr. Beaver. Wir trieben viel Sport im Freien und machten weite Spaziergänge, aber deshalb wurde im Haus nichts vernachlässigt. Es gab keine Mißverständnisse oder üble Laune zwischen uns, und unsere Abende waren so schön, daß wir jeden Tag guten Grund hatten, einen Widerwillen gegen das Zubettgehen zu empfinden.
Zu Anfang gab es nachts einige Male Unruhe. In der ersten Nacht klopfte mich Jack wach. Er hielt eine wunderbare Schiffslaterne in der Hand und teilte mir mit, daß er »nach dem Flaggenkopf hinaufgehe«, um den Wetterhahn abzunehmen. Die Nacht war stürmisch, und ich erhob deshalb Einwände. Aber Jack machte mich darauf aufmerksam, daß der Wetterhahn einen Ton wie einen Verzweiflungsschrei von sich gäbe, und meinte, daß jemand in kurzer Zeit »Ein Geist!« rufen würde, wenn es nicht geschähe. So stiegen wir denn, von Mr. Beaver begleitet, auf das Hausdach, wo mich der Wind fast umblies. Dort krabbelte Jack, mit seiner Laterne und allem Zubehör, Mr. Beaver im Gefolge, bis auf die Spitze einer etwa zwei Dutzend Fuß über den Schornsteinen gelegenen Kuppel, wo er, auf nichts weiter stehend, in aller Gemütsruhe den Wetterhahn umhieb, bis sie beide infolge des Windes und der Höhe so gute Laune bekamen, daß ich dachte, sie würden niemals wieder heruntersteigen. In einer anderen Nacht zogen sie wieder aus und nahmen einen Schornsteinhut ab. Ein andermal schnitten sie ein schluchzendes und glucksendes Wasserrohr ab. In einer anderen Nacht fanden sie wieder etwas anderes. Bei verschiedenen Gelegenheiten fielen sie beide zu gleicher Zeit mit der größten Gemütsruhe aus ihren Schlafzimmerfenstern hinaus, indem sie eine Hand über der anderen an ihren Bettdecken hinabkletterten, um etwas Geheimnisvolles im Garten »zu überholen«.
Die zwischen uns getroffene Abmachung wurde getreulich eingehalten, und niemand machte irgendwelche Enthüllungen. Alles, was wir wußten, war, daß, wenn es wirklich in einem Zimmer spukte, noch niemand deshalb schlechter aussah.
* * *
Als ich die dreieckige Dachkammer bezog, die in einen so hervorragenden Ruf gekommen war, wandten sich meine Gedanken natürlicherweise Master B. zu, und ich fühlte mich recht unbehaglich dabei. Ob sein Vorname wohl Benjamin, Bartholomew oder Bill sei. Ob andererseits der Anfangsbuchstabe etwa zu seinem Familiennamen gehöre und dieser Baxter, Black, Brown, Barker, Buggins, Baker oder Bird sei. Ob er ein Findling und B. getauft worden war. Ob er ein besonders mutiger Junge gewesen und B. eine Abkürzung für Brite oder Bulle sei.
Mit diesen nutzlosen Grübeleien quälte ich mich viel herum. Ich brachte den geheimnisvollen Buchstaben auch mit der Erscheinung und den Beschäftigungen des Verstorbenen in Verbindung. Ich dachte darüber nach, ob er sich in Blau kleidete, ob er ein braver Junge war, ob er Bücher liebte, beim Billardspiel tüchtig oder im Boxen geschickt war, oder ob er nach Bognor, Bangor, Bournemouth, Brighton oder Broadstairs in Kur zu fahren pflegte.
So war ich von Anfang an von dem Buchstaben B besessen.
Es dauerte nicht lange, bis ich bemerkte, daß ich zwar nie und unter keinen Umständen von Master B. oder von etwas, was mit ihm zusammenhing, träumte. Aber in demselben Augenblick, in dem ich zu irgendeiner Stunde der Nacht aus dem Schlaf erwachte, hängten sich meine Gedanken an ihn und begannen nach etwas zu suchen, was zu seinem Anfangsbuchstaben passen und diesem endlich eine bestimmte Stelle anweisen könnte.
Sechs Nächte lang hatte ich mich so in Master B.s Zimmer abgequält, als ich anfing zu merken, daß nicht alles so war, wie es sein sollte.
