Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In vier Kapiteln
»Somebody's Luggage«
Da der Schreiber dieser bescheidenen Zeilen ein Kellner ist, der aus einer Kellnerfamilie stammt und im gegenwärtigen Zeitpunkt fünf Brüder, die alle Kellner sind, und ferner eine einzige Schwester hat, die Kellnerin ist, so möchte er sich einige Worte über seinen Beruf erlauben. Vorerst aber macht er sich das Vergnügen, diese Zeilen hiermit Joseph, dem allgemein geachteten Oberkellner im Slamjam-Kaffeehaus, London, E.C., freundschaftlich zu widmen. Denn es gibt niemanden, der den Namen Mensch besser verdient und seinem eigenen Kopf und Herzen mehr Ehre macht, ob als Kellner oder Privatmann, als Joseph.
Falls in der öffentlichen Meinung Unklarheit darüber herrschen sollte, was mit dem Ausdruck Kellner gemeint ist (und in der öffentlichen Meinung herrscht über vielerlei Dinge Unklarheit), dann möchten diese bescheidenen Zeilen eine Erklärung geben. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß derjenige, der ins Haus kommt, um aufzuwarten, kein Kellner ist. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß die Aushilfen, die die Gasthäuser gelegentlich einstellen, keine Kellner sind. Solche Leute können für öffentliche Diners aushilfsweise angenommen werden (und Sie können sie daran erkennen, daß sie beim Bedienen schwer atmen und die Flasche abräumen, bevor sie noch halb geleert ist), aber das sind keine Kellner. Denn Sie können nicht die Schneiderei oder Schuhmacherei oder das Pfandleihgeschäft oder den Obst- oder Zeitungsverkauf oder den Handel mit alten Kleidern oder einen von den kleinen ausgefallenen Berufen – Sie können diese Tätigkeiten nicht nach Wunsch und Gefallen für einen halben Tag oder Abend aufgeben und Kellner werden. Vielleicht glauben Sie, Sie könnten es, aber Sie täuschen sich darin; oder Sie können so weit gehen, daß Sie behaupten, Sie könnten es, aber das trifft nicht zu. Sie können auch nicht den Beruf als Diener eines Gentleman an den Nagel hängen, wenn Ihnen die fortwährenden Reibereien mit der Köchin auf die Nerven gehen (und hier mag angemerkt sein, daß die Begriffe Köchin und Reiberei meist vereint angetroffen werden), und Kellner werden. Es ist festgestellt worden, daß ein Gentleman Dinge, die er zu Hause gelassen hinnimmt, auswärts, etwa in dem Slamjam-Kaffeehaus oder an einem ähnlichen Ort, keinen Augenblick erträgt. Was ist unter diesen Umständen also die richtige Schlußfolgerung in bezug auf den echten Kellnerberuf? Sie müssen dazu erzogen sein; Sie müssen dazu geboren sein.
Möchten Sie wissen, wie es ist, dazu geboren zu sein, schöne Leserin – wenn Sie dem anbetungswürdigen weiblichen Geschlecht angehören? Dann lernen Sie aus der biographischen Erfahrung eines Menschen, der im einundsechzigsten Jahre seines Lebens ein Kellner ist.
Stellen Sie sich vor: Sie wurden – noch bevor Ihre dämmernden Verstandeskräfte weiter entwickelt waren, als daß in Ihrem Innern eine gähnende Leere herrschte – auf Schleichwegen in eine Speisekammer des Restaurants »Zum Admiral Nelson« gebracht, um dort heimlich jene gesunde Nahrung zu erhalten, die der Ruhm und Stolz der britischen Frau ist. Die Ehe zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater (der selbst ein anderswo beschäftigter Kellner ist) wurde in der tiefsten Heimlichkeit geschlossen. Denn eine Kellnerin, von der man weiß, daß sie verheiratet ist, würde das beste Geschäft zugrunde richten – genauso wie bei der Bühne. So erklärt es sich, daß Sie in die Speisekammer eingeschmuggelt wurden, und zwar – was das Unglück noch verschlimmerte – durch eine widerwillige Großmutter. Von einer Atmosphäre umgeben, in der sich die Gerüche von Gebratenem und Gesottenem, von Suppen, Gas und Malzgetränken vermengten, erhielten Sie Ihre erste Nahrung; neben Ihnen Ihre unwillige Großmutter, immer bereit, Sie aufzufangen, wenn Ihre Mutter gerufen wurde und Sie fallen ließ; der Schal Ihrer Großmutter stets bereit, die Naturlaute Ihrer Klagen zu ersticken; Ihr unschuldiges Gemüt von fremdartigen Geräten, gebrauchten Tellern, Schüsseldeckeln und kalter Bratensauce umgeben, während Ihre Mutter durch das Sprachrohr Kalbs- und Schweinebraten bestellte, anstatt Sie mit Wiegenliedern einzulullen. Unter diesen ungünstigen Verhältnissen wurden Sie frühzeitig entwöhnt. Ihre unwillige Großmutter, die immer unwilliger wurde, je schlechter Ihre Nahrung sich verdaute, nahm dann die Gewohnheit an, Sie zu schütteln, bis Ihr ganzer Körper erstarrte und Ihre Nahrung sich überhaupt nicht mehr verdaute. Schließlich blieb sie nicht länger von dem natürlichen Schicksal aller Menschen verschont, und man hätte schon viel früher ganz gern auf sie verzichtet.
Als Ihre Brüder nach und nach zu erscheinen begannen, zog sich Ihre Mutter vom Geschäft zurück, gab es auf, sich zu putzen (sie hatte früher viel auf Putz gehalten) und sich schwarze Löckchen zu machen (von denen sie früher eine Menge besessen hatte), und wartete Abend für Abend bis zu später Stunde auf Ihren Vater. In dem schmutzigen Hof, der zu der Hintertür des »Königlichen Alten Müllkastens« (es hieß, daß Georg der Vierte das Wirtshaus so benannt hatte) führte, wo Ihr Vater Ober war, lauerte sie ihm bei jedem Wetter auf; aber der Müllkasten war damals im Niedergang begriffen und Ihr Vater nahm sehr wenig ein – ausgenommen an Flüssigkeiten. Der Zweck, den Ihre Mutter mit diesen Besuchen verfolgte, hing mit dem Haushalt zusammen, und Sie wurden angestiftet, Ihren Vater herauszupfeifen. Manchmal kam er auch, in der Regel aber nicht. Mochte er aber nun kommen oder nicht kommen, auf jeden Fall wurde über diesen Teil seines Daseins, der nichts mit dem Kellnerberuf zu tun hatte, das tiefste Geheimnis gewahrt. Ihre Mutter behandelte es als tiefstes Geheimnis, und Sie und Ihre Mutter flitzten, beide als tiefste Geheimnisse, über den Hof und würden nicht einmal auf der Folter zugegeben haben, daß Sie Ihren Vater kannten oder daß Ihr Vater anders als Dick hieß (dies war gar nicht sein Name, aber man hat ihn nie unter einem anderen gekannt) oder daß er Kind oder Kegel besaß. Vielleicht hatte dieses Geheimnis einen besonderen Zauber für Sie; vielleicht wirkte ferner auch die Tatsache auf Sie, daß Ihr Vater in dem »Müllkasten« ein feuchtes Abteil für sich selbst besaß, eine Art Kellerloch hinter einer lecken Zisterne, mit einem übelriechenden Ausguß, einem Tellerständer, einem Flaschenfutteral und drei Fenstern, die nicht zueinander paßten und kein Tageslicht einließen; jedenfalls waren Sie in Ihrem jungen Gemüt überzeugt, daß Sie, wenn Sie erwachsen wären, ebenfalls Kellner werden müßten. Und diese Überzeugung wurde von allen Ihren Brüdern und auch von Ihrer Schwester geteilt. Alle waren sie überzeugt, zum Kellnerberuf geboren zu sein.
Welche Gefühle aber bemächtigten sich Ihrer, als zu dieser Zeit eines Tages Ihr Vater am hellichten Tage – eine schon an sich wahnsinnige Handlungsweise von einem Kellner – zu Ihrer Mutter nach Hause kam und sich ins Bett (oder wenigstens in das Bett Ihrer Mutter und Geschwister) legte, mit der Erklärung, seine Augen wären verteufelte Dinger. Ärztliche Hilfe war machtlos, und so starb Ihr Vater. Einen Tag und eine Nacht lang hatte er zuweilen, wenn ein Funke von Bewußtsein und Erinnerung an seinen Beruf in ihm aufglomm, vor sich hingesprochen: »Zwei und zwei ist fünf. Und drei ist sechs Pence.« Er wurde auf dem benachbarten Friedhof zu Grabe getragen, wobei ihm so viele langjährige Kellner die letzte Ehre erwiesen, wie an diesem Morgen von ihren schmutzigen Gläsern abkommen konnten (nämlich ein einziger). Darauf wurden Sie als Waisenknabe mit einer weißen Krawatte versehen und aus Wohltätigkeitsgründen bei dem »Georg und Bratenrost«, Theaterrestaurant und Einkehrhaus für den Abend, angenommen. Hier nährten Sie sich von dem, was Sie auf den Tellern fanden (was je nachdem ganz verschieden und nur zu oft gedankenlos in Senf eingetaucht war) und was die Gäste in den Gläsern zurückgelassen hatten (was selten aus mehr als spärlichen Resten und Zitronenscheiben bestand). Am Abend schliefen Sie im Stehen ein, bis Sie wachgepufft wurden, und am Tag mußten Sie jeden einzelnen Gegenstand im Kaffeezimmer polieren. Ihr Lager bestand aus Sägemehl, Ihre Decke aus Zigarrenasche. Hier hatten Sie oft ein schweres Herz unter dem eleganten Knoten Ihrer weißen Krawatte zu verbergen (oder richtiger gesagt, weiter unten und mehr nach links) und lernten die Anfangskapitel Ihrer Wissenschaft von einem Aushelfer namens Bishops, der von Beruf Geschirrwäscher war. Sie bildeten Ihren Geist nach und nach mit Kreide auf der Rückseite des Eckabteil-Wandschirms, bis die Zeit herankam, wo Sie das Tintenfaß, wenn es gerade frei war, benutzen konnten, das Mannesalter erreichten und der Kellner wurden, der Sie jetzt sind.
Ich möchte hier mit allem Respekt einige Worte zugunsten des Berufs einlegen, der so lange mein und meiner Familie Beruf ist und der nur zu oft auf ein sehr geringes Interesse in der Öffentlichkeit stößt. Im allgemeinen versteht man uns nicht. So verhält es sich tatsächlich. Man nimmt nicht genügend Rücksicht auf uns. Denn, nehmen wir an, wir zeigten jemals ein wenig übellaunige Unachtsamkeit, oder was man Gleichgültigkeit oder Apathie nennen könnte. Stellen Sie sich einmal Ihre eigene Gemütsverfassung vor, wenn Sie einer aus einer ungeheuer großen Familie wären, in der jedes Mitglied mit Ausnahme von Ihnen selbst stets gierig und stets in Eile wäre. Stellen Sie sich vor, daß Sie stets um ein Uhr mittags und dann wieder abends um neun mit Speise und Trank gesättigt wären und daß, je mehr Sie gesättigt wären, um so freßgieriger alle Ihre Mitmenschen das Lokal beträten. Stellen Sie sich vor, daß es Ihre Aufgabe wäre, gerade zur Zeit Ihrer besten Verdauung persönliches Interesse und Sympathie gegenüber hundert Gentlemen, die ganz frisch und mobil wären (ich nehme im Augenblick bloß hundert an), zu zeigen – Leuten, deren Phantasie ganz von Braten und Fett und Sauce und geschmolzener Butter erfüllt wäre und die darauf versessen wären, Sie über Schnitte von diesem und Schüsseln von jenem zu befragen, wobei jeder ins Zeug geht, als ob es auf der Welt nichts gäbe als ihn und Sie und die Speisekarte.
Dann bedenken Sie, was Sie nach der Erwartung der Kunden alles wissen sollen. Zwar gehen Sie niemals aus, aber die Leute scheinen zu denken, daß Sie regelmäßig überall mit dabei seien. »Was ist das für eine Sache mit dem zertrümmerten Ausflüglerzug, von der ich gehört habe, Christopher?« – »Was geben sie in der Italienischen Oper, Christopher?« – »Christopher, welches sind die richtigen Einzelheiten über diesen Geschäftsabschluß in der Yorkshire Bank?« – Ebenso macht ein Ministerwechsel mir mehr zu schaffen als der Königin. Was Lord Palmerston angeht, so verdiente die beständige und nervtötende Verbindung, in die ich während der letzten paar Jahre mit Seiner Lordschaft gebracht worden bin, eine Pension. Bedenken Sie ferner, zu was für Heuchlern wir gemacht und welche Lügen (unschuldige, wie ich hoffen will) uns aufgezwungen werden! Weshalb muß ein Kellner, der doch einen häuslichen Beruf ausübt, für einen Pferdekenner angesehen werden, der für nichts größeres Interesse hat als für Pferdezucht und Rennsport? Und doch würde die Hälfte unseres geringen Einkommens nicht in unsere Taschen fließen, wenn wir uns nicht so stellten, als hätten wir diese sportlichen Liebhabereien. Ebenso verhält es sich (ganz unbegreiflicherweise!) mit der Landwirtschaft. Ebenso mit der Jagd. Sowie die Monate August, September und Oktober herankommen, schäme ich mich in meinem Innern vor mir selbst wie sehr ich Interesse dafür heuchle, ob die Hühner an den Flügeln stark (ich mache mir nicht viel aus ihren Flügeln oder Schenkeln, solange sie nicht gekocht sind!) und ob die Rebhühner zwischen den Rüben zahlreich und die Fasanen scheu oder zutraulich sind, und ebenso für alles andere, was Sie zu erwähnen belieben. Und doch können Sie mich oder jeden beliebigen anderen Kellner, der mir gleichgestellt ist, sehen, wie wir uns, gegen das hintere Geländer eines Abteils gestützt, über einen Gentleman beugen, der seine Börse draußen und seine Rechnung vor sich hat, und mit ihm über diese Dinge in vertraulichem Tone diskutierten, als hinge unser ganzes Lebensglück davon ab.
Ich habe von unserem geringen Einkommen gesprochen. Kommen wir nun ausführlicher auf das Unvernünftigste von allem und dasjenige, worin uns am meisten Unrecht angetan wird! Mag es nun daher kommen, daß wir immer so viel Kleingeld in unserer rechten Hosentasche und so viele Halbpencestücke in unseren Frackschößen haben, oder mag es eine Eigenheit der menschlichen Natur sein (was ich nicht gern glauben möchte), was soll das ewige Gerücht bedeuten, daß Oberkellner reich sind? Wie ist diese Fabel in Umlauf gekommen? Wer hat sie zuerst aufgebracht, und wie ist es denn in Wahrheit? Komm nur her, du Verleumder, und verweise das Publikum auf das bei Gericht deponierte Kellnertestament, um die Wahrheit deiner boshaften Schmähungen zu offenbaren! Und doch wird das so oft wiederholt – besonders von den Knickern, die den Kellnern am wenigsten zu geben pflegen –, daß Ableugnen nutzlos ist. Wir sind um unseres guten Rufes willen verpflichtet, unsere Köpfe so hoch zu tragen, als gingen wir daran, ein eigenes Geschäft zu gründen, während es viel wahrscheinlicher ist, daß wir ins Armenhaus gehen.