Die erste Erscheinung, die sich einstellte, kam am frühen Morgen, als es eben erst Tag geworden war. Ich stand vor meinem Spiegel und rasierte mich, als ich zu meiner Verwunderung und Verblüffung plötzlich die Entdeckung machte, daß ich nicht mich rasierte – ich bin ein Mann von fünfzig Jahren – sondern einen Knaben. Offenbar Master B.!
Ich blickte zitternd über meine Schulter; doch da war nichts. Ich sah wieder in den Spiegel und unterschied deutlich die Züge und den Gesichtsausdruck eines Knaben, der sich rasierte, nicht um einen Bart loszuwerden, sondern um einen zu bekommen. Im höchsten Grade beunruhigt, ging ich ein paarmal im Zimmer auf und ab und kehrte dann zu dem Spiegel zurück, fest entschlossen, mit ruhiger Hand die Tätigkeit, bei der ich gestört worden war, zu Ende zu bringen. Ich öffnete die Augen, die ich einen kurzen Augenblick geschlossen hatte, um mich zu sammeln, und begegnete jetzt im Spiegel den Augen eines jungen Mannes von vier- oder fünfundzwanzig Jahren, der mir gerade ins Gesicht blickte. Durch dieses neue Gespenst erschreckt, schloß ich die Augen wieder und suchte mit äußerster Anstrengung meine Fassung wiederzugewinnen. Als ich abermals aufblickte, sah ich im Spiegel meinen schon längst verstorbenen Vater, wie er seine Wange rasierte. Ja, ich sah sogar meinen Großvater daneben, den ich in meinem ganzen Leben nie gesehen hatte.
Obwohl ich begreiflicherweise durch diese seltsamen Heimsuchungen sehr beunruhigt war, beschloß ich doch, das Geheimnis bis zu der für die allgemeine Eröffnung bestimmten Zeit zu wahren. Von einer Menge sonderbarer Gedanken bewegt, zog ich mich an diesem Abend auf mein Zimmer zurück. Ich war auf eine Gespenstererscheinung gefaßt und hatte mich darin auch nicht getäuscht, denn wer beschreibt meine Gefühle, als ich, Punkt zwei Uhr morgens aus einem unruhigen Schlaf erwachend, die Entdeckung machte, daß ich mein Bett mit dem Skelett des Master B. teilte!
Ich fuhr empor, das Skelett ebenfalls. Da hörte ich, wie eine klagende Stimme sprach: »Wo bin ich? Was ist aus mir geworden?« Ich blickte scharf in die Richtung, aus der die Töne kamen, und sah den Geist von Master B.
Das junge Gespenst war altmodisch gekleidet; das heißt, es war vielmehr in ein Futteral von minderwertigem pfeffer-und-salz-farbenen Tuch gesteckt, das durch glänzende Knöpfe ein schreckliches Aussehen erhielt. Ich bemerkte, daß diese Knöpfe in doppelter Reihe über die Schultern des jungen Geistes und, wie es den Anschein hatte, auch seinen Rücken hinunterliefen. Um den Hals trug er eine Hemdkrause. Seine rechte Hand (an der ich deutlich Tintenflecke wahrnahm) lag auf seinem Magen; und aus dieser Gebärde sowie einigen kleinen Pusteln auf seinem Gesicht und seinem allgemeinen schlechten Aussehen schloß ich, daß dieser Geist der Geist eines Jungen war, der gewohnheitsmäßig viel zuviel Medizin eingenommen hatte.
»Wo bin ich?« sagte das kleine Gespenst mit rührender Stimme. »Und weshalb wurde ich in den Kalomel-Tagen geboren, und warum wurde mir diese Menge Kalomel eingegeben?«
Ich erwiderte mit aller Aufrichtigkeit, daß ich es ihm bei meinem Seelenheil nicht sagen könnte.
»Wo ist meine kleine Schwester?« fragte der Geist. »Und mein engelgleiches kleines Weibchen und der Junge, mit dem ich zur Schule ging, wo sind sie?«
Ich bat den Geist, sich zu trösten und vor allem sich über den Verlust des Jungen zu fassen, mit dem er zur Schule ging. Ich bat ihn zu bedenken, daß, nach menschlicher Erfahrung zu urteilen, es sich wahrscheinlich niemals herausstellen würde, daß aus diesem Jungen, wenn man ihn entdeckte, etwas Gutes geworden war. Ich erzählte ihm, daß ich mich selbst mit einigen Jungen, mit denen ich zur Schule gegangen war, in späteren Jahren in Verbindung zu setzen versucht hatte, daß aber nicht einer von ihnen auch nur geantwortet hatte. Ich drückte meine bescheidene Überzeugung aus, daß dieser Junge überhaupt niemals antworten würde. Ich stellte ihm vor, daß er eine Sagengestalt, eine Täuschung und ein Fallstrick sei. Ich erzählte, wie ich das letztemal, als ich diesem Jungen begegnete, ihn bei einer Gesellschaft beim Diner fand, hinter einer Mauer von weißen Krawatten verschanzt, mit einer unvernünftigen Meinung über alle möglichen Dinge und einer geradezu titanenhaften Fähigkeit schweigsamer Langeweile. Ich berichtete, wie er, auf die Tatsache gestützt, daß wir beim »alten Doylance« zusammen in der Schule gesessen hatten, sich bei mir zum Frühstück eingeladen hatte, was eine gesellschaftliche Beleidigung ersten Ranges gewesen war. Die schwach glühende Asche meines Glaubens an Doylances Jungen anfachend, hatte ich ihn hereingelassen, und es stellte sich heraus, daß er ein fürchterlicher Erdenwanderer war, der die Rasse Adams mit unerklärbaren Begriffen in bezug auf das umlaufende Geld verfolgte. Sein Tick war, die Bank von England müsse bei Strafe der Abschaffung auf der Stelle Gott weiß wie viele tausend Millionen von Zehn-Pfund-und-sechs-Pence-Banknoten drucken lassen und in Verkehr bringen.
Der Geist hörte schweigend zu und blickte starr vor sich hin.
»Barbier!« redete er mich schließlich an, als ich geendet hatte.
»Barbier?« wiederholte ich – denn ich bin nicht von dieser Zunft.
»Verdammt«, sagte der Geist, »eine ständig wechselnde Kundschaft zu rasieren – bald mich – bald einen jungen Mann – bald dich selbst, wie du bist – bald deinen Vater – bald deinen Großvater; verdammt ferner, sich allnächtlich mit einem Skelett zu Bett zu legen und an jedem Morgen damit aufzustehen+…«
(Ein Schauder überlief mich, als ich diese unheilvolle Ankündigung vernahm.)
Ich hatte, selbst bevor noch diese Worte gesprochen worden waren, ein Gefühl gehabt, die Erscheinung verfolgen zu müssen. Ich tat es augenblicklich und befand mich nicht mehr in Master B.s Zimmer.
Es ist den meisten Menschen bekannt, was für lange und ermüdende Nachtreisen den Hexen, die Geständnisse ablegten, aufgezwungen waren. Ich behaupte, daß ich während meines Aufenthaltes in Master B.s Zimmer von dem Geist, der darin spukte, auf Expeditionen mitgenommen wurde, die so lang und abenteuerlich waren wie nur eine von diesen Hexenfahrten. Freilich wurde ich keinem schäbigen alten Mann mit Ziegenhörnern und Schwanz vorgestellt, der gesellschaftliche Empfänge, ebenso stumpfsinnig wie die des wirklichen Lebens und nur weniger anständig, abhielt. Aber ich traf auf andere Dinge, die mir mehr Bedeutung zu haben schienen.
In der Zuversicht, daß man mir meine Worte glauben wird, erkläre ich ohne Zögern, daß ich dem Geist beim erstenmal auf einem Besenstiel und später auf einem Schaukelpferd folgte. Sogar den Geruch der Farbe des Tieres – besonders als ich diesen durch meine Körperwärme hervorbrachte – kann ich beschwören. Ein andermal folgte ich dem Geist in einer Mietsdroschke. Die gegenwärtig lebende Generation ist zwar mit dem besonderen Geruch dieses Vehikels nicht mehr vertraut, aber ich bin wieder bereit, darauf zu schwören. Er setzt sich zusammen aus Stallduft, dem Geruch eines räudigen Hundes und dem eines sehr alten Blasebalgs. (Ich appelliere an die ältere Generation, mir das zu bestätigen oder zu widerlegen.) Ich verfolgte die Erscheinung ferner auf einem Esel ohne Kopf, zum mindesten auf einem Esel, den der Zustand seines Magens so interessierte, daß sein Kopf stets da unten war, um ihn zu untersuchen; dann auf Ponys, die ausdrücklich dazu geboren waren, hinten auszuschlagen; dann auf Karussells und Schaukeln von Jahrmärkten; dann in dem ersten Cab, einer anderen vergessenen Einrichtung, in der der Fahrgast regelrecht zu Bett gebracht und mit dem Kutscher zusammen zugedeckt wurde.