In früheren Zeiten, bevor noch der Schreiber dieser Zeilen das Slamjam-Restaurant wegen eines Streites, ob er seinem Hilfskellner den Nachmittagstee aus eigener Tasche zu bezahlen habe, verlassen hatte, pflegte in diesem Lokal ein Knicker zu verkehren, der den Schimpf aufs Äußerste trieb. Sich niemals über drei Pence erhebend, ja sogar häufig um einen Penny tiefer auf der Erde kriechend, stellte er doch den Schreiber dieser Zeilen als einen großen Anleihebesitzer, einen Geldverleiher auf Hypotheken, kurz als einen Kapitalisten hin. Man hat gehört, wie er anderen Gästen das Märchen erzählte, daß der Schreiber dieser Zeilen Tausende von Pfund auf Zinsen in Branntweinbrennereien und Brauereien angelegt habe.
»Nun, Christopher«, pflegte er zu sagen (nachdem er einen Augenblick zuvor so tief wie möglich auf der Erde gekrochen war), »Sie sind auf der Suche nach einem Restaurant, das Sie übernehmen wollen, wie? Können aber kein freigewordenes Geschäft finden, das für Ihre Mittel groß genug ist, was?«
Diese Fabel hat sich zu einem solch schwindelerregenden Berg der Falschheit erhoben, daß der weitbekannte und hochgeehrte »alte Charles«, der lange Zeit im West Country-Hotel eine hervorragende Stellung einnahm und von einigen als der Vater des Kellnerberufs angesehen wird, sich verpflichtet fühlte, den Schein so viele Jahre lang aufrechtzuerhalten, daß sogar seine eigene Frau (denn er hatte eine unbekannte alte Dame, die diese Stellung ihm gegenüber einnahm) daran glaubte. Und was war die Folge davon? Als er auf den Schultern von sechs auserlesenen Kellnern zu Grabe getragen worden war, wobei sechs weitere sich mit den ersten ablösten und noch andere sechs die Zipfel des Bahrtuches hielten – alle bei strömendem Regen ohne ein trockenes Auge gemessen im Schritt gehend und eine Menschenmenge beinahe wie bei einem königlichen Begräbnis hinter sich herziehend wurde seine Restaurantküche und ebenso seine Privatwohnung vom Boden bis zur Decke nach Vermögenswerten durchsucht, aber nichts gefunden! Wie hätte man auch etwas finden können, wo außer seiner letzten Monatssammlung von Spazierstöcken, Regenschirmen und Taschentüchern gar kein Vermögen da war? Die letzteren Gegenstände aber hatte er zufällig noch nicht verwertet, obwohl er sonst sein ganzes Leben hindurch seine Sammlungen pünktlich jeden Monat zu Geld zu machen pflegte. Und trotzdem hat diese allgemein verbreitete Verleumdung so tiefe Wurzeln gefaßt, daß die Witwe des »alten Charles«, gegenwärtig Insassin der Armenhäuser der Korkschneider-Gilde in Blue Anchor Road (man hat sie erst vergangenen Monat dort mit einer weißen Haube in einem Windsor-Lehnsessel vor der Tür sitzen sehen), in der Erwartung lebt, daß Johns erspartes Vermögen stündlich aufgefunden werden wird! Bevor er noch dem Streich des grausamen Geschicks erlegen war, wurde auf Drängen der Gäste des West Country-Hotels ein lebensgroßes Porträt von ihm angefertigt, das über dem Kamin des Kaffeezimmers seinen Platz finden sollte. Da hat es wahrhaftig nicht an Stimmen gefehlt, die meinten, was man so die Staffage eines Bildes nenne, das sollte im gegenwärtigen Fall die Bank von England und die Geldschatulle auf dem Tisch sein. Und wären nicht einige vernünftiger Denkende für eine Flasche mit Korkzieher und die Gebärde des Flaschenöffnens gewesen – und sie setzten schließlich ihren Willen auch durch so würde das Bild in der oben geschilderten Weise auf die Nachwelt gekommen sein.
Ich komme nun zu dem, was der Titel dieser Aufzeichnungen ankündigt. Nachdem ich – wie ich hoffen will, ohne irgendwo anzustoßen – mich im allgemeinen von denjenigen Bemerkungen entlastet habe, die ich in einem freien Lande, das seit jeher die See beherrscht hat, zu machen mich verpflichtet fühlte, will ich nun darangehen, mit der besonderen Angelegenheit aufzuwarten.
In einer bedeutungsvollen Periode meines Lebens war ich mit einem Haus so in Uneinigkeit, daß ich gekündigt hatte. Ich will das Haus nicht nennen, denn der Streitpunkt war festes Gehalt für Kellner, und es soll für kein Haus, das sich zu dieser ganz und gar unenglischen Handlungsweise voller Torheit und Niedrigkeit herbeiläßt, von mir Propaganda gemacht werden. Ich wiederhole, in einem bedeutungsvollen und kritischen Zeitpunkt meines Lebens, als ich mit einem Haus, das nicht genannt zu werden verdient, gebrochen hatte und mit demjenigen noch nicht in Verbindung war, dem ich seitdem die ganze Zeit über als Ober anzugehören die Ehre gehabt habe, sann ich darüber nach, was ich nun anfangen sollte. Da geschah es, daß meine jetzige Firma mir Vorschläge machte. Ich mußte Bedingungen stellen, ich mußte zusätzliche Forderungen machen: Am Ende kam es auf beiden Seiten zum Abschluß, und ich betrat eine, neue Lebensbahn.
Wir sind ein Hotel und ein Kaffeehaus. Dagegen sind wir kein Speisehaus und streben auch nicht danach, eines zu sein. Wenn also Leute zum Speisen kommen, so wissen wir schon, was wir ihnen geben, um sie das nächstemal fernzuhalten. Wir haben auch Zimmer für private Veranstaltungen und Familienfestlichkeiten, aber die Hauptsache ist das Kaffeehaus-Geschäft. Ich und das Direktorium und das Schreibzeug und so weiter haben einen besonderen Platz – einen Platz am Ende des Kaffeezimmers, der in dem, was ich die gute alte Manier nenne, um einige Stufen erhöht und von einem Geländer umgeben ist. Die gute alte Manier ist, daß Sie für alles, was Sie brauchen, bis zu einer Waffel hinab, gänzlich und ausschließlich auf den Ober angewiesen sind. Sie müssen sich wie ein neugeborenes Kind seinen Händen überlassen. Es gibt keine andere Methode, um ein von festländischem Laster unbeflecktes Geschäft zu führen. (Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß, wenn etwa verlangt wird, es sollten fremde Sprachen geschwatzt werden, und Englisch nicht gut genug ist, sowohl Familien wie Gentlemen lieber anderswohin gehen sollen.)
Als ich in diesem nach der rechten Art geführten Hause heimisch zu werden begann, bemerkte ich eines Tages in dem Zimmer Nummer 24 B (einem Eckzimmer an der Treppe, das gewöhnlich bescheidenen Gästen angehängt wird) einen Haufen Sachen in einem Winkel. Ich fragte unser erstes Zimmermädchen danach aus.
»Was sind das für Sachen auf Nummer 24 B?«
Worauf die Erste gleichgültig antwortete:
»Irgend jemandes Gepäck.«
Ich blickte sie mit einem Auge, das nicht frei von Strenge war, an und fragte:
»Wessen Gepäck?«
Meinem Blick ausweichend antwortete sie:
»Du lieber Himmel! Woher soll ich das wissen?«
Es mag hier vielleicht die Bemerkung am Platze sein, daß sie ein etwas keckes Mädchen ist, obwohl sie in ihrem Fach Bescheid weiß.
Ein Oberkellner muß entweder oben oder unten sein. Sein Platz ist entweder an dem einen oder dem anderen Ende der sozialen Stufenleiter. Er kann sich nicht in der Mitte oder irgendwo anders als an den Enden aufhalten. An welchem Ende aber, darüber liegt die Entscheidung in seiner Hand.
Bei der bedeutungsvollen Gelegenheit, von der ich spreche, trat ich gegen Mrs. Pratchett mit derartiger Entschiedenheit auf, daß ich sie mir auf der Stelle für immer fügsam machte. Möge niemand gegen mich den Verdacht mangelnder Folgerichtigkeit hegen, weil ich Mrs. Pratchett »Mrs.« nenne, während ich doch vorher bemerkt habe, daß eine Kellnerin nicht verheiratet sein dürfe. Der Leser wird respektvoll ersucht, sein Augenmerk darauf zu richten, daß Mrs. Pratchett keine Kellnerin, sondern ein Zimmermädchen war. Nun kann aber ein Zimmermädchen verheiratet sein; wenn es sich um die Erste handelt, ist sie sogar in der Regel verheiratet oder behauptet es wenigstens. Das kommt ja schließlich auf das gleiche hinaus. (Nebenbei bemerkt, Mr. Pratchett hält sich in Australien auf und seine dortige Adresse ist »der Busch«.)
Nachdem ich Mrs. Pratchett um so viele Windungen herabgeschraubt hatte, wie für das Wohlbefinden aller Beteiligten nötig war, ersuchte ich sie, sich deutlicher zu erklären.
»Zum Beispiel«, sagte ich, um sie ein wenig zu ermutigen, »wer ist ›irgend jemand‹?«
»Ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort, Mr. Christopher«, erwiderte Pratchett, »daß ich nicht die leiseste Ahnung habe.«
Wäre nicht die Art gewesen, wie sie ihre Haubenbänder zurechtzupfte, so hätte ich ihre Worte bezweifelt; aber die Gebärde unterschied sich in ihrer Aufrichtigkeit kaum von einer eidlichen Versicherung.
»Sie haben ihn also nie gesehen?« setzte ich das Verhör fort.
»Noch«, sagte Mrs. Pratchett, die Augen schließend und ein Gesicht machend, als habe sie gerade eine Pille von ungewöhnlichem Umfang zu sich genommen – was ihrer Verneinung einen bemerkenswerten Nachdruck verlieh – »noch irgendein anderer Bediensteter im Hause. In den letzten fünf Jahren haben alle gewechselt, Mr. Christopher, und jemand ließ sein Gepäck vor dieser Zeit hier zurück.«
Erkundigungen bei Miß Martin ergaben eine volle Bestätigung dieser Worte. Es hatte sich tatsächlich und wirklich so zugetragen. Miß Martin ist die junge Dame im Kontor, die unsere Rechnungen ausstellt, und obwohl sie stolzer auftritt, als mir für ihre Stellung passend scheint, so ist ihr Benehmen doch tadellos.
Weitere Nachforschungen führten zu der Entdeckung, daß für dieses Gepäck eine Rechnung von zwei Pfund sechzehn Schilling und sechs Pence vorlag. Das Gepäck hatte unter der Bettstelle auf Nummer 24 B über sechs Jahre lang gelegen.
Ich weiß nicht recht, aus welchem Grunde, aber dieses Gepäck wollte mir nicht aus dem Sinn. Ich begann, über diesen Jemand nachzugrübeln, was mit ihm los war und was er getrieben hatte. Ich konnte mir nicht darüber klarwerden, weshalb er so viel Gepäck für eine so kleine Rechnung hinterlassen hatte. Denn nach einigen Tagen ließ ich das Gepäck hervorholen und besichtigte es. Das Ergebnis war folgendes: ein schwarzer Koffer, ein schwarzer Ranzen, ein Schreibpult, ein Reisenecessaire, ein in braunes Papier eingewickeltes Paket, eine Hutschachtel und ein Schirm und Spazierstock mit einem Riemen darum. Alles war stark von Staub und Flocken bedeckt. Ich hatte unseren Hausdiener mitgenommen, damit er unter das Bett kröche und das Gepäck hervorzöge, und obgleich er sich gewohnheitsmäßig im Staub wälzt – von früh bis spät darin schwimmt und zu diesem Zweck eine enganliegende schwarze Ärmelweste trägt –, mußte er doch heftig niesen und seine Kehle wurde so heiß, daß er sie mit einem guten Trunk kühlen mußte.
Der Gedanke an das Gepäck hatte vollständig von mir Besitz ergriffen, und anstatt es zurückstellen zu lassen, nachdem es gründlich abgestaubt und mit einem feuchten Tuch gesäubert worden war, gab ich Weisung, es nach unten an einen meiner Aufenthaltsorte zu bringen. Vor der Reinigung war es übrigens so mit Federn bedeckt gewesen, daß man hätte denken können, es sei im Begriff, sich in ein Geflügel zu verwandeln, und würde in Kürze anfangen, Eier zu legen. Unten starrte ich zuweilen so lange darauf hin, bis es mir schien, als würde es abwechselnd groß und klein, käme auf mich zu und zöge sich wieder zurück und vollführe alle möglichen Possen. Als das einige Wochen lang gewährt hatte – ich könnte auch Monate sagen, ohne stark von der Wahrheit abzuweichen –, fiel mir eines Tages ein, Miß Martin nach den Einzelheiten der Rechnung von zwei Pfund sechzehn Schilling und sechs Pence zu befragen. Sie tat mir den Gefallen, die Zahlen aus den Büchern herauszusuchen – es war noch vor ihrer Zeit gewesen –, und hier folgt eine getreue Kopie:
Pfund | Schilling | Pence | ||
1856 | Kaffeezimmer. Nr. 4 | |||
2. Februar. | Papier und Feder | 0 | 0 | 6 |
Portwein-Punsch | 0 | 2 | 0 | |
Ditto | 0 | 2 | 0 | |
Papier und Feder | 0 | 0 | 6 | |
Zerbrochenes Glas | 0 | 2 | 6 | |
Brandy | 0 | 2 | 0 | |
Papier und Feder | 0 | 0 | 6 | |
Röstschnitte mit Anschovis | 0 | 2 | 6 | |
Papier und Feder | 0 | 0 | 6 | |
Bett | 0 | 3 | 0 | |
3. Februar. | Papier und Feder | 0 | 6 | 0 |
Frühstück | 0 | 2 | 6 | |
Frühstück, gerösteter Schinken | 0 | 2 | 0 | |
Frühstück, Eier | 0 | 1 | 0 | |
Frühstück, Brunnenkresse | 0 | 1 | 0 | |
Frühstücks-Garnelen | 0 | 1 | 0 | |
Papier und Feder | 0 | 0 | 6 | |
Löschpapier | 0 | 0 | 6 | |
Bote nach Paternoster Row und zurück | 0 | 1 | 6 | |
Noch einmal, als ohne Antwort | 0 | 1 | 6 | |
Brandy 2 Schilling,
Schweinskotelett 2 Schilling |
0 | 4 | 0 | |
Papier und Federn | 0 | 1 | 0 | |
Bote nach Aldemarle Street
und zurück |
0 | 1 | 0 | |
Noch einmal (derselbe),
als ohne Antwort |
0 | 1 | 6 | |
Zerbrochenes Salzfaß | 0 | 3 | 6 | |
Großes Likörglas Orangen-Brandy | 0 | 1 | 6 | |
Diner: Suppe, Fisch,
Braten und Geflügel |
0 | 7 | 6 | |
Eine Flasche alter Ostindier, braun | 0 | 8 | 0 | |
Papier und Feder | 0 | 0 | 6 | |
|
||||
2 | 16 | 6 |
Anmerkung: 1. Januar 1857. Er ging nach dem Diner aus, nachdem er Weisung gegeben hatte, daß das Gepäck bereit sein sollte, wenn er es abholte. Hat es nicht abgeholt.
Weit entfernt davon, einiges Licht auf den Gegenstand zu werfen, schien es mir, daß diese Rechnung ihn mit einem noch geisterhafteren Schein umkleidete, wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf, um meine Zweifel zu kennzeichnen. Als ich die Sache mit der Mistreß besprach, erklärte sie mir, daß sie zu Lebzeiten ihres Mannes eine Anzeige in die Zeitung gesetzt hätten, das Gepäck würde nach der und der Zeit verkauft werden, um die Unkosten zu decken, aber weitere Schritte wären nicht erfolgt. (Ich schalte hier die Bemerkung ein, daß die Mistreß seit drei Jahren verwitwet ist. Der Mann besaß eine jener unglücklichen Konstitutionen, in denen geistige Getränke sich in Wasser verwandeln und dem unglücklichen Opfer in den Kopf steigen.)