Um den Leser nicht mit einem ins einzelne gehenden Bericht von allen meinen Reisen, die ich bei der Verfolgung von Master B. unternahm, zu langweilen – sie waren länger und wunderbarer als diejenigen Sindbad des Seefahrers –, will ich mich darauf beschränken, eine davon wiederzugeben, nach der sich der Leser von vielen einen Begriff machen kann.
Ich war in wunderbarer Weise verwandelt. Ich war ich selbst und doch nicht ich selbst. Ich hatte das Bewußtsein von etwas in mir, das mein ganzes Leben hindurch das gleiche geblieben ist und das ich in allen seinen Perioden und bei allem Wechsel der Ereignisse als stets unveränderlich erkannt habe, und doch war ich nicht das Ich, das in Master B.s Zimmer zu Bett gegangen war. Ich besaß das glätteste aller Gesichter und die kürzesten aller Beine, und ich hatte ein zweites Wesen, das mir glich, ebenfalls mit dem glättesten aller Gesichter und den kürzesten aller Beine, hinter eine Tür gezogen und machte ihm in aller Heimlichkeit einen Vorschlag der verblüffendsten Art.
Dieser Vorschlag bestand darin, daß wir uns einen Harem zulegen wollten.
Der andere stimmte eifrig zu. Sein Begriff von Schicklichkeit war ebensowenig ausgeprägt wie der meine. Es war allgemein Brauch im Osten, es war die Gewohnheit des guten Kalifen Harun al Raschid (wie duftet doch der Name nach süßen Erinnerungen!), es war eine höchst lobens- und nachahmenswerte Sitte.
»O ja!« sagte der andere mit einem Luftsprung. »Wir wollen uns einen Harem zulegen.«
Wir hegten nicht den leisesten Zweifel an dem verdienstvollen Charakter der orientalischen Einrichtung, die wir zu importieren gedachten. Daß wir sie vor Miß Griffin geheimhalten wollten, geschah nur deshalb, weil wir Miß Griffin als bar jeder menschlichen Sympathie kannten und wußten, daß ihr jedes Verständnis für die Größe des großen Kalifen Harun abging. Als ein Geheimnis, das vor Miß Griffin in undurchdringliche Schleier gehüllt war, wollten wir es nun Miß Bule anvertrauen.
Wir waren unserer zehn in Miß Griffins Anstalt bei Hampstead Ponds; acht Damen und zwei Herren. Miß Bule, die, wie ich denke, das reife Alter von acht oder neun Jahren erreicht hatte, spielte die tonangebende Rolle in der Gesellschaft. Ich eröffnete ihr die Angelegenheit im Laufe des Tages und schlug ihr vor, daß sie die Favoritin werden sollte.
Miß Bule hatte erst einige Bedenken zu überwinden, wie dies ja ihrem anbetungswürdigen Geschlecht so natürlich ist und so reizend steht, und erklärte dann, sie sei von dem Vorschlag höchst schmeichelhaft berührt, möchte aber zuvor darüber aufgeklärt sein, wie für Miß Pipson gesorgt werden sollte. Es war allgemein bekannt, daß Miß Bule und diese junge Dame sich auf dem Gebetbuch, vollständig in zwei Bänden mit Etui und Schloß, Freundschaft bis zum Tode, alles miteinander zu teilen und kein Geheimnis voreinander zu haben gelobt hatten. So sagte Miß Bule jetzt, sie könne es als Freundin von Pipson nicht vor sich selbst oder vor mir verbergen, daß Pipson nicht eine aus der großen Masse war.
Da Miß Pipson nun blonde Locken und blaue Augen besaß (dies war mein Begriff von etwas Weiblichem, das man schön nennen konnte), so erwiderte ich unverzüglich, daß ich Miß Pipson als eine schöne Tscherkessin ansähe.
»Und was dann?« fragte Miß Bule gedankenvoll.
Ich antwortete, daß sie, von einem Kaufmann verleitet, verschleiert zu mir gebracht und als Sklavin angekauft werden müsse.
(Meinem Gefährten war bereits die zweite männliche Stellung im Staate zugefallen und er war für das Amt des Großwesirs bestimmt. Er sträubte sich zunächst zwar gegen diese Einteilung, aber einiges Ziehen an den Haaren machte ihn nachgiebig.)
»Werde ich nicht Anlaß zur Eifersucht haben?« fragte Miß Bule und schlug die Augen nieder.
»O nein«, erwiderte ich. »Du wirst immer die Favoritin des Sultans sein; die erste Stelle in meinem Herzen und auf meinem Throne wird stets dir gehören.«
Auf diese Versicherung hin erklärte sich Miß Bule bereit, die Sache ihren sieben schönen Gefährtinnen vorzulegen. Im Laufe des Tages fiel mir noch ein, daß wir, wie wir alle wußten, einem gutmütigen, ewig grinsenden Burschen namens Tabby vertrauen konnten. Er war der Arbeitssklave im Hause, hatte eine Gestalt wie ein Bett, und sein Gesicht war stets mehr oder weniger schwarz berußt. Über ihn ließ ich nach dem Abendbrot einen kleinen Zettel in Miß Bules Hand gleiten; ich wies darin auf den Ruß hin, der sein Gesicht zierte, und meinte, dieser sei ihm von dem Finger der Vorsehung zuteil geworden, die ihn damit als Mesrur, den berühmten Obersten der Haremseunuchen, habe kennzeichnen wollen.
Es traten Schwierigkeiten bei der Bildung der erstrebten Einrichtung auf, wie es bei allen Plänen geht. Mein Gefährte erwies sich als ein Mensch von niedriger Gesinnung, und als sein Streben nach dem Thron mißlungen war, gab er vor, es bereite ihm Gewissensnöte, sich vor dem Kalifen zu Boden werfen zu müssen. Auch wollte er ihn nicht Herrscher der Gläubigen nennen, sprach in herabsetzender und unlogischer Weise von ihm als von einem bloßen »Burschen«, sagte er, der Gefährte, »wolle nicht mitspielen« – spielen! –, und war noch auf andere Art roh und aufsässig. Dieses gemeine Benehmen wurde ihm jedoch durch den allgemeinen Unwillen eines vereinten Harems ausgetrieben, und ich wurde mit dem Lächeln von acht der schönsten Töchter der Menschen gesegnet.
Dieses Lächeln konnte mir aber nur dann zuteil werden, wenn Miß Griffin anderswohin blickte, und auch dann blieb äußerste Vorsicht angebracht. Es ging nämlich die Sage unter den Anhängern des Propheten, daß sie mit einem kleinen runden Ornament auf der hinteren Seite ihres Schals sehen konnte. Aber täglich nach dem Mittagessen waren wir alle eine Stunde lang beisammen, und dann wetteiferten die Favoritin und die übrigen Insassen des Königlichen Harems, welche dem erhabenen Harun am besten die Zeit vertreiben könnte, während er von den Staatssorgen ausruhte. Diese waren gewöhnlich arithmetischer Natur, da der Herrscher der Gläubigen ein furchtbarer Stümper im Rechnen war.
Bei diesen Gelegenheiten war der treue Mesrur, der Oberste der Haremseunuchen, stets anwesend (während gewöhnlich Miß Griffin zu gleicher Zeit mit großer Heftigkeit nach diesem Beamten läutete), aber er benahm sich niemals in einer Weise, die seinem geschichtlichen Ruf Ehre gemacht hätte. Erstens brachte er stets einen Besen in die Gemächer des Kalifen mit, selbst wenn Harun das rote Gewand des Zornes (Miß Griffins Umhang) um seine Schultern trug; und wenn man sich auch für den Augenblick damit abfinden konnte, so konnte es doch niemals in völlig befriedigender Weise erklärt werden. Zweitens war es weder orientalisch noch respektvoll, daß er bisweilen in grinsende Rufe ausbrach: »Herrje, ihr hübschen Kinder!« Drittens, wenn man ihm genau einschärfte, »Bismilla!« zu sagen, sagte er stets »Halleluja!« Dieser Beamte war, ganz im Gegensatz zu seiner Klasse, viel zu gutmütig, hielt seinen Mund viel zu weit offen, gab seine Zustimmung viel zu häufig zu erkennen und ging sogar einmal so weit – es war beim Kauf der schönen Tscherkessin für fünfhunderttausend Goldbörsen, und das war noch billig –, die Sklavin, die Favoritin und den Kalifen alle nacheinander in die Arme zu schließen. (Nebenbei gesagt, Gott segne Mesrur, und mögen ihm Söhne und Töchter beschert gewesen sein, die an seiner liebevollen Brust ruhten und ihm manchen harten Tag versüßten!)