Ich besprach die Sache nicht bloß damals, sondern zu wiederholten Malen, bisweilen mit der Mistreß, bisweilen mit der einen, bisweilen mit der anderen Person, bis die Mistreß zu mir sagte – gleichgültig, ob anfangs im Scherz oder im Ernst, oder halb im Scherz und halb im Ernst:
»Christopher, ich will Ihnen ein hübsches Angebot machen.«
(Wenn ihr dies vor Augen kommen sollte – hübsche blaue Augen hat sie –, möge sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, daß ich ihr gegenüber dasselbe getan hätte, wäre ich bloß um acht oder zehn Jahre jünger gewesen. Das heißt, ich hätte ihr ein Angebot gemacht. Es aber ein hübsches Angebot zu nennen, das steht anderen zu.)
»Christopher, ich will Ihnen ein hübsches Angebot machen.«
»Nennen Sie es, Ma'am.«
»Sehen Sie einmal her, Christopher. Zählen Sie einmal die einzelnen Stücke von dem Gepäck dieses Jemands auf. Sie können sie doch auswendig, wie ich weiß.
»Ein schwarzer Koffer, Ma'am, ein schwarzer Ranzen, ein Schreibpult, ein Reisenecessaire, ein in braunes Papier eingewickeltes Paket, eine Hutschachtel und ein Schirm und Spazierstock mit einem Riemen darum.«
»Alles ganz so, wie es zurückgelassen wurde. Nichts geöffnet, nichts angerührt.«
»Ganz recht, Ma'am. Alles verschlossen, mit Ausnahme des Pakets in dem braunen Papier, und das ist versiegelt.«
Über Miß Martins Pult an dem Fenster im Kontor gelehnt, schlug die Mistreß mit der Hand auf das geöffnet auf dem Pult liegende Buch – sie hat eine hübsche Hand, das ist unbestreitbar –, nickte mit dem Kopf und lachte.
»Also hören Sie, Christopher«, sagte sie. »Bezahlen Sie mir jemandes Rechnung, und Sie sollen jemandes Gepäck haben.«
Der Vorschlag gefiel mir sofort, jedoch wandte ich mit scheinbarem Bedenken ein:
»Vielleicht ist es nicht so viel wert.«
»Das ist eine Lotterie«, sagte die Mistreß, ihre Arme über dem Buch verschränkend – nicht nur ihre Hände sind hübsch, die Bemerkung dehnt sich auch auf ihre Arme aus. »Wollen Sie nicht zwei Pfund sechzehn Schilling und sechs Pence in der Lotterie wagen? Es gibt doch keine Nieten!« fügte die Mistreß, lachend und abermals mit dem Kopfe nickend, hinzu. »Sie müssen gewinnen. Selbst wenn Sie verlieren, müssen Sie gewinnen! Lauter Gewinne in dieser Lotterie! Ziehen Sie eine Niete und denken Sie daran, Gentleman, daß Sie immer noch Anspruch haben auf einen schwarzen Koffer, einen schwarzen Ranzen, ein Schreibpult, ein Reisenecessaire, ein Stück braunes Papier, eine Hutschachtel und einen Schirm und Spazierstock mit einem Riemen darum!«
Um die Sache kurz zu machen, Miß Martin kriegte mich herum, und Mrs. Pratchett kriegte mich herum, und die Mistreß hatte mich bereits vollständig herumgekriegt, und alle Frauen im Hause kriegten mich herum, und wenn es sechzehn Pfund und zwei Schilling anstatt zwei Pfund und sechzehn Schilling gewesen wären, so hätte ich es noch als einen Glücksfall geschätzt. Denn was kann man tun, wenn sie einen herumkriegen?
So bezahlte ich denn den Kaufpreis – in bar –, und Sie hätten das Gelächter hören sollen, das es daraufhin unter den Frauen gab! Aber ich kehrte den Spieß regelrecht gegen sie um, indem ich sagte:
»Mein Familienname ist Blaubart. Ich werde jemandes Gepäck ganz allein in dem Geheimzimmer aufmachen, und kein weibliches Auge soll etwas von dem Inhalt zu sehen kriegen!«
Ob ich es für richtig hielt, in dieser Beziehung fest zu bleiben, oder ob doch ein weibliches Auge, und wenn, wie viele, bei der Öffnung des Gepäcks anwesend war – das tut nichts zur Sache. Es handelt sich hier um jemandes Gepäck, aber um niemandes Augen oder Nasen.
Was mir noch jetzt an diesem Gepäck am meisten in die Augen sticht, ist die ungeheure Menge Schreibpapier, und alles vollgeschrieben! Und es ist nicht einmal unser Papier – nicht das Papier, das in Rechnung gestellt wurde, denn wir kennen unser Papier –, folglich muß er ständig darüber gesessen haben. Und er hatte diese seine Schreibereien überallhin, in jeden Teil und jeden Winkel seines Gepäcks, gestopft. In seinem Reisenecessaire, in seinen Stiefeln, zwischen seinem Rasierzeug, in seiner Hutschachtel, ja sogar zwischen den Fischbeinstäben seines Regenschirms – an allen Ecken und Enden fand sich beschriebenes Papier.
Seine Kleider – so viele davon da waren – waren nicht schlecht. Sein Reisenecessaire war dürftig – kein Stückchen Silberstöpsel – offene Fläschchen mit nichts darin, wie leere kleine Hundehütten – und eine höchst widerwärtige Art Zahnpulver, das sich überall ausbreitete. Seine Kleider wurde ich ganz gut an einen Trödler nicht weit von der Saint-Clement's Danes-Kirche am Strand los. Es ist das der Trödler, an den die Offiziere meistens ihre Uniformen verkaufen, wenn sie wegen Ehrenschulden in der Klemme sind. Das sollte man wenigstens daraus schließen, wenn ihre Röcke und Epauletten mit dem Rücken nach dem Publikum das Schaufenster zieren. Derselbe Geschäftsmann erstand in einer Partie den Koffer, den Ranzen, das Pult, das Reisenecessaire, die Hutschachtel und den Schirm samt Riemen und Spazierstock. Auf meine Bemerkung, daß ich geglaubt hätte, diese Artikel gehörten nicht recht zu denen, womit er sich abgäbe, erwiderte er:
»Ebensowenig wie die Großmutter eines Menschen, Meister Christopher; aber wenn ein Mensch seine Großmutter hierherbringt und eine hübsche Kleinigkeit weniger für sie verlangt, als sie günstigenfalls einbringen wird, wenn sie gescheuert und gewendet ist – dann kaufe ich sie!«
Diese geschäftlichen Maßnahmen deckten meine Ausgaben und sogar mehr als das, denn es blieb mir noch ein hübscher Überschuß. Und jetzt waren noch die Schriften zurückgeblieben; und diese Schriften möchte ich nun der geneigten Aufmerksamkeit des Lesers unterbreiten.
Ich möchte es unverzüglich tun, und zwar aus diesem Grunde: Ich werde im folgenden die geistigen Qualen zu schildern haben, deren Beute ich durch diese Schriften wurde. Dann werde ich diese erschütternde Erzählung mit einer Wiedergabe der wunderbaren und packenden Katastrophe beschließen, die, ebenso ergreifend wie unerwartet, das Ganze krönte und den Becher der Überraschung bis zum Überfließen füllte. Vorher aber sollen die Schriften für sich selbst sprechen. Deshalb kommen sie jetzt als nächstes. Noch ein Wort zur Einführung, und dann lege ich meine Feder (wie ich hoffen will, eine anspruchslose Feder) nieder. Ich werde sie dann wieder aufnehmen, um die düstere Geschichte eines bedrückten Gemüts zu Ende zu führen.
Er war ein großer Schmierer und hatte eine entsetzliche Handschrift. Ohne die Tinte zu schonen, verschwendete er sie an jeden unwürdigen Gegenstand – an seine Kleider, seinen Schreibpult, seinen Hut, den Griff seiner Zahnbürste, seinen Schirm. Auf dem Teppich im Kaffeezimmer fand man neben Tisch Nummer 4 reichlich Spuren von Tinte und auf seinem ruhelosen Lager waren zwei Kleckse zu sehen. Ein Blick auf das Dokument, das ich oben unverkürzt wiedergegeben habe, zeigt, daß er am Morgen des dritten Februar im Jahre achtzehnhundertsechsundfünfzig nicht weniger als fünfmal Papier und Federn bestellte. Gleichgültig, welchem beklagenswerten Akt einer unbezähmbaren Schriftstellerei er diese vom Büfett bezogenen Gegenstände opferte – es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die unheilvolle Tat im Bett verübt wurde und daß sie noch auf lange Zeit hinaus ihre nur zu deutlichen Spuren auf dem Kissenbezug hinterließ.
Keine seiner Schriften wies eine Kopfzeile auf. Ach! War es denn auch zu erwarten, daß er eine Kopfzeile anbringen würde, wo er doch selbst keinen Kopf besaß, und wo war sein Kopf, als er sich solche Dinge hineinsetzte? In einigen Fällen, wie in »Seine Stiefel«, scheint er seine Schriften versteckt zu haben, wodurch sein Stil noch dunkler wurde. Aber seine Stiefel paßten wenigstens zueinander, während es unter seinen Schriften keine zwei gibt, die irgendeinen Anspruch darauf erheben könnten. Hier folgt (um sich mit diesen Beispielen zu begnügen) was sie enthielten.
* * *
»Wahrhaftig, Monsieur Mutuel! Was soll ich wissen? Ich versichere Ihnen, daß er sich Monsieur der Engländer nennt.«
»Pardon. Aber ich halte das für unmöglich«, sagte Monsieur Mutuel – ein nach Schnupftabak riechender, bebrillter, gebückter alter Herr in Leinenschuhen, einer Tuchmütze mit einem spitzen Schirm, einem weiten blauen Gehrock, der ihm bis an die Fersen reichte, und einer großen ungestärkten weißen Hemdkrause mit ebensolcher Krawatte – das heißt, weiß war die natürliche Farbe seiner Wäsche an Sonntagen, im Laufe der Woche aber wurde sie immer dunkler.
»Ich halte das«, wiederholte Monsieur Mutuel, während sein freundliches altes Nußschalengesicht wirklich ganz und gar nußschalig wurde und er in der hellen Morgensonne lächelte und zwinkerte – »ich halte das, meine liebe Madame Bouclet, für unmöglich!«
»Ach nein!« erwiderte Madame Bouclet, eine rundliche kleine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, indem sie einen ärgerlichen kleinen Aufschrei vernehmen ließ und ihren Kopf sehr viele Male hintereinander stolz aufwarf. »Aber es ist nicht unmöglich, daß Sie ein Schafskopf sind! Blicken Sie also her – sehen Sie – lesen Sie! ›Im zweiten Stockwerk Monsieur L'Anglais.‹ Steht's nicht da?«
»Doch«, sagte Monsieur Mutuel.
»Nun gut. Dann setzen Sie Ihren Morgenspaziergang fort. Verlassen Sie das Haus!«
Madame Bouclet schickte ihn mit einem energischen Fingerschnippen fort.
Der Morgenspaziergang des Monsieur Mutuel spielte sich auf dem hellsten Fleckchen Sonnenschein auf der Grande Place einer langweiligen alten französischen Festungsstadt ab. Er hielt dabei die Hände auf dem Rücken verschränkt, einen Regenschirm, dem Aussehen nach sein genaues Abbild, stets in der einen und eine Schnupftabaksdose in der anderen Hand. So ging der alte Herr täglich, wenn Sonne da war, mit dem unbeholfenen Gang eines Elefanten in der Sonne spazieren. Es schien wirklich, daß diese Dickhäuter, die den ungeschicktesten Hosenschneider der zoologischen Welt beschäftigen, diesen Monsieur Mutuel empfohlen hatten. Übrigens versteht es sich von selbst, daß Monsieur Mutuel stets gleichzeitig ein rotes Band im Knopfloch spazierenführte; denn wofür war er sonst ein alter Franzose?
Da er von einer Angehörigen des engelgleichen Geschlechts aufgefordert worden war, seinen Morgenspaziergang fortzusetzen und das Haus zu verlassen, lachte Monsieur Mutuel ein Nußschalenlachen und zog galant, wie er war, mit der Hand, die die Schnupftabaksdose hielt, seine Mütze auf Armlänge ab. Selbst als er schon an Madame Bouclet vorbei war, das Haus verlassen und seinen Morgenspaziergang wieder aufgenommen hatte, hielt er sie noch lange Zeit in der Hand.
Der dokumentarische Nachweis, den Madame Bouclet Monsieur Mutuel vor Augen gehalten hatte, bestand aus der Liste ihrer Mieter, die ihr Neffe und Buchhalter in sauberer Schrift hergestellt hatte. Dieser junge Mann führte eine Feder wie ein Engel und hatte neben ihrem Hauseingang für die Polizei aufgeschrieben: »Au second, M. L'Anglais, proprietaire.« Im zweiten Stockwerk Monsieur der Engländer, ein Mann von Vermögen. So stand es da. Nichts konnte klarer sein.
Madame Bouclet fuhr jetzt mit ihrem Zeigefinger über die Zeile hin, als suche sie darin eine Bestärkung, wie recht sie mit ihrem Fingerschnippen gegen Monsieur Mutuel gehabt hatte. Dann stützte sie die rechte Hand auf die Hüfte, mit einer so trotzigen Miene, als sollte sie niemals etwas dazu bringen, dieses Fingerschnippen zurückzunehmen, und schlenderte auf den Platz hinaus, um nach den Fenstern von Monsieur dem Engländer emporzublicken. Da dieser würdige Herr gerade zum Fenster heraussah, begrüßte ihn Madame Bouclet mit einem anmutigen Kopfnicken und blickte nach rechts und nach links, um ihm zu erklären, weshalb sie da war. Dann überlegte sie einen Augenblick, wie es schien, darüber verwundert, daß jemand, den sie erwartet hatte, ausgeblieben war, und trat darauf wieder in ihre Haustür zurück.
Madame Bouclet vermietete ihr ganzes Haus, das nach dem Platz hinausging, in möblierten Stockwerken und wohnte selbst im Hinterhof in Gesellschaft von Monsieur Bouclet, ihrem Gatten, der ein großer Billardspieler war. Überdies bestand ihr Besitz und Haushalt aus einer ererbten Brauerei, einigem Geflügel, zwei Karren, einem Neffen, einem kleinen Hündchen in einer großen Hundehütte, einem Rebstock, einem Kontor, vier Pferden, einer verheirateten Schwester und den beiden Kindern der verheirateten Schwester, einem Papagei, einer Trommel (die der kleine Junge ihrer verheirateten Schwester zu bearbeiten pflegte), zwei einquartierten Soldaten, einer Anzahl Tauben, einer Querpfeife (die der Neffe hinreißend zu spielen verstand), verschiedenen Dienstboten und überzähligen Leuten, einem schreckenerregenden Aufbau von künstlichen Felsen und hölzernen Schluchten von mindestens einem Meter Höhe, einem kleinen Springbrunnen und einem halben Dutzend großer Sonnenblumen. Das ganze Haus roch ständig nach Kaffee und Suppe.
Nun hatte der Engländer, als er sein Appartement mietete, seinen Namen bis auf den Buchstaben genau als Langley angegeben. Da er aber die britische Gewohnheit besaß, auf fremdem Boden seinen Mund möglichst wenig aufzumachen, ausgenommen bei den Mahlzeiten, so hatte die Brauerei nichts anderes verstehen können als L'Anglais. So war er Monsieur der Engländer geworden und geblieben.
»Solch ein Volk ist mir noch nie vorgekommen!« murmelte Monsieur der Engländer, während er jetzt zum Fenster hinaussah. »Noch nie in meinem ganzen Leben!«
Das war auch die reine Wahrheit, denn er war noch niemals zuvor außerhalb seines Heimatlandes gewesen – einer feinen kleinen Insel, einer schönen kleinen Insel, einer rührigen kleinen Insel, die alle möglichen Verdienste besaß, aber doch nicht die ganze runde Welt war.
»Diese Burschen«, sagte Monsieur der Engländer zu sich selbst, während er sein Auge über den Platz hingleiten ließ, auf dem hier und da Soldaten zu sehen waren, »sehen genausowenig nach Soldaten aus wie+…« Da kein Ausdruck genügend stark war, um den Satz zu beenden, ließ er ihn unvollendet.
Das war wiederum, aus seiner Erfahrung heraus beurteilt, vollkommen richtig. Denn obwohl in der Stadt und auf dem angrenzenden Land eine große Menge Soldaten zusammengezogen worden war, so hätte man doch jeden einzelnen genau unter die Lupe nehmen können, ohne einen einzigen unter ihnen zu finden, der hinter seiner blödsinnigen Krawatte erstickte, oder einen, den seine schlechtpassenden Schuhe drückten, oder einen, der sich vor lauter Riemen und Knöpfe nicht rühren konnte, oder einen, der in allen kleinen Angelegenheiten des Lebens auf raffinierte Weise hilflos gemacht worden war. Ein Schwärm von flinken, gescheiten, rührigen, gewandten, lebhaften Burschen, fähig, alles geschickt anzupacken, von einer Belagerung bis zum Suppenkochen, vom schweren Geschütz bis zu Zwirn und Nadel, vom Säbelfechten bis zum Zwiebelschälen, vom Kriegführen bis zum Omelettbacken – das war alles, was man gefunden hätte.
Welch ein Gewimmel! Von dem Großen Platz an, auf den Monsieur der Engländer hinabsah und auf dem ein paar Abteilungen noch nicht einexerzierter Rekruten von der letzten Aushebung »Treten am Ort« übten – einige von diesen Rekruten befanden sich, was ihre Kleidung anging, gewissermaßen noch im militärischen Raupenzustand, da sie noch ihre bäuerlichen Blusen trugen, während sie nur durch ihre mit Soldatenhosen bekleideten Beine bereits militärische Schmetterlinge waren –, von dem Großen Platz an bis über die Festungswerke hinaus und noch über lange Meilen der staubigen Landstraßen hin wimmelte es von Soldaten. Den ganzen Tag lang schmetterten auf den grasüberwachsenen Wällen der Stadt die Hörner und Trompeten exerzierender Soldaten; den ganzen Tag lang schlugen in versteckten Winkeln trockener Gräben die Trommeln exerzierender Soldaten. An jedem Vormittag stürmten Soldaten aus den großen Baracken auf den sandbedeckten Turnplatz davor und flogen über das hölzerne Pferd, hingen an baumelnden Seilen, schwangen mit dem Kopf nach unten am Barren hin und her und schnellten sich von hölzernen Brettern – alles so rasch und geschickt, daß sie wie bloße Funken von Soldaten erschienen. An jeder Ecke der Stadtmauer, an jedem Wachlokal, an jedem Tor, an jedem Schildwachhäuschen, an jeder Zugbrücke, an jedem schilfbewachsenen Graben und binsenbedeckten Kanal – nichts als Soldaten, Soldaten, Soldaten. Und da die Stadt fast nur aus Mauern, Wachlokalen, Toren, Schilderhäuschen, Zugbrücken, schilfbewachsenen Gräben und binsenbedeckten Kanälen bestand, gab es in der Stadt fast nichts als Soldaten.
Was wäre die verschlafene alte Stadt aber auch ohne die Soldaten gewesen! Denn selbst mit den Soldaten war sie so tief in Schlaf versunken, daß ihre Echos heiser, ihre Stangen und Schlösser und Riegel und Ketten, die den Feind abwehren sollten, rostig und ihre Gräben verstopft waren. Von den Tagen an, als Vauban ihre Bollwerke erbaute und ihnen ein derartiges Ausmaß gab, daß der Fremde beim ersten Anblick ganz verwirrt und betäubt wurde, da er den Eindruck nicht zu fassen vermochte – von den Tagen an, als Vauban die Stadt zu einem Beispiel jedes Kniffs der Befestigungskunst machte und nicht nur jedes Fleckchen Erde aufs geschickteste ausnutzte, indem er alles, rechts und links, hier und dort, finstere Winkel, Schmutzhaufen, Torweg, Bogenweg, bedeckte Gänge, trockene Straßen, feuchte Wege, Gräben, Fallgatter, Zugbrücken, Schleusen, platte Türme, durchbrochene Mauern, schwere Wälle seinen Zwecken nutzbar machte, sondern auch unter dem benachbarten Land hindurchtauchte und drei oder vier Meilen weiter wieder zum Vorschein kam, indem er eine verwirrende Menge von Hügeln und Wällen unter den Zichorien- und Rübenfeldern von sich blies – von jenen Tagen an bis zu den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, hatte die Stadt geschlafen und Staub und Rost und Schimmel hatten sich über ihre schläfrigen Arsenale und Magazine gebreitet und Gras hatte ihre schlafenden Straßen überwuchert.
Nur an den Markttagen erwachte der Große Platz auf einmal. Nur an den Markttagen schlug ein freundlicher Zauberer mit seinem Stab auf die Steine des Großen Platzes und im selben Augenblick erhoben sich lebenerfüllte Buden und Stände, Verkaufsbänke und Händlertische, viele hunderte handelnder und feilschender Stimmen erfüllten die Luft mit frohen Tönen, bunte Farben – weiße Hauben, blaue Blusen, grünes Gemüse – flössen zu einem angenehmen, wenn auch sonderbaren Bilde zusammen, und endlich schien der Prinz, für den dieses Zauberreich bestimmt war, wirklich gekommen zu sein und das ganze Werk Vaubans schien für ihn lebendig zu werden. Und jetzt strömten Bauern und Bäuerinnen in hellen Scharen in die Stadt – sie kamen auf langen, ebenen, von Bäumen umsäumten Landstraßen in Eselswagen mit weißen Planen und auf Eselsrücken und in Karren und Wagen und Kabrioletten und zu Fuß mit Schubkarren und schweren Lasten – sie kamen auch auf den Gräben und Kanälen in kleinen, spitzbugigen Landkähnen – und alle brachten Waren zum Verkauf mit. Und da gab es Stiefel und Schuhe und Süßigkeiten und Kleiderstoffe, und da gab es (in dem kühlen Schatten des Rathauses) Milch und Sahne und Butter und Käse, und da gab es Obst und Zwiebeln und Möhren und alles, was man zur Suppe brauchte, und da gab es Geflügel und Blumen und quiekende Schweine, und da gab es neue Schaufeln und Äxte und Spaten und Spitzhacken für die Landwirtschaft, und da gab es ungeheure Haufen Brot und ungemahlenes Korn in Säcken, und da gab es Puppen, und da stand der Kuchenmann und pries seine Waren unter Trommelklang an.
Auf einmal ertönte Trompetengeschmetter und in vollem Staat fuhr in einem offenen Wagen »die Tochter eines Arztes« auf den Großen Platz. Vier prächtig gekleidete Diener standen hinten auf der Kutsche und spielten Hörner, Trommeln und Zimbeln, während die Dame, mit schweren goldenen Ketten und Ohrringen geschmückt und einen Hut mit blauen Federn auf dem Kopf, den zwei ungeheure Schirme aus künstlichen Rosen vor der bewundernden Sonne schützten, aus reiner Menschenliebe jene kleine, angenehme Arznei austeilte, die schon so vielen Tausenden geholfen hatte. Zahnschmerzen, Ohrenschmerzen, Kopfschmerzen, Herzschmerzen, Magenschmerzen, Schwäche, Nervosität, Krämpfe, Ohnmachtsanfälle, Fieber – alles heilte die kleine, angenehme Arznei aus der Hand »der Tochter eines Arztes«. Die Heilung verlief folgendermaßen – so verkündete »die Tochter eines Arztes«, die Besitzerin des prächtigen Wagens, den die Menge bewunderte, während die Hörner, Trommeln und Zimbeln ihre Worte mit lautem Schall bekräftigten: Am ersten Tag nach dem Einnehmen der kleinen, angenehmen Arznei fühlte man seine weitere Wirkung als das harmonische Gefühl einer unbeschreiblichen und unwiderstehlichen Freude; am zweiten Tag fühlte man sich so erstaunlich besser, daß man glaubte, man wäre in einen anderen Menschen umgewandelt worden; am dritten Tag wäre man vollkommen frei von der Krankheit, an der man gelitten hätte, ganz gleich, was für eine Krankheit es gewesen wäre und wie lange man sie schon gehabt hätte. Dann würde man »die Tochter des Arztes« aufsuchen wollen, um sich ihr zu Füßen zu werfen, den Saum ihres Gewandes zu küssen und alle seine Habe zu veräußern, um für den ganzen Erlös noch mehr von der kleinen, angenehmen Arznei zu erstehen; aber sie würde nicht mehr dasein – würde nach den ägyptischen Pyramiden gefahren sein, um Kräuter zu suchen – und der Patient würde zwar geheilt, aber voller Verzweiflung sein.
So betrieb »die Tochter eines Arztes« ihr Geschäft, und es ging glänzend, und so ging es weiter mit dem Verkaufen und Kaufen und dem Lärm der vielen Stimmen und dem bunten Gewirr der Farben, bis die sinkende Sonne, die die Schatten hoher Dächer auf »die Tochter eines Arztes« warf, sie daran mahnte, nach Westen davonzufahren, während die Sonnenstrahlen ihre prächtige Equipage und die blitzenden Instrumente mit einem letzten Schimmer übergossen. Und nun schlug der Zauberer abermals mit seinem Stab gegen die Steine des Großen Platzes und mit einemmal verschwanden die Buden, die Verkaufsbänke und Händlertische und die vielen Waren, und mit ihnen die Schubkarren, die Esel, die Eselswagen und die Karren und alles andere auf Rädern und Füßen, mit Ausnahme der Straßenreiniger, die mit plumpen Karren und mageren Pferden langsam vorbeifuhren und den Abfall beseitigten, wobei ihnen die glatten Stadttauben halfen, die fetter aussahen als an Richtmarkttagen. Noch eine oder zwei Stunden lang, bevor die herbstliche Sonne unterging, sahen die Spaziergänger vor dem Stadttor und der Zugbrücke und dem Ausfallpförtchen und dem Doppelgraben, wie der letzte Karren mit weißer Plane zwischen den länger werdenden Schatten der Landstraßenbäume verschwand, oder wie der letzte Bauernkahn, den die letzte Marktfrau nach Hause ruderte, sich schwarz auf dem rötlich schimmernden, langen, niedriggelegenen, schmalen Kanal abhob, der zwischen dem Beschauer und der Mühle lag. Und wenn das vom Ruder aufgewühlte Wasser und die Wasserpflanzen sich hinter dem Boot wieder beruhigt hatten, konnte der Beschauer sicher sein, daß der Kanal bis zum nächsten Markttag in seiner trägen Ruhe nicht gestört werden würde.
Da es nicht gerade ein solcher Tag des Erwachens für den Großen Platz war, als Monsieur der Engländer zusah, wie die Rekruten dort Treten am Ort übten, hinderte ihn nichts daran, sich in seinen Gedanken mit militärischen Dingen zu befassen.
»Diese Kerle sind überall einquartiert«, sagte er zu sich selbst; »und es ist wirklich der komischste Anblick von der Welt, wenn man zusieht, wie sie den Leuten das Feuer anmachen, das Essen kochen, auf die Kinder der Leute aufpassen, die Wiegen schaukeln, den Leuten das Gemüse waschen und sich ihnen in jeder möglichen unmilitärischen Art und Weise nützlich machen! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine solchen Kerle gesehen!«
Das stimmte alles aufs Wort. Gab es etwa nicht einen Soldaten Valentine in dem Haus, in dem Monsieur der Engländer wohnte, der das Hausmädchen, den Diener, die Köchin, den Verwalter und das Kindermädchen – alles in einem – in der Familie seines Hauptmanns, des Herrn Hauptmann de la Cour, ersetzte – der die Dielen scheuerte, die Betten machte, die Einkäufe besorgte, den Hauptmann anzog, den Mittagstisch deckte, den Salat zurechtmachte und das Wiegenkind wickelte, alles mit dem gleichen Eifer? Oder, um von ihm abzusehen, da er schließlich nur seine Pflicht bei seinem Vorgesetzten tat, gab es nicht einen Soldaten Hyppolite, der zweihundert Schritt weiter bei dem Parfümeriehändler im Quartier lag, und machte dieser in seiner dienstfreien Zeit nicht freiwillig den Ladendiener und verkaufte lachend Seife mit umgeschnalltem Kriegsschwert, während die hübsche Parfümeriehändlerin auf die Straße trat, um sich mit einer Nachbarin zu unterhalten oder dergleichen? War da nicht Emile, der bei einem Uhrmacher im Quartier lag und jeden Abend in Hemdsärmeln alle Uhren im Laden aufzog? War da nicht Eugen, der bei dem Klempner einquartiert war und mit der Pfeife im Mund den vier Quadratfuß großen Garten des Klempners in dem kleinen Hof hinter der Werkstatt bearbeitete und auf seinen Knien im Schweiße seines Angesichts die Früchte der Erde darauf zog? Oder, um nicht allzu viele Beispiele anzuführen, war da nicht Baptiste, der bei dem armen Wasserträger im Quartier lag, und saß dieser nicht gerade in diesem Augenblick mit gespreizten Kriegerbeinen in der Sonne auf dem Pflaster und hielt einen der wenigen Eimer des Wasserträgers zwischen ihnen, den er (zum Entzücken des Wasserträgers, der gerade mit einer schweren Last auf beiden Schultern von der Quelle kam) außen glänzend grün und innen glänzend rot anstrich? Oder, um bloß noch bis zum Barbier nebenan zu gehen, war da nicht Korporal Theophil+…
»Nein«, sagte Monsieur der Engländer mit einem Blick auf den Laden des Barbiers, »er ist jetzt nicht da. Aber das Kind ist da.«
Ein winziges Mädelchen stand auf der kleinen Treppe vor dem Barbierladen und blickte auf den Platz hinaus. Es war ein ganz kleines Kind, mit einem weißen Leinenhäubchen auf dem Kopf, wie sie die Kinder der französischen Landbevölkerung tragen (genau wie die Kinder auf niederländischen Gemälden), und einem Kleidchen aus blauem, hausgesponnenem Leinen, das keinerlei Formen aufwies, ausgenommen dort, wo es um den kleinen dicken Hals des Kindes zusammengebunden war. Infolgedessen sah die Kleine, die von Natur kurz und rundlich war, von hinten aus, als wäre sie an der Taille abgeschnitten und dann der Kopf auf den Stumpf passend daraufgesetzt worden.
»Aber das Kind ist da.«
Die Kleine rieb sich mit ihrem Grübchenhändchen die Augen, und nach dieser Bewegung zu urteilen, hatte sie bis jetzt geschlafen und ihre Augen erst vor kurzem aufgeschlagen. Aber die Augen sahen so interessiert auf den Platz hinaus, daß der Engländer der Richtung des Blickes folgte.