Miß Griffin war ein Muster von Wohlanständigkeit, und ich kann mir die Gefühle der tugendhaften Frau kaum ausmalen, wenn sie gewußt hätte, daß sie beim Spaziergang auf der Hampstead Road, wo wir zwei und zwei hinter ihr hergingen, mit stolzem Schritt an der Spitze von Polygamie und Mohammedanertum dahinwandelte. Eine geheimnisvolle und schreckliche Freude erfüllte uns, wenn wir die nichtsahnende Miß Griffin betrachteten, und wir hatten das grimmige Bewußtsein einer furchtbaren Macht, die darin lag, daß wir etwas wußten, was Miß Griffin (die alles wußte, was aus Büchern gelernt werden konnte) unbekannt war. Und ich bin überzeugt, daß diese Gefühle der Hauptgrund dafür waren, daß unser Geheimnis gewahrt wurde. Wir hielten in bewundernswerter Weise unseren Mund, aber einmal hätten wir uns doch beinahe selbst verraten. Es war an einem Sonntag, als sich das gefahrvolle Ereignis und die glückliche Errettung daraus zutrug. Wir waren alle zehn auf einem gut sichtbaren Platz der Kirchenempore in einer Reihe, mit Miß Griffin an der Spitze, untergebracht – wir dienten jeden Sonntag in dieser Weise als eine unweltliche Reklame für die Anstalt –, als gerade vorgelesen wurde, welch glanzvolles häusliches Leben Salomo geführt hatte. Bei dieser Beschreibung flüsterte mir mein Gewissen zu: »Auch du, Harun!« Der amtierende Geistliche hatte ein Schielauge, und dieses unterstützte mein schlechtes Gewissen, indem es den Anschein erweckte, als richte er die Predigt an mich persönlich. Ich fühlte, wie ich brennend rot wurde und mir der Schweiß am ganzen Körper ausbrach. Der Großwesir war mehr tot als lebendig, und der ganze Harem errötete, so als schiene die untergehende Sonne Bagdads gerade auf die lieblichen Gesichter der Damen. In diesem gefahrdrohenden Augenblick erhob sich die schreckliche Griffin und musterte die Kinder des Islams mit finsterem Ausdruck. Ich hatte den Eindruck, daß Staat und Kirche mit Miß Griffin eine Verschwörung eingegangen waren, um uns bloßzustellen, und daß wir alle in weiße Hemden gesteckt und im Mittelschiff an den Pranger gestellt werden würden. Aber so westlich – wenn ich mich dieses Ausdrucks als Gegensatz zu östlichen Begriffen bedienen darf – war Miß Griffins Rechtlichkeitsgefühl, daß ihr Verdacht lediglich auf Äpfel ging; und das war unsere Rettung.
Ich sprach davon, daß Einigkeit im Harem bestand. Freilich über einen einzigen Punkt gab es unter seinen unvergleichlichen Insassen eine Meinungsverschiedenheit, und zwar darüber, ob der Herrscher der Gläubigen ein Kußrecht in diesem Heiligtum des Palastes ausüben durfte. Sobeïde (Miß Bule) behauptete, daß die Favoritin dann ihrerseits das Recht hätte, zu kratzen, und die schöne Tscherkessin steckte ihr Gesicht in ein grünes Futteral, das ursprünglich für Bücher bestimmt war. Andererseits hatte eine junge Antilope von überirdischer Schönheit viel weitherzigere Anschauungen. Sie stammte aus den fruchtbaren Ebenen von Camden Town, von wo sie durch Kaufleute in der Karawane mitgebracht worden war, die jedes halbe Jahr nach den Ferien die dazwischenliegende Wüste durchquerte. Die Schöne machte es aber zur Bedingung, daß die Wohltat dieses Rechts auf jenen Hund und Sohn eines Hundes, den Großwesir, beschränkt bleiben sollte. Dieser aber hatte keine Rechte und kam nicht in Frage. Schließlich wurde die Schwierigkeit durch einen Kompromiß gelöst, indem eine sehr jugendliche Sklavin als Stellvertreterin bestimmt wurde. Diese nahm, auf einen Stuhl gestellt, offiziell die Begrüßungen entgegen, die der gnädige Harun anderen Sultaninnen zugedacht hatte, und wurde dafür aus den Koffern der Haremsdamen privatim entschädigt.