»Aha!« sagte er gleich darauf. »Das habe ich mir gedacht. Der Korporal ist da.«
Der Korporal, eine schneidige Gestalt von etwa dreißig Jahren, vielleicht ein wenig unter Mittelgröße, aber sehr wohlproportioniert – ein Korporal mit sonnverbranntem Gesicht und braunem Spitzbart –, drehte sich in diesem Augenblick gerade um und gab der Rekrutenabteilung, die er befehligte, in fließender Rede eine Erklärung. An dem Korporal war nicht das mindeste auszusetzen. Ein geschmeidiger, flinker Korporal, tadellos von seinen blitzenden schwarzen Augen unter der schneidigen Mütze bis zu seinen blitzenden weißen Gamaschen. Ein wahres Musterbild eines französischen Korporals in seiner Schulterlinie, der Linie seiner Weste, der Linie seiner weiten Hosen, wo sie am breitesten waren, und der Linie, wo sie über seinen Waden am engsten anlagen.
Monsieur der Engländer sah zu, und die Kleine sah zu, und der Korporal sah zu (aber der letztere sah zu, wie seine Leute exerzierten), bis wenige Minuten darauf der Dienst zu Ende war und die militärischen Spritzer, die den Platz bedeckt hatten, eingetrocknet und verschwunden waren. Da sagte Monsieur der Engländer zu sich selbst: »Du lieber Himmel, da sieh einer an!« Denn der Korporal tanzte mit weitgeöffneten Armen auf den Barbierladen zu, hob die Kleine in die Höhe, hielt sie in fliegender Stellung ein Weilchen über seinem Kopf, setzte sie wieder auf den Boden, küßte sie und ging mit ihr in das Haus des Barbiers hinein.
Nun hatte Monsieur der Engländer Streit mit seiner ungehorsamen Tochter gehabt und sie verstoßen, und auch in diesem Fall handelte es sich um ein Kind. War nicht auch seine Tochter einst ein Kind gewesen, und war sie nicht wie ein kleiner Engel über seinen Kopf geflogen, gerade so wie dieses Kind über den Kopf des Korporals?
»Das ist ein« – hier folgte ein echt englisches Beiwort – »Narr!« sagte der Engländer und schloß sein Fenster.
Aber die Fenster des Hauses der Erinnerung und die Fenster des Hauses des Erbarmens lassen sich nicht so leicht schließen wie Fenster aus Glas und Holz. Sie springen auf, wenn man es am wenigsten erwartet; sie klappern und rasseln in der Nacht; man muß sie fest zunageln. Monsieur der Engländer hatte versucht, sie zuzunageln, aber er hatte die Nägel nicht tief genug hineingetrieben. Infolgedessen verbrachte er einen ziemlich unruhigen Abend und eine noch schlimmere Nacht.
War er von Natur ein gutmütiger Mensch? Nein; er besaß wenig Milde, denn seiner Ansicht nach war Milde nur ein Zeichen von Schwäche. War er heftig und wütend, wenn ihm etwas nicht paßte? Im höchsten Grade, und dabei unglaublich unvernünftig. War er mürrisch? Ganz außerordentlich mürrisch. War er rachsüchtig? Und ob! Er hatte sogar finster bei sich erwogen, ob er nicht seine Tochter in aller Form verfluchen sollte, wie er es im Theater gehört hatte. Es war ihm aber eingefallen, daß der wirkliche Himmel ein ganzes Ende von dem künstlichen Theaterhimmel, an dem der große Kronleuchter hängt, entfernt ist, und so hatte er diesen Gedanken wieder aufgegeben.
Und er war ins Ausland gegangen, um seine verstoßene Tochter für den ganzen Rest seines Lebens los zu sein. Und da war er nun.
Eigentlich war das der Hauptgrund dafür, daß Monsieur der Engländer über die Zuneigung des Korporals Theophil zu der kleinen Bebelle, dem Kind in dem Barbierladen, so erbost war. In einem unglücklichen Augenblick hatte er zu sich selbst gesagt: »Aber, zum Kuckuck, der Bursche ist doch nicht ihr Vater!« Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn plötzlich, als er diese Worte sprach, und seine Stimmung wurde noch beträchtlich trübseliger. So hatte er den nichtsahnenden Korporal nachdrücklich mit einem echt englischen Beiwort bedacht und darauf den Entschluß gefaßt, keinen Gedanken mehr an einen solchen Komödianten zu verschwenden.
Aber der Korporal war einfach nicht abzuschütteln. Wenn er die geheimsten Seelenregungen des Engländers gekannt hätte, und wenn er der aufdringlichste Korporal im ganzen großen französischen Heere gewesen wäre, anstatt der höflichste zu sein, so hätte er sich nicht hartnäckiger gerade mitten in alle Gedanken des Engländers eindrängen können. Und er war nicht nur in seinen Gedanken, sondern er schien ihm auch stets vor Augen zu sein. Monsieur der Engländer brauchte bloß zum Fenster hinauszusehen, um den Korporal mit der kleinen Bebelle wahrzunehmen. Er brauchte bloß einen Spaziergang zu machen, und siehe, da war der Korporal, der mit Bebelle ebenfalls spazierenging. Er brauchte bloß angewidert nach Hause zurückzukehren, und der Korporal und Bebelle waren bereits vor ihm wieder zu Hause. Wenn er früh am Morgen zu seinen Fenstern an der Hinterseite des Hauses hinausblickte, sah er den Korporal im Hinterhof des Barbiers, wie er Bebelle wusch und anzog und kämmte. Flüchtete er sich dann an die vorderen Fenster, so sah er den Korporal, wie er sein Frühstück auf den Platz hinausbrachte und es dort gemeinsam mit Bebelle verzehrte. Überall der Korporal und überall Bebelle. Niemals der Korporal ohne Bebelle. Niemals Bebelle ohne den Korporal.
Monsieur der Engländer war in der französischen Sprache als Mittel der mündlichen Verständigung nicht sehr bewandert, obwohl er sie sehr gut las. Es geht mit den Sprachen wie mit den Menschen: Wenn man sie nur vom Sehen kennt, täuscht man sich leicht in ihnen, erst das Reden begründet eine wahre Bekanntschaft.
Aus diesem Grunde mußte Monsieur der Engländer sich gewaltig zusammennehmen, bevor er sich dazu überwinden konnte, mit Madame Bouclet über diesen Korporal und diese Bebelle in einen Gedankenaustausch zu treten. Aber da Madame Bouclet eines Morgens zu ihm hereinkam, um entschuldigend zu bemerken, sie wäre, beim Himmel!, ganz verzweifelt, weil der Lampenmacher die ihm zur Ausbesserung übergebene Lampe noch nicht zurückgeschickt hätte, so ergriff Monsieur der Engländer die Gelegenheit beim Schopfe:
»Madame, jenes Kind+…«
»Verzeihung, Monsieur, Sie meinen jene Lampe.«
»Nein, nein, jenes kleine Mädchen.«
»Aber, Verzeihung!« sagte Madame Bouclet, indem sie ihre Angelrute auswarf, um auf die Meinung des Engländers zu kommen, »man kann ein kleines Mädchen doch nicht anzünden oder zum Ausbessern schicken?«
»Das kleine Mädchen – in dem Haus des Barbiers.«
»Ah – h – h!« rief Madame Bouclet, mit ihrer feinen kleinen Angelrute plötzlich die Meinung des Engländers erfassend. »Die kleine Bebelle? Ja, ja, ja! Und ihr Freund, der Korporal? Ja, ja, ja, ja! So nett von ihm – finden Sie nicht auch?«
»Er ist kein+…?«
»Durchaus nicht, durchaus nicht! Er ist kein Verwandter von ihr. Nicht im mindesten!«
»Dann tut er es also+…«
»Ganz recht!« rief Madame Bouclet, »Sie haben vollkommen recht, Monsieur. Es ist so nett von ihm. Je weniger er mit ihr verwandt ist, desto netter ist es von ihm.«
»Ist sie+…?«
»Das Kind des Barbiers?« Madame Bouclet schnellte ihre kleine Angelrute geschickt wieder in die Höhe. »Durchaus nicht, durchaus nicht! Sie ist das Kind von – mit einem Wort, von niemand.«
»Die Barbiersfrau also+…?«
»Ganz richtig. Wie Sie sagen. Die Barbiersfrau erhält eine kleine Rente, um für das Kind zu sorgen. Jeden Monat soundso viel. Freilich, es ist wenig genug, denn wir sind hier alle arme Leute.«
»Sie sind nicht arm, Madame.«
»Was meine Mieter angeht«, erwiderte Madame Bouclet mit einem Lächeln und einem graziösen Kopfneigen, »nein. Was aber alles Sonstige angeht, so bin ich auch arm.«
»Sie schmeicheln mir, Madame.«
»Monsieur, Sie schmeicheln mir, dadurch, daß Sie bei mir wohnen.«
Da Monsieur der Engländer ein paarmal nach Luft schnappte, woraus sich entnehmen ließ, daß er seine Fragen gern wiederaufgenommen hätte, aber nicht recht wußte wie, richtete Madame Bouclet ihren Blick scharf auf ihn und schnellte ihre feine Angelrute mit bestem Erfolg wieder in die Höhe.
»O nein, Monsieur, ganz und gar nicht. Die Barbiersfrau ist nicht schlecht zu der armen Kleinen, aber sie ist nachlässig. Sie ist eine schwächliche Frau und sitzt den ganzen Tag am Fenster und blickt hinaus. Infolgedessen war die arme kleine Bebelle sehr vernachlässigt, als der Korporal zum erstenmal kam.«
»Es ist ein merkwürdiger+…« begann Monsieur der Engländer.
»Name? Der Name Bebelle? Da haben Sie wiederum recht, Monsieur. Aber es ist ein Kosename für Gabrielle.«
»Und so hat sich der Korporal aus bloßer Laune des Kindes angenommen?« sagte Monsieur der Engländer mit einer grob verächtlichen Betonung.
»Du lieber Gott!« erwiderte Madame Bouclet mit einem entschuldigenden Achselzucken, »der Mensch braucht etwas, woran er sein Herz hängen kann. Die menschliche Natur ist schwach.«
(»Verdammt schwach«, murmelte der Engländer in seiner Muttersprache.)
»Und da der Korporal«, fuhr Madame Bouclet fort, »im Haus des Barbiers einquartiert ist – wo er wahrscheinlich lange bleiben wird, denn er gehört zum Gefolge des Generals und da er fand, daß das arme elternlose Kind Liebe nötig hatte, und da er ferner fand, daß er selbst etwas brauchte, woran er sein Herz hängen könnte – nun, so verstehen Sie, wie sich alles fügte.«
Monsieur der Engländer nahm diese Erklärung sehr wenig freundlich auf und sagte zu sich selbst, als er wieder allein war, in beleidigtem Ton:
»Ich würde mich nicht so sehr darüber ärgern, wenn diese Leute nicht so« – ein echt englisches Beiwort – »sentimental wären!«
Vor der Stadt lag ein Friedhof, und es paßte schlecht zu dem Ruf der sentimentalen Bewohner dieser Festungsstadt, daß der Engländer an demselben Nachmittag dort spazierenging. Sicherlich gab es dort manche herrlichen Dinge zu sehen (vom Standpunkt des Engländers aus) und man würde in ganz Britannien ganz gewiß keinen solchen Friedhof gefunden haben. Da gab es phantastisch geformte Herzen und Kreuze aus Holz und Eisen, die über den ganzen Platz verstreut waren und ihm den Anschein gaben, daß dort nach Einbruch der Dunkelheit ein wunderbares Feuerwerk abgebrannt werden sollte. Da gab es ferner so viele Kränze auf den Gräbern, bestickt mit den verschiedensten Widmungen: »Meiner Mutter«, »Meiner Tochter«, »Meinem Vater«, »Meinem Bruder«, »Meiner Schwester«, »Meinem Freund«, und diese Kränze boten in ihren verschiedenen Zuständen ein buntes Bild, von dem erst gestern niedergelegten Kranz an, der in frischen Farben und mit hell schimmernden Perlen glänzte, bis zu dem Kranz vom vorigen Jahr, der als ein trauriger Strohwisch vermoderte! Da gab es so viele kleine Gärten und Grotten, die die Gräber zierten und in den unterschiedlichsten Formen angelegt waren, mit Pflanzen und Muscheln und Gipsfiguren und Porzellankrügen und zahllosen kleinen Verzierungen! Da hingen so viele Gedenktafeln, die sich durchaus nicht von kleinen runden Präsentiertellern unterscheiden ließen, auf welchen in auffälligen Farben entweder eine Dame oder ein Herr dargestellt waren, die mit einem ganz unverhältnismäßig großen weißen Taschentuch in der Haltung der tadellosesten Trauer und der tiefsten Betrübnis auf einer prachtvoll ausgeführten Urne lehnten! Es gab so viele überlebende Gattinnen, die auf den Gräbern ihrer verstorbenen Ehegatten ihre Namen mit angebracht hatten mit einer leeren Stelle für Jahr und Tag ihres eigenen Scheidens aus dieser mühsalbeladenen Welt; und es gab so viele überlebende Gatten, die ihren dahingeschiedenen Gattinnen dieselbe Ehre erwiesen hatten; und darunter gab es bestimmt so viele, die sich längst wieder verheiratet hatten! Kurz, es gab an diesem Ort so vieles, was einem Fremden als überflüssiger Tand erscheinen mußte, hätte er nicht wahrgenommen, daß selbst die geringste Papierblume, die auf dem armseligsten Hügelchen lag, niemals von einer rauhen Hand berührt wurde, sondern, als eine heilige Sache sich selbst überlassen, langsam vermoderte!
»Hier ist nichts von der Majestät des Todes«, hatte Monsieur der Engländer eben sagen wollen, als diese letzte Wahrnehmung gerade mit sanfter Mahnung an sein Herz rührte, so daß er schließlich den Friedhof verließ, ohne es gesagt zu haben. »Aber diese Leute sind«, bemerkte er, um sich schadlos zu halten, als er ganz außerhalb des Friedhofs war – »sie sind so« – Beiwort – »sentimental!«
Sein Rückweg führte ihn über den Turnplatz der Soldaten. Und hier kam er an dem Korporal vorbei, der seine Rekruten in fließender Rede unterrichtete, wie sie sich auf ihrem Weg zum Ruhm mit Hilfe eines Seils über tiefe, reißende Bäche hinüberschwingen müßten. Dabei sprang er selbst flink von einem Trittbrett hinab und flog hundert oder zweihundert Fuß weit, um ihnen Mut zu machen, das Wagnis zu unternehmen. Und hier kam er auch an der kleinen Bebelle vorbei, die (wahrscheinlich von den behutsamen Händen des Korporals) auf eine kleine Anhöhe gesetzt worden war und die wie ein verwunderter weiß-blauer Vogel mit großen, runden Augen den Vorgängen zusah.
»Wenn diese Kleine sterben würde«, dachte der Engländer, während er der Szene den Rücken kehrte und davonging – »und es geschähe dem Burschen fast recht, weil er sich so närrisch mit dem Kind anstellt –, dann glaube ich, würde er einen Kranz und eine Tafel auf jenem sonderbaren Friedhof anbringen.«
Trotzdem aber ging er, nachdem er noch ein- oder zweimal früh am Morgen zum Fenster hinausgesehen hatte, auf den Platz hinunter, als der Korporal und Bebelle dort spazierengingen, berührte seinen Hut vor dem Korporal (eine kolossale Leistung), und wünschte ihm guten Morgen.
»Guten Morgen, Monsieur.«
»Ein ganz hübsches Kind die Kleine, die Sie bei sich haben!« sagte Monsieur der Engländer, indem er Bebelle am Kinn faßte und in ihre erstaunten blauen Augen blickte.
»Monsieur, sie ist ein sehr hübsches Kind«, erwiderte der Korporal, indem er die höfliche Verbesserung, die er in dem Ausdruck des Engländers angebracht hatte, besonders nachdrücklich betonte.
»Auch gut?« sagte der Engländer.