Aber jetzt, als ich auf der höchsten Höhe meines Glücks angelangt war, begannen mich schwere Sorgen heimzusuchen. Ich dachte an meine Mutter, und was sie wohl sagen würde, wenn ich in den Sommerferien acht der schönsten der Menschentöchter, aber alle ganz unerwartet, mit nach Hause bringen würde. Ich dachte an die Anzahl von Betten, die es in unserem Haus gab, an das Einkommen meines Vaters und an den Bäcker, und meine Verzweiflung wurde noch einmal so groß. Der Harem und der boshafte Wesir, die den Grund der unglücklichen Gemütsstimmung ihres Gebieters errieten, taten ihr Äußerstes, um sie zu verschlimmern. Sie versicherten ihn ihrer unbegrenzten Treue und erklärten, daß sie mit ihm leben und sterben wollten. Durch diese Kundgebungen der Anhänglichkeit in die schlimmste Verzweiflung versetzt, lag ich stundenlang wach und grübelte über meine entsetzliche Lage nach. Ich glaube, ich hätte in meiner Not die erste beste Gelegenheit ergriffen, um vor Miß Griffin auf die Knie zu fallen, meinen salomonischen Lebenswandel zu gestehen und sie zu bitten, mit mir nach den beleidigten Gesetzen meines Vaterlandes zu verfahren, wenn sich mir nicht auf einmal ein unerwarteter Weg der Rettung gezeigt hätte.
Eines Tages gingen wir wie immer zu zwei und zwei spazieren. Bei diesen Gelegenheiten hatte der Wesir die Weisung, sein Augenmerk auf den Jungen am Schlagbaum zu haben, und wenn er (was er stets tat) die Haremsschönheiten respektlos anstarrte, dafür zu sorgen, daß er in der Nacht mit der seidenen Schnur erdrosselt würde. An diesem Tag waren unsere Herzen von Trauer erfüllt, denn eine ganz unbegreifliche Handlungsweise der Antilope hatte den Staat in Schande gebracht. Dieses reizende Wesen hatte am Tag zuvor vorgegeben, daß es ihr Geburtstag wäre und daß sie zu einer Feier unermeßliche Schätze in einem Eßkorb erhalten hätte. Auf diese Behauptungen hin, die beide ganz grundlos waren, hatte sie heimlich, aber äußerst dringend fünfunddreißig Prinzen und Prinzessinnen aus der Nachbarschaft zu einem Souper mit Ball eingeladen und hatte dabei besonders ausgemacht, daß »bis zwölf nicht abgeholt werden« sollte. Dieser phantastische Einfall der Antilope hatte die Folge, daß sich zur allgemeinen Überraschung an der Tür von Miß Griffins Haus eine zahlreiche Gesellschaft in großer Toilette einfand. Die Gäste wurden auf der obersten Stufe der Haustreppe, von freudiger Erwartung erfüllt, niedergesetzt und mußten darauf in Tränen wieder den Heimweg antreten. Als die Doppelschläge, die zu diesen Zeremonien gehörten, zu ertönen begannen, hatte sich die Antilope in ein Dachstübchen auf der Hinterseite des Hauses zurückgezogen und eingeschlossen. Miß Griffin aber war bei jedem Doppelschlag, der die Ankunft neuer Gäste ankündigte, immer mehr außer sich geraten, so daß man zuletzt beobachtet hatte, wie sie sich das Haar raufte. Die schließliche Kapitulation der Übeltäterin hatte ihre Isolierung im Wäscheschrank bei Wasser und Brot zur Folge, und alle Insassen des Hauses bekamen eine Vorlesung von strafender Länge zu hören. Miß Griffin sagte darin: erstens, »ich glaube, daß ihr alle darum gewußt habt«; zweitens, »jeder einzelne unter euch ist ebenso schlecht wie der andere«; drittens nannte sie uns »einen Haufen kleiner Bösewichte«.
Unter diesen Umständen gingen wir niedergeschlagen dahin, und besonders ich fühlte mich von meinen muselmännischen Verpflichtungen schwer bedrückt und befand mich in einer äußerst trübseligen Stimmung. Auf einmal sprach ein fremder Mann Miß Griffin an, und nachdem er kurze Zeit, in ein ernsthaftes Gespräch vertieft, an ihrer Seite dahingeschritten war, warf er einen Blick auf mich. In der Annahme, daß er ein Häscher des Gerichts wäre und meine Stunde geschlagen hätte, lief ich spornstreichs davon, mit der Absicht, Ägypten zu erreichen.