»Sehr gut. Arme Kleine!«
»Ah!« Der Engländer bückte sich und streichelte Bebelles Wange, nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, als hätte er das Gefühl, daß er in seiner Freundlichkeit zu weit ginge. »Was trägst du da für ein Medaillon um den Hals, mein Kind?«
Da Bebelle keine andere Antwort auf ihren Lippen hatte als ihr rundliches rechtes Fäustchen, übernahm der Korporal das Amt des Dolmetschers.
»Monsieur fragt, was das ist, Bebelle.«
»Es ist die heilige Jungfrau«, erwiderte Bebelle.
»Und wer hat es dir gegeben?« fragte der Engländer.
»Theophil.«
»Und wer ist Theophil?«
Bebelle brach in Gelächter aus, lachte fröhlich und herzlich, klatschte in ihre rundlichen Händchen und stampfte mit ihren Füßchen auf das Steinpflaster des Platzes.
»Er kennt Theophil nicht! Er kennt überhaupt niemand! Er kennt überhaupt nichts!«
Dann fiel es Bebelle ein, daß ihr Benehmen doch etwas zu wünschen übrigließe, weshalb sie ihr rechtes Händchen in dem einen Hosenbein des Korporals vergrub, ihre Wange gegen die Stelle legte und sie küßte.
»Monsieur Theophil vermutlich?« sagte der Engländer zu dem Korporal.
»Der bin ich, Monsieur.«
»Erlauben Sie.« Monsieur der Engländer schüttelte ihm herzlich die Hand und wandte sich zum Gehen. Er nahm es aber mächtig übel, daß der alte Monsieur Mutuel auf seinem Fleckchen Sonnenschein, dem er gerade begegnete, als er sich umwandte, mit einem Blick freudiger Zustimmung seine Mütze vor ihm zog. Und er brummte, während er den Gruß erwiderte, in seiner Muttersprache: »Nun, du Walnußgesicht, was geht das dich denn an?«
Es folgte eine Reihe von Wochen, während deren Monsieur der Engländer unruhige Abende und noch schlimmere Nächte verbrachte. Er machte fortwährend die Erfahrung, daß die besagten Fenster im Haus der Erinnerung und im Haus des Erbarmens nach Dunkelwerden klapperten und daß er sie nur sehr unvollkommen zugenagelt hatte. Während dieser vielen Wochen aber lernte er sowohl den Korporal als auch Bebelle von Tag zu Tag besser kennen. Das heißt, er faßte Bebelles Kinn und des Korporals Hand und bot Bebelle Soustücke und dem Korporal Zigarren an, und es kam sogar dazu, daß er mit dem Korporal die Tabakspfeife austauschte und Bebelle küßte. Aber er machte immer ein Gesicht dabei, als schämte er sich seiner Handlungsweise, und war stets sehr aufgebracht darüber, daß Monsieur Mutuel auf seinem Fleckchen Sonnenschein ihn beobachtete. Sooft das der Fall zu sein schien, brummte er stets in seiner Muttersprache: »Da bist du ja wieder, Walnußgesicht! Was geht denn dich das an?«
Mit einem Wort, Monsieur der Engländer füllte seine ganze Zeit damit aus, nach dem Korporal und der kleinen Bebelle zu sehen und es übelzunehmen, daß der alte Monsieur Mutuel ihm dabei zusah. Diese Beschäftigung erlitt nur eine Unterbrechung durch eine in einer windigen Nacht in der Stadt ausbrechende Feuersbrunst, wobei viele Wassereimer von Hand zu Hand gingen (der Engländer machte dabei wacker mit) und viele Trommeln geschlagen wurden, als auf einmal der Korporal verschwand.
Darauf verschwand ebenso plötzlich Bebelle.
Einige Tage nach dem Verschwinden des Korporals hatte man sie noch gesehen – sie war traurig vernachlässigt in bezug auf Waschen und Kämmen –, aber sie hatte keine Antwort gegeben, als der Engländer sie angeredet hatte, sondern war mit erschrockenem Gesicht davongelaufen. Und jetzt war anscheinend auch sie ganz und gar auf und davon gegangen. Und da lag nun der Große Platz öde und verlassen unter den Fenstern.
Scheu und verlegen wie Monsieur der Engländer war, fragte er niemanden, sondern stand beobachtend und wartend an seinen Fenstern nach vorn hinaus und stand beobachtend und wartend an seinen Fenstern nach hinten hinaus und ging auf dem Platz hin und her und blickte verstohlen in den Barbierladen hinein – alles, indem er vor sich hin pfiff und Melodien vor sich hin summte, um sich den Anschein zu geben, als suche er durchaus nichts. Da trat eines Nachmittags, als Monsieur Mutuels sonnenbeschienenes Fleckchen im Schatten lag und er nach allen Regeln und aller sonstigen Gewohnheit nicht das mindeste Recht hatte, sein rotes Bändchen auf der Straße spazierenzuführen, dieser Ehrenmann auf einmal auf den Engländer zu, wobei er seine Mütze bereits auf zwölf Schritt Entfernung abnahm.
Monsieur der Engländer war in dem gewöhnlichen Ausdruck seines Unwillens bereits so weit gekommen, daß er gesagt hatte: »Was geht+…«, als er innehielt.
»Ah, eine traurige Geschichte, eine traurige Geschichte! Hélas, eine unglückliche Geschichte, eine traurige Geschichte!«
So sprach der alte Monsieur Mutuel und schüttelte dabei den grauen Kopf.
»Was geht – das heißt, ich wollte sagen, was meinen Sie, Monsieur Mutuel?«
»Unser Korporal. Hélas, unser braver Korporal!«
»Was ist ihm denn zugestoßen?«
»Haben Sie es nicht gehört?«
»Nein.«
»Bei der Feuersbrunst. Aber er war auch so tapfer, so hilfsbereit. Ah, zu tapfer, zu hilfsbereit!«
»Der Teufel mag Sie holen!« fiel der Engländer ungeduldig ein; »ich bitte um Verzeihung – ich meine mich – ich bin nicht daran gewöhnt, französisch zu sprechen – fahren Sie fort, wollen Sie so gut sein?«
»Und ein niederstürzender Balken+…«
»Herrgott im Himmel!« rief der Engländer aus. »Ich denke, es war ein gewöhnlicher Soldat, der den Tod dabei gefunden hat?«
»Nein. Ein Korporal, dieser Korporal, unser braver Korporal. Alle seine Kameraden liebten ihn. Das Begräbnis war eine rührende – erschütternde Feierlichkeit. Monsieur Engländer, Ihnen steigen die Tränen in die Augen.«
»Was geht+…«
»Monsieur Engländer, ich respektiere diese Ihre Gefühle. Ich sage Ihnen mit tiefster Achtung adieu. Ich will Ihr edles Herz nicht durch meine Anwesenheit belästigen.«
Monsieur Mutuel – ein Gentleman in jedem Faden seiner unsauberen Wäsche, unter dessen runzliger Hand jedes Körnchen in dem Viertellot armseligen Schnupftabaks in seiner armseligen kleinen Zinndose das Eigentum eines Gentleman wurde – Monsieur Mutuel setzte, die Mütze in der Hand, seinen Weg fort.
»Ich hätte wahrlich nicht gedacht«, sagte der Engländer, nachdem er ein paar Minuten gegangen war und sich dabei mehr als einmal geschneuzt hatte, »als ich mir diesen Friedhof ansah, daß – ich will noch einmal hingehen.«
Er ging geradeswegs hin. Als er sich dem Eingang näherte, hielt er inne und überlegte, ob er im Pförtnerhäuschen nach der Lage des Grabes fragen sollte. Aber er war weniger als je in der Stimmung, Fragen zu stellen, und er sagte sich auch: »Ich werde etwas auf dem Grab wahrnehmen, woran ich es erkennen werde.«
So schritt er, immer nach dem Grab des Korporals Ausschau haltend, langsam die Gänge auf und ab und sah sich zwischen den Kreuzen und Herzen und Säulen und Grabsteinen nach einem frisch umgegrabenen Fleck um. Es machte ihm auf einmal das Herz schwer, wenn er bedachte, wie viele Tote auf dem Friedhof lagen – er hätte sie vorher nicht auf den zehnten Teil geschätzt –, und nachdem er eine Zeitlang suchend dahingegangen war, sagte er, in eine neue Gräberreihe einbiegend, zu sich selbst: »Ich könnte beinahe denken, daß alles tot ist und nur ich allein lebe.«
Aber es war nicht alles tot. Ein lebendiges Kind lag schlafend am Boden. Er hatte tatsächlich etwas auf dem Grabe des Korporals gefunden, woran er es erkennen konnte, und dieses Etwas war Bebelle.
Die Kameraden des toten Soldaten hatten mit solch liebevollem Eifer an seiner Ruhestätte gearbeitet, daß sie bereits zu einem schmucken Gärtchen geworden war. Auf dem grünen Rasen des Gärtchens lag Bebelle und schlief, ihre Wange schmiegte sich an den Boden. Ein einfaches, ungestrichenes Holzkreuz war in den Rasen gepflanzt, und sie hielt mit ihrem kurzen Ärmchen dieses kleine Kreuz umschlungen, wie sie den Hals des Korporals oft und oft umschlungen hatte. Das Kopfende des Grabes war mit einer kleinen Flagge in den französischen Farben und einer Lorbeergirlande geschmückt.
Monsieur der Engländer nahm den Hut ab und stand eine Zeitlang schweigend da. Dann setzte er ihn wieder auf, ließ sich auf ein Knie nieder und weckte sanft das schlafende Kind.
»Bebelle! Mein Herzchen!«
Bebelle öffnete die noch tränenfeuchten Augen und machte zuerst ein erschrockenes Gesicht. Als sie aber sah, wer es war, ließ sie sich von ihm auf die Arme nehmen, wobei sie den Blick fest auf ihn gerichtet hielt.
»Du darfst nicht hier liegen, mein Herzchen. Du mußt mit mir kommen.«
»Nein, nein. Ich kann Theophil nicht verlassen. Ich brauche den lieben, guten Theophil.«
»Wir wollen hingehen und ihn suchen, Bebelle. Wir wollen hingehen und ihn in England suchen. Wir wollen hingehen und im Haus meiner Tochter nach ihm suchen, Bebelle.«
»Werden wir ihn dort finden?«
»Wir werden den besten Teil von ihm dort finden. Komm mit mir, meine Kleine. Der Himmel ist mein Zeuge«, sagte der Engländer leise, während er, bevor er sich erhob, den Rasen über der Brust des weichherzigen Korporals berührte, »daß ich mit dankbarem Herzen das mir anvertraute Pfand annehme!«
Es war für die Kleine ein langer Weg gewesen, da sie ihn ohne jede Hilfe zurückgelegt hatte. Infolgedessen lag sie bald wieder in tiefem Schlaf, während ihre Ärmchen jetzt den Hals des Engländers umschlangen. Er blickte auf ihre ausgetretenen Schuhe und ihre wunden Füßchen und ihr erschöpftes Gesichtchen und kam zu der Überzeugung, daß sie tagtäglich zum Friedhof gegangen sein mußte.
Er wollte das Grab mit der schlummernden Bebelle in seinen Armen eben verlassen, als er innehielt, ernst auf das Grab niederblickte und einen ernsten Blick über die anderen Gräber ringsum gleiten ließ.
»Es ist ein unschuldiger Brauch des Landes«, sagte Monsieur der Engländer zögernd. »Ich glaube, ich würde es gern tun. Es sieht ja niemand.«
Sorgsam bedacht, Bebelle im Gehen nicht aufzuwecken, begab er sich nach dem Pförtnerhäuschen, wo jene kleinen Zeichen des Gedenkens feilgeboten wurden, und erstand zwei Kränze. Der eine in Blau und Weiß und schimmerndem Silber: »Meinem Freund«; der andere in den gemäßigten Farben Rot und Schwarz und Gelb: »Meinem Freund.« Mit diesen ging er wieder zum Grab zurück und ließ sich abermals auf ein Knie nieder. Er berührte die Lippen der Kleinen mit dem Kranz in den heller schimmernden Farben und führte dann ihr Händchen, daß sie ihn an das Kreuz hängen sollte; darauf hing er seinen eigenen Kranz daran. Schließlich paßten die Kränze ganz leidlich zu dem Gärtchen auf dem Grab. Meinem Freund. Meinem Freund.
Als Monsieur der Engländer, mit Bebelle in den Armen, um eine Straßenecke herum auf den Großen Platz blickte, nahm er es sehr übel, daß der alte Mutuel da war und sein rotes Bändchen spazierenführte. Er gab sich unendliche Mühe, ein Zusammentreffen mit dem würdigen Mann zu vermeiden, und brauchte verblüffend viel Zeit dazu, um wie ein Verbrecher, hinter dem die Schergen her sind, in seine Wohnung zu schleichen. Als er endlich sicher dort angelangt war, wusch und kämmte er Bebelle, wobei er sich bemühte, es soweit wie möglich genau in der Weise zu tun, wie er es den armen Korporal oft hatte machen sehen. Dann gab er ihr zu essen und zu trinken und legte sie auf sein Bett. Er begab sich darauf in den Barbierladen und kehrte nach einer kurzen Besprechung mit der Barbiersfrau und einer kurzen Zuhilfenahme seiner Börse und Brieftasche mit dem ganzen persönlichen Eigentum Bebelles in einem so kleinen Bündel wieder zurück, daß man es unter seinem Arm kaum wahrnehmen konnte.
Da es zu seiner ganzen Lebensweise und seinem ganzen Charakter schlecht gepaßt hätte, Bebelle in feierlichem Staat fortzuführen oder Komplimente oder Glückwünsche wegen dieser edlen Tat entgegenzunehmen, so verwandte er den ganzen folgenden Tag darauf, seine beiden Koffer durch allerhand Kniffe heimlich aus dem Haus zu bringen. Auch sonst benahm er sich in jeder Hinsicht, als ob er beabsichtigte, durchzubrennen, nur daß er seine paar Schulden in der Stadt bezahlte und für Madame Bouclet einen Abschiedsbrief schrieb, der an Stelle der Kündigung einen ausreichenden Geldbetrag enthielt. Um Mitternacht ging ein Zug, und in diesem Zug wollte er mit Bebelle davonfahren, um in England im Haus seiner Tochter, der er verziehen hatte, nach Theophil zu suchen.
Um Mitternacht – es war heller Mondschein – schlich Monsieur der Engländer wie ein harmloser Meuchelmörder, mit Bebelle statt eines Dolches an seiner Brust, aus dem Haus. Still lag der Große Platz da und still waren die leeren Straßen; die Kaffeehäuser waren geschlossen; bewegungslos lagen die Billardkugeln auf einem Haufen; die Wachen oder Soldaten, die hier und da im Dienst waren, blickten schläfrig vor sich hin; sogar der unersättliche Hunger des Stadtzollamtes war zu dieser Zeit durch den Schlummer beschwichtigt.
Monsieur der Engländer ließ den Platz hinter sich und ließ die Straßen hinter sich und ließ die Zivilistenstadt hinter sich und stieg zwischen die Befestigungswerke Vaubans, die alles umgaben, hinab. Wie der Schatten des ersten wuchtigen Bogenganges und Ausfallpförtchens auf ihn fiel und hinter ihm zurückblieb, wie der Schatten des zweiten wuchtigen Bogenganges und Ausfallpförtchens auf ihn fiel und hinter ihm zurückblieb, wie der hohle Klang seines Schrittes auf der ersten Zugbrücke von einem leiseren Ton abgelöst wurde, wie der hohle Klang seines Schrittes auf der zweiten Zugbrücke von einem leiseren Ton abgelöst wurde, wie er die sumpfigen Gräben einen nach dem anderen hinter sich ließ und auf das freie Land kam, wo der Mond die strömenden Wasser beschien, so wurden auch die finsteren Schatten und die hohlen Klänge und die in ungesunder Gebundenheit stagnierenden Ströme seiner Seele überwunden und freigemacht. Denkt daran, ihr Vaubans eurer eigenen Herzen, die ihr sie mit dreifachen Wällen und Gräben umgebt und sie mit Riegeln und Ketten und Stangen und Zugbrücken verseht – schleift diese Festungswerke und legt sie nieder, bis daß sie dem allesverzehrenden Staub gleich sind, ehe die Nacht kommt, da keine Hand sich mehr rühren kann!
Es ging alles gut ab, und er bestieg ein leeres Abteil in dem Zug, wo er Bebelle auf den ihm gegenüber befindlichen Sitz wie auf ein Bett niederlegen und sie von Kopf bis Fuß in seinen Mantel einhüllen konnte. Er hatte sich gerade von dieser Tätigkeit wieder aufgerichtet, lehnte sich in seinem Sitz zurück und blickte die schlafende Kleine mit großer Zufriedenheit an, als er eine sonderbare Erscheinung an dem offenen Abteilfenster gewahrte – eine gespenstisch kleine Zinndose, die im Mondschein in die Höhe kam und dort schweben blieb.
Er beugte sich vor und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Da stand unten mitten zwischen den Schienen und Rädern und Aschenhaufen Monsieur Mutuel mit seinem roten Bändchen und allem sonstigen Zubehör!
»Bitte um Verzeihung, Monsieur Engländer«, sagte Monsieur Mutuel und hielt seine Dose mit ausgestrecktem Arm in die Höhe, denn das Abteil war sehr hoch und er sehr klein; »ich werde die kleine Dose für immer in Ehren halten, wenn Ihre großmütige Hand zum Abschied eine Prise daraus nehmen will.«
Monsieur der Engländer streckte, bevor er der Aufforderung entsprach, seinen Arm zum Fenster hinaus, schüttelte Monsieur Mutuel – ohne den alten Knaben zu fragen, was ihn das anginge – die Hand und sagte: »Adieu! Gott segne Sie.«
»Und Gott segne Sie, Monsieur Engländer!« rief Madame Bouclet, die ebenfalls zwischen den Schienen und Rädern und Aschenhaufen stand. »Und Gott wird Sie in dem Glück des Kindes segnen, das Sie jetzt unter Ihren Schutz genommen haben. Und Gott wird Sie in Ihrem eigenen Kind zu Hause segnen. Und Gott wird Sie in Ihren Erinnerungen segnen. Und nehmen Sie dies von mir!«
Er hatte gerade noch Zeit, einen Blumenstrauß aus ihrer Hand in Empfang zu nehmen, als der Zug schon durch die Nacht dahinsauste. Auf dem Papierstreifen, der den Strauß umgab, stand in schöner Schrift (zweifellos von der Hand des Neffen, der die Feder eines Engels führte): »Heil dem Freund der Freundlosen!«
»Keine schlechten Menschen, Bebelle!« sagte Monsieur der Engländer, indem er vorsichtig ein wenig den Mantel von ihrem schlafenden Gesichtchen lüpfte, um es zu küssen, »obwohl sie so+…«
Da er selbst im Augenblick zu »sentimental« war, um dieses Wort aussprechen zu können, schloß er nur mit einem Schluchzen und fuhr einige Meilen im Mondschein dahin, während seine Hand auf seinen Augen lag.
* * *
Meine Werke sind wohlbekannt. Ich bin ein junger Künstler. Sie haben meine Werke schon manches Mal gesehen, obgleich die Wahrscheinlichkeit, daß Sie mich selbst gesehen haben könnten, sich wie eins zu fünfzigtausend verhält. Sie versichern, Sie hätten gar nicht den Wunsch, mich zu sehen? Sie meinen, Sie interessierten sich für meine Werke, aber nicht für mich? Seien Sie dessen nicht allzu gewiß. Lassen Sie sich einmal ein wenig erzählen.
Wir wollen die Tatsache gleich zu Anfang schwarz auf weiß niederlegen, so daß es nachher keinen Streit geben kann. Und diese Zeilen werden von einem Freund von mir durchgesehen, einem Etikettschreiber, der sich auf literarische Dinge versteht. Ich bin ein junger Künstler. Sie haben meine Werke zahllose Male gesehen, Sie haben sich über mich Gedanken gemacht, und Sie glauben, Sie hätten mich gesehen. Aber, ich kann mit Sicherheit behaupten, Sie haben mich niemals gesehen, Sie haben jetzt keine Gelegenheit, mich zu sehen, und Sie werden mich auch niemals sehen. Ich glaube, das ist klar und deutlich – und es ist gerade das, was mich umwirft.
Wenn es einen Mann der Öffentlichkeit gibt, der vom Schicksal geschlagen ist, dann bin ich es.
Ein bestimmter (oder unbestimmter) Philosoph hat einmal gesagt, die Welt wüßte nichts von ihren größten Männern. Er hätte sich noch deutlicher ausgedrückt, wenn er sein Auge in meine Richtung gelenkt hätte. Er hätte gesagt, daß die Welt zwar etwas von denen weiß, die anscheinend den Kampf aufnehmen und gewinnen, daß ihr aber diejenigen gänzlich unbekannt sind, die den Kampf wirklich aufnehmen und ihn nicht gewinnen.
Nicht, daß ich der einzige wäre, der unter Ungerechtigkeit zu leiden hat; aber gegen die Kränkungen, die ich selbst dulden muß, bin ich empfindlicher als gegen die, die einen anderen treffen. Da ich, wie gesagt, ein Künstler und kein Philanthrop bin, so gebe ich das ganz offen zu. Was Gefährten im Unglück anbetrifft, so habe ich daran keinen Mangel. Wen befördern Sie jeden Tag bei Ihren Wettbewerbs-Martern? Etwa die glücklichen Kandidaten, die Sie für immer auf Herz und Nieren geprüft haben? Da täuschen Sie sich aber! In Wirklichkeit befördern Sie die Einbläser, die hinter den Kandidaten stehen. Wenn dieser Ihr Grundsatz richtig ist, weshalb ziehen Sie dann nicht morgen früh mit den Schlüsseln Ihrer Städte auf Samtkissen bei Musik und fliegenden Fahnen aus und lesen auf den Knien den Einbläsern Adressen vor, mit der Bitte, heranzutreten und Sie zu regieren? Das gilt auch für alle öffentlichen Angelegenheiten, für die Finanzstatistiken und den Staatshaushalt; das Publikum weiß viel davon, wer in Wirklichkeit alle diese Arbeiten macht! Ihre edlen Lords und ehrenwerten Abgeordneten sind erstklassige Leute? Ja, so wie eine Gans ein erstklassiger Braten ist. Aber ich will Ihnen das über die Gans verraten: Sie werden von ihrem natürlichen Geschmack enttäuscht sein, wenn keine Füllung in ihr ist.
Sie meinen vielleicht, ich sei verbittert, weil ich nicht populär bin? Aber nehmen wir an, ich bin populär. Nehmen wir an, meine Werke ziehen das Publikum stets an, daß sie stets die Aufmerksamkeit der Menge erregen, mögen sie nun bei natürlichem oder künstlichem Licht gezeigt werden. Dann werden sie also zweifellos in einer Sammlung aufbewahrt? Nein, das ist nicht der Fall; sie befinden sich in keiner Sammlung. Aber dann sind sie im Buchhandel? Nein, auch nicht im Buchhandel. Aber sie müssen doch irgendwo sein? Wieder falsch getroffen, denn sie sind oft nirgendwo!
Daraufhin sagen Sie: »Auf jeden Fall sind Sie in einer sehr schlechten Stimmung, mein Freund.« Meine Antwort ist, daß ich mich als einen Mann der Öffentlichkeit geschildert habe, der vom Schicksal geschlagen ist – und das ist eine ausreichende Erklärung dafür, daß die Milch in dieser Kokosnuß geronnen ist.
Wer London kennt, kennt auch einen Ort auf der Surrey-Seite der Themse, der der Obelisk geheißen ist. Wer London nicht kennt, weiß jetzt, da ich ihn genannt habe, ebenfalls etwas davon. Nicht weit davon befindet sich meine Wohnung. Ich bin ein leichtlebiger junger Mann, der im Bett liegt, bis es unbedingt nötig ist aufzustehen und etwas zu verdienen, und der dann wieder im Bett liegt, bis es ausgegeben ist.
Einmal mußte ich mich, um Lebensmittel zu beschaffen, wieder daranmachen. Ich ging abends nach Einbruch der Dunkelheit mit einem Bekannten und Hausgenossen aus dem Gasschlosserberuf die Waterloo Road entlang. Er ist ein sehr lieber Kerl, hat beim Theater gearbeitet und hat selbst eine Neigung zum Schauspielern. Sein sehnlichster Wunsch ist, als Othello auf die Bretter zu kommen; ob das etwa daher rührt, daß seine Arbeit ihm gewöhnlich Gesicht und Hände mehr oder weniger schwärzt, kann ich nicht sagen.
»Tom«, sagte er, »welch ein Geheimnis doch über Euch schwebt!«
»Ja, Mr. Click« – die übrigen Einwohner des Hauses nennen ihn gewöhnlich bei seinem vollen Namen, da er im ersten Stock nach vorn hinaus wohnt, überall Teppiche liegen hat und seine eigenen Möbel besitzt, und wenn sie auch nicht Mahagoni sind, so doch eine sehr gute Imitation – »ja, Mr. Click, über mir schwebt ein Geheimnis.«
»Macht Euch verstimmt, ist's nicht so?« sagte er, mich von der Seite ansehend.
»Nun ja, Mr. Click«, ich konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, »es sind Umstände mit dabei, die mich verstimmen.«
»Macht Euch auch ein bißchen zum Menschenfeind, nicht?« sagte er. »Ich will Euch etwas sagen. Wenn ich Ihr wäre, so würde ich es abschütteln.«
»Wenn ich Ihr wäre, so würde ich es tun, Mr. Click; aber wenn Ihr ich wäret, so würdet Ihr es nicht tun.«
»Ah!« sagte er, »daran ist etwas Wahres.«
Als wir ein wenig weitergegangen waren, nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf, indem er mich an der Brust berührte.
»Seht Ihr, Tom, es kommt mir vor, als hättet Ihr dort, um mit dem Dichter des Familiendramas ›Der Fremde‹ zu sprechen, einen schweigenden Kummer.«
»So ist es auch, Mr. Click.«
»Ich will hoffen, Tom«, sagte er, seine Stimme freundlich senkend, »daß es nicht Falschmünzerei ist?«
»Nein, Mr. Click. Da braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen.«
»Und auch keine Banknotenfäl…« Mr. Click hielt inne und fügte hinzu: »Nachahmung von irgend etwas, zum Beispiel?«
»Nein, Mr. Click. Ich bin ein ganz rechtschaffener Künstler – aber mehr kann ich nicht sagen.«
»Ah! Unter einer Art Unglücksstern? Einer Art bösem Zauber? Einer Art Fluch des Schicksals? Ein Wurm, der an Eurem Herzen nagt, soviel ich begreifen kann?« sagte Mr. Click mit einer gewissen Bewunderung.
Ich antwortete, das wäre es ungefähr, wenn wir auf Einzelheiten eingehen wollten, und es schien mir, daß er stolz auf mich war.
In dieser Unterhaltung begriffen, stießen wir auf eine Menschenmenge, von der der größere Teil nach vorn drängte, um etwas auf dem Pflaster zu betrachten. Es handelte sich um verschiedene Zeichnungen, die mit farbiger Kreide auf die Pflastersteine gemalt worden waren. Zur Beleuchtung dienten zwei Kerzen, die in einem Paar Lehmdillen steckten. Die Zeichnungen stellten verschiedene Gegenstände dar. Da sah man Kopf und Schultern eines frischen Lachses, der angeblich eben erst aus einem Fischladen in die Küche geschickt worden war; eine Mondscheinnacht auf dem Meer (in einem Kreis); totes Wildbret; Arabesken; den eisgrauen Kopf eines in fromme Andacht versunkenen Eremiten; den Kopf eines pfeiferauchenden Jagdhundes; und einen Cherub, mit Fettfalten in der Haut wie ein Baby, der in horizontaler Richtung gegen den Wind flog. Alle diese Zeichnungen waren meiner Ansicht nach ganz vortrefflich ausgeführt.
Am einen Ende dieser Galerie lag ein schäbiger Mann von sehr bescheidenem Aussehen, der entsetzlich zitterte (obwohl es durchaus nicht kalt war), auf den Knien. Er blies den Kreidestaub von dem Mond weg, schattierte den Umriß des Eremitenkopfes mit einem Stückchen Leder und verstärkte den Grundstrich des einen oder anderen Buchstabens der Beschriftung. Ich habe vergessen zu bemerken, daß auch eine Beschriftung zu dem Ganzen gehörte, und auch diese war – meiner Ansicht nach – vortrefflich ausgeführt. Man las da in schönen runden Buchstaben folgendes:
»Ein ehrlicher Mensch ist das edelste Werk Gottes. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0. Es wird demütig um Beschäftigung in einem Kontor gebeten. Ehre der Königin. Hunger 0 9 8 7 6 5 4 3 2 1 tut weh. Astronomie und Mathematik. Ich tue dies, um für meine Familie Brot zu schaffen.«
Unter der Menge ließen sich gemurmelte Äußerungen der Bewunderung über die ungewöhnliche Schönheit dieser Zeichnungen vernehmen. Der Künstler war mit seinem Ausbessern fertig geworden (wobei der die betreffenden Stellen verdorben hatte) und setzte sich, die Knie fast bis an das Kinn emporgezogen, auf das Pflaster. Halbpencestücke begannen auf ihn herunterzuregnen.
»Es ist ein Jammer, einen Mann mit so viel Begabung so tief gesunken zu sehen, nicht?« sagte jemand aus der Menge zu mir.
»Was hätte der im Kutschen- oder Häuserbemalen leisten können!« sagte ein zweiter Mann, auf die Bemerkung des ersten Sprechers eingehend, weil ich stumm blieb.
»Schon seine bloße Schrift – wie die des Lordkanzlers!« sagte wieder ein anderer.
»Besser«, sagte ein vierter. »Ich kenne dessen Schrift. Er könnte auf diese Weise kein Brot für seine Familie beschaffen.«
Eine Frau bemerkte, das Haar des Eremiten wäre von einer täuschend natürlichen Flockigkeit, und eine zweite, die Freundin der ersten, meinte, man sähe fast, wie der Lachs mit seinen Kiemen atmete. Dann trat ein ältlicher Gentleman vom Land an den bescheidenen Mann heran und fragte ihn, wie er seine Werke ausführte. Und der bescheidene Mann zog ein paar Tüten mit Farben aus der Tasche und zeigte sie ihm. Dann fragte ein Esel mit rosiger Gesichtsfarbe, gelbem Haar und einer Brille, ob der Eremit ein Porträt sei. Worauf der bescheidene Mann mit einem schmerzlichen Blick auf die Zeichnung erwiderte, daß sie bis zu einem gewissen Grade eine Erinnerung an seinen Vater wäre. Daraufhin rief ein Junge: »Ist der Hund mit der Pfeife Eure Mutter?« Aber ein mitfühlender Zimmermann mit seinem Werkzeugsack auf dem Rücken drängte den vorlauten Rufer sofort außer Sichtweite.