Die Damen des Harems schrien sämtlich auf, als sie mich davonlaufen sahen, so schnell mich meine Beine tragen wollten (ich hegte die Vorstellung, daß der erste Seitenweg links und dann am Wirtshaus vorbei der kürzeste Weg nach den Pyramiden sein würde), Miß Griffin rief hinter mir her, der treulose Wesir lief mir nach, und der Junge am Schlagbaum drängte mich wie ein Schaf in eine Ecke und schnitt mir den Weg ab. Niemand schalt mich, als ich ergriffen und zurückgebracht worden war; Miß Griffin sagte bloß mit verblüffender Milde, dies wäre doch sehr seltsam! Weshalb wäre ich denn davongelaufen, als der Gentleman mich anblickte?
Ich hätte sicherlich auch keine Antwort gegeben, wenn ich noch etwas Atem zum Antworten übrig gehabt hätte. Da ich aber keinen Atem mehr hatte, so antwortete ich gleich ganz und gar nicht. Miß Griffin und der fremde Mann nahmen mich in die Mitte und führten mich durchaus nicht wie einen Sträfling, sondern mit einer Art Feierlichkeit in den Palast zurück. Ich wußte mich vor Erstaunen nicht zu lassen.
Dort angelangt, gingen wir auf ein besonderes Zimmer, und Miß Griffin rief zu ihrer Unterstützung Mesrur, den Obersten der schwarzen Haremswächter, herbei. Mesrur begann, als ihm einige Worte zugeflüstert worden waren, Tränen zu vergießen.
»Gott segne dich, mein Lieber!« sagte dieser Beamte, indem er sich mir zuwandte. »Deinem Papa geht es sehr schlecht!«
Ich fragte, während mir das Herz bis zum Hals klopfte:
»Ist er sehr krank?«
»Der Herr beschütze dich vor dem Sturm, mein Lamm!« sagte der gute Mesrur, während er niederkniete, damit ich mein Haupt auf seine tröstende Schulter stützen könnte. »Dein Papa ist gestorben!«
Bei diesen Worten entfloh Harun al Raschid für immer; der Harem verschwand, und ich habe keine der acht schönsten Menschentöchter jemals wiedergesehen.
Ich wurde nach Hause geholt. Der Tod und Schulden bedrückten unser Heim, und es fand eine Auktion statt. Mein eigenes kleines Bett wurde von einer mir unbekannten Macht, die den unbestimmten Namen »Der Handel« trug, so geringschätzig angesehen, daß ein Kohlenkasten aus Messing, ein Bratenwender und ein Vogelkäfig hineingetan werden mußten, damit es zusammen eine Partie ausmachte, und dann wurde das Ganze für einen Pfifferling losgeschlagen. So hörte ich wenigstens sagen.
Dann wurde ich in eine große, kalte, kahle Schule für große Jungen geschickt, wo alles, was es zu essen und anzuziehen gab, dick und klumpig, aber nicht ausreichend war; wo jedermann, groß und klein, grausam war; wo die Jungen alles über die Auktion wußten, noch bevor ich dort angekommen war, und mich fragten, was ich gebracht und wer mich gekauft hätte, und mir nachspotteten: »Zum ersten, zum zweiten, zum dritten!« Ich ließ an diesem elenden Ort keinen Laut davon vernehmen, daß ich Harun gewesen war und einen Harem gehabt hatte. Denn ich wußte, wenn ich von meinen Schicksalsschlägen erzählte, so würde mir derart mitgespielt werden, daß ich mich in dem schlammigen Teich in der Nähe des Spielplatzes, dessen Wasser wie das Tafelbier aussah, ertränken müßte.
Ach, ich Ärmster, ich Ärmster! Meine Freunde, kein anderer Geist hat jemals, seit ich es bewohne, in dem Zimmer von Master B. gespukt als der Geist meiner eigenen Kindheit, der Geist meiner eigenen Unschuld, der Geist meines eigenen phantastischen Glaubens. Ich habe manches liebe Mal die Erscheinung verfolgt; aber niemals habe ich sie mit diesem meinem Männerschritt eingeholt, niemals habe ich sie mit diesen meinen Männerhänden berühren, sie niemals in ihrer alten Reinheit an dieses mein Männerherz drücken können. Und so seht ihr, wie ich frohgemut und dankbar meinen Urteilsspruch hinnehme, eine ständig wechselnde Kundschaft im Spiegel rasiere und mit dem Skelett, das mir als sterblicher Gefährte bestimmt ist, zu Bett gehe und aufstehe.
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