Bei jeder neuen Frage oder Bemerkung drängte die Menge interessierter nach vorn und ließ die Halbpencestücke freigebiger fallen, während der bescheidene Mann sie immer demütiger aufsammelte. Schließlich trat ein anderer ältlicher Gentleman zu dem Künstler und gab ihm seine Karte, mit der Aufforderung, morgen in sein Kontor zu kommen, wo er etwas zum Abschreiben für ihn hätte. Die Karte wurde von einem Sechspencestück begleitet, und der Künstler äußerte seine tiefste Dankbarkeit. Bevor er die Karte in seinen Hut legte, las er sie bei dem Licht seiner Kerzen ein paarmal durch, um sich die Adresse für den Fall des Verlusts fest einzuprägen. Die Menge hatte diesen letzten Vorgang mit dem größten Interesse verfolgt, und ein Mann in der zweiten Reihe brummte:
»Jetzt habt Ihr eine Aussicht im Leben, nicht wahr?«
Der Künstler erwiderte (wobei er jedoch sehr niedergeschlagen schnüffelte):
»Ich will es dankbar hoffen.«
Worauf es allgemein im Chor erklang: »Da habt Ihr recht«, und die Halbpencestücke wurden ganz entschieden spärlicher.
Ich fühlte mich am Arm weggezogen, und Mr. Click und ich standen allein an der Ecke der nächsten Seitenstraße.
»Aber, Tom«, sagte Mr. Click, »Ihr macht ein geradezu entsetzliches Gesicht!«
»Wirklich?« sagte ich.
»Wirklich!« wiederholte Mr. Click. »Ihr saht aus, als wolltet Ihr ihn ermorden.«
»Wen?«
»Den Künstler.«
»Den Künstler?« wiederholte ich. Und ich lachte in einer wahnsinnigen, wilden, finsteren, stoßartigen, unangenehmen Weise. Ich weiß, daß ich das tat. Ich bin mir dessen vollkommen bewußt.
Mr. Click starrte mich erschrocken an, sagte aber kein Wort, bis wir die ganze Länge der Straße zurückgelegt hatten. Dann blieb er auf einmal stehen und sagte, mit dem Zeigefinger aufgeregt in der Luft hin und her fahrend:
»Thomas, ich halte es für nötig, aufrichtig zu Euch zu sein. Ich mag neidische Menschen nicht. Ich habe den Wurm, der an Eurem Herzen nagt, erkannt, Thomas. Es ist der Neid.«
»Wirklich?« sagte ich.
»Ja, wirklich«, sagte er. »Thomas, hütet Euch vor dem Neid. Er ist das grünäugige Ungeheuer, das niemals eine leuchtende Stunde genoß und es niemals tun wird, sondern ganz im Gegenteil. Ich fürchte die neidischen Menschen, Thomas. Ich gestehe, daß mir die neidischen Menschen unheimlich sind, wenn sie in ihrem Neid so weit gehen wir Ihr. Als Ihr die Werke eines begabten Nebenbuhlers betrachtetet, und als Ihr das Lob dieses Nebenbuhlers mit anhörtet, und besonders als Ihr seinem demütigen Blick begegnetet, als er diese Karte wegsteckte, lag eine solche Bosheit in Eurem Gesicht, daß es geradezu entsetzlich war. Thomas, ich habe von dem Neid der Künstler gehört, aber ich habe nie geglaubt, daß er so weit gehen könnte wie bei Euch. Ich wünsche Euch alles Gute, aber ich sage Euch hiermit Lebewohl. Und wenn Ihr je in Schwierigkeiten kommen solltet, weil Ihr einen Kollegen erstochen oder erwürgt habt – und ich glaube, Ihr werdet das eines Tages tun –, dann nennt mich nicht als Zeugen, Thomas, oder ich werde genötigt sein, Euch zu schaden.«
Mr. Click schied mit diesen Worten von mir, und unsere Bekanntschaft war damit zu Ende.
Ich verliebte mich in ein Mädchen namens Henrietta. Es gelang mir sogar trotz meiner Leichtlebigkeit, häufig aufzustehen, um ihr zu folgen. Sie wohnte ebenfalls in der Nähe des Obelisken, und ich hegte die zuversichtliche Hoffnung, daß niemand zwischen sie und mich treten würde.
Henrietta wankelmütig zu nennen, heißt lediglich sie Frau zu nennen. Wenn ich aber sage, daß sie Putzmacherin war, so gebe ich damit nur einen schwachen Begriff von dem Geschmack, den sie in ihrem eigenen Putz entwickelte.
Sie willigte ein, mit mir zu gehen. Die Gerechtigkeit erfordert es, einzuräumen, daß sie es nur zur Probe tat.
»Ich bin bis jetzt noch nicht geneigt«, sagte Henrietta, »in Euch etwas anderes als einen Freund zu sehen, Thomas. Aber als Freund will ich mit Euch gehen, wobei sanftere Gefühle für später nicht ausgeschlossen sind.«
Wir gingen.
Von Henriettas Listen beeinflußt, stand ich jetzt täglich auf. Ich ging mit einem vorher unbekannten Fleiß meiner beruflichen Tätigkeit nach, und Leute, die mit den Straßen von London vertraut sind, werden sicherlich beobachtet haben, daß es zu jener Zeit eine größere Menge+… gab. Aber halt! Noch ist die Zeit nicht gekommen!
An einem Oktoberabend ging ich mit Henrietta spazieren und wir genossen das kühle Lüftchen, das über die Vauxhall Bridge wehte. Nachdem wir ein paarmal langsam auf und ab gegangen waren, fing Henrietta häufig zu gähnen an (so tief wurzelt die Neigung zu aufregenden Erlebnissen im Gemüt der Frauen) und sagte:
»Wir wollen über Grosvenor Place, Piccadilly und Waterloo nach Hause gehen.«
Das sind, wie ich zur Belehrung für Fremde mitteilen möchte, sehr bekannte Örtlichkeiten von London, und die letztere ist eine Brücke.
»Nein. Nicht über Piccadilly, Henrietta«, sagte ich.
»Und weshalb denn nicht über Piccadilly, möchte ich wissen?« fragte Henrietta.
Konnte ich es ihr sagen? Konnte ich ihr die düstere Ahnung gestehen, die mein Gemüt beschattete? Konnte ich ihr verständlich machen, was in mir vorging? Nein.
»Ich liebe Piccadilly nicht, Henrietta.«
»Aber ich«, sagte sie. »Es ist jetzt Abend, und ich finde die langen Lampenreihen in Piccadilly am Abend schön. Ich will nach Piccadilly gehen!«
So gingen wir natürlich. Es war ein schöner Abend und die Straßen waren sehr belebt. Die Luft war zwar frisch, aber nicht zu kalt und nicht feucht. Gestatten Sie mir die dunkle Andeutung, daß es gerade der richtige Abend war – für diesen Zweck.
Als wir an der Gartenmauer des königlichen Palastes auf dem Grosvenor Place entlanggingen, murmelte Henrietta:
»Ich wollte, ich wäre eine Königin!«
»Weshalb denn, Henrietta?«
»Ich würde dich zu etwas machen«, sagte sie und faltete beide Hände über meinem Arm, während sie den Kopf abwandte.
Ich schloß aus diesen Worten, daß die sanfteren Gefühle, von denen oben die Rede war, sich eingestellt hatten, und benahm mich dementsprechend. So kamen wir, von Seligkeit erfüllt, auf die verabscheute Straße von Piccadilly. Auf dieser Straße befindet sich rechter Hand eine Baumreihe, das Gitter des Green Parks und ein schönes, breites, sehr gut brauchbares Stück Pflaster.
»O mein Gott!« rief Henrietta nach einigen Augenblicken aus. »Es ist etwas passiert!«
Ich blickte nach links und sagte: »Wo, Henrietta?«
»Nicht dort, du Dummkopf!« sagte sie. »Da drüben am Parkgitter. Wo die Leute stehen. Aber nein, es ist gar nichts passiert, es gibt da bloß was zu sehen! Was sind das für Lichter?«
Sie meinte zwei Lichter, die tief unten zwischen den Beinen der Menge flimmerten: zwei Kerzen auf dem Pflaster.
»Ach, komm doch!« rief Henrietta, mit mir über die Straße hüpfend. Ich suchte sie zurückzuhalten, aber es war vergebens. »Wir wollen uns das mal ansehen!«
Wiederum Zeichnungen auf dem Pflaster. In der mittleren Abteilung der Vesuv in voller Tätigkeit (in einem Kreis), daneben vier ovale Abteilungen, jede mit einem besonderen Bild, nämlich einem Schiff bei stürmischer See, einer Hammelkeule mit zwei Gurken, einem goldenen Ährenfeld mit der Hütte des Besitzers in einiger Entfernung und einem naturgetreu wiedergegebenen Besteck von Messer und Gabel; über der mittleren Abteilung befand sich ein Traubenbüschel, und über alles spannte sich ein Regenbogen. Meiner Meinung nach war es ganz vortrefflich ausgeführt.
Der Mann, der diese Zeichnungen betreute, war in jeder Hinsicht, mit Ausnahme des schäbigen Äußeren, dem vorigen Individuum unähnlich. Sein ganzes Aussehen und Auftreten war voller Lebendigkeit. Obwohl in abgetragenen Kleidern, erzählte er der Menge, daß die Armut ihn nicht gebrochen hätte und er sich keineswegs schäme, auf diese ehrliche Weise einigen Nutzen aus seinen Talenten zu ziehen. Die Beschriftung, die zu seinen Zeichnungen gehörte, war in einem ähnlichen zuversichtlichen Ton gehalten. Folgendes war ihr Inhalt:
»Der Schreiber ist arm, aber nicht verzagt. Er wendet sich an das britische 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 Publikum. Ehre unserer braven Armee! Und auch 0 9 8 7 6 5 4 3 2 1 unserer tapferen Marine. Briten, streikt! Der A B C D E F G Schreiber mit Kreide würde für eine passende Anstellung dankbar sein. Die Heimat! Hurra!«
Meiner Meinung nach war diese Schrift ganz vortrefflich ausgeführt.
In einer Beziehung aber verhielt sich dieser Mann so wie der vorige. Während er nämlich mit einem großen Aufwand von Papiertüten und Wischtüchern scheinbar eifrig bei der Arbeit war, verstärkte er in Wirklichkeit nur hier und da den Grundstrich eines Buchstabens oder blies die überschüssige Kreide von dem Regenbogen weg oder schattierte den äußeren Rand der Hammelkeule. Das tat er zwar mit großer Sicherheit, aber (wie mir auffiel) so ungeschickt, daß er alles verdarb, was er anrührte. Als er sich deshalb über den purpurnen Rauch, der aus dem Schornstein der entfernten Hütte des Besitzers des goldenen Ährenfeldes aufstieg, hermachen wollte – es war ein schön weich gezeichneter Rauch –, sagte ich auf einmal:
»Laßt das bleiben, versteht Ihr?«
»Holla!« sagte der Mann, der in der Menschenmenge mir zunächst stand, indem er mich rücksichtslos mit dem Ellbogen wegstieß, »warum habt Ihr kein Telegramm geschickt? Wenn wir gewußt hätten, daß Ihr kämt, dann hätten wir etwas Besseres für Euch vorbereitet. Ihr versteht Euch wohl besser auf die Arbeit des Mannes als er selbst, was? Habt Ihr schon Euer Testament gemacht? Ihr seid zu gescheit, um lange leben zu können.«
»Seien Sie nicht hart gegen den Gentleman, Sir«, sagte der Mann, der die Kunstwerke betreute, während er mir zublinzelte; »vielleicht ist er selbst ein Künstler. Wenn das der Fall ist, Sir, so wird er ein kollegiales Verständnis dafür haben, Sir, wenn ich« – er ließ seinen Worten stets die Tat folgen, während er fortfuhr; nach jedem Strich, den er tat, schlug er scharf die Hände zusammen und die ganze Zeit über kroch er unablässig um die Zeichnungen herum und herum – »den Hauch auf meinen Weintrauben ein wenig aufhelle – das Orange in meinem Regenbogen dunkler mache – das i in meinen Briten mit einem Punkt versehe – meiner Gurke einen gelblichen Schimmer verleihe – in meine Hammelkeule noch ein Stückchen Fett einfüge – auf mein Schiff in Not noch einen Zickzack-Blitz herabfahren lasse!«
Er schien das so geschickt zu tun und war so flink bei der Arbeit, daß die Halbpencestücke nur so flogen.
»Dank, edles Publikum, Dank!« sagte der Professor. »Sie ermutigen mich zu weiteren Anstrengungen. Mein Name wird noch in der Liste der britischen Maler stehen. Da ich Ermutigung finde, werde ich noch bessere Sachen als diese fertigbringen. Das werde ich wahrhaftig.«
»Ihr könnt nichts Besseres fertigbringen als dieses Traubenbüschel«, sagte Henrietta. »Oh, Thomas, diese Trauben!«
»Nichts Besseres als dies, Lady? Ich hoffe auf die Zeit, wo ich alles lebenswahr werde malen können, ausgenommen Ihre leuchtenden Augen und frischen Lippen.«
»(Thomas, hast du das gehört?) Aber es muß lange dauern, Sir«, sagte Henrietta errötend, »bis man so malen kann.«
»Ich war in der Lehre, Miß«, sagte der junge Mann, indem er die Zeichnungen mit flinken Bewegungen weiter verbesserte – »ich war in der Lehre in den Höhlen von Spanien und Portugal eine lange Zeit und noch zwei Jahre drüber.«
Ein Gelächter erschallte aus der Menge, und ein neu Dazugekommener, der sich bis an meine Seite gedrängt hatte, sagte:
»Er ist dabei auch ein schneidiger Kerl, was?«
»Und welch ein Auge!« rief Henrietta leise.
»Ah! Das muß er auch haben«, sagte der Mann.
»Ah! Das muß er«, murmelte es unter der Menge.
»Er hätte diesen brennenden Berg hier nicht ohne ein solches Auge fertigkriegen können«, sagte der Mann. Er hatte es irgendwie dazu gebracht, daß er als eine Autorität angesehen wurde, und man blickte auf seinen Finger, der auf den Vesuv hinwies. »Diese Wirkung an allgemeiner Beleuchtung fertigzukriegen, dazu braucht er schon ein Auge; aber es mit zwei Strichen fertigzukriegen – das ist wahrhaftig genug, um ihn blind zu machen!«
Während dieser Betrüger sich stellte, als habe er diese Worte nicht gehört, zwinkerte er jetzt derartig mit beiden Augen zugleich, daß es den Eindruck machte, als seien sie schrecklich überanstrengt. Zugleich warf er sein langes Haar zurück – es war sehr lang –, als wolle er seine fiebrige Stirn kühlen. Ich beobachtete ihn dabei, als Henrietta mir plötzlich zuflüsterte: »Oh, Thomas, was für ein entsetzliches Gesicht du machst!« und mich am Arm aus der Menge zog.
Mir fielen Mr. Clicks Worte ein, und ich erwiderte verwirrt:
»Was meinst du mit entsetzlich?«
»Ach du lieber Himmel! Du sahst gerade so aus«, sagte Henrietta, »als ob du nach seinem Blut verlangtest.«
Ich wollte gerade antworten: »Ja, das möchte ich auch haben, für zwei Pence – aus seiner Nase«, als ich mich besann und schwieg.
Wir gingen schweigend nach Hause. Mit jedem Schritt, den wir zurücklegten, ebbten die sanfteren Gefühle, die sich eingestellt hatten, mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen in der Stunde wieder ab. Genauso wie ich vorhin, als die Gefühle sich eingestellt hatten, mich dementsprechend benommen hatte, so paßte ich jetzt mein Verhalten der neuen Sachlage an und ließ meinen Arm so schlaff herabhängen, daß sie sich kaum daran festhalten konnte. Als wir uns trennten, sagte ich ihr so kalt gute Nacht, daß ich diesen Abschied, ohne zu übertreiben, als eine Eisdusche charakterisieren kann.
Im Laufe des nächsten Tages erhielt ich das folgende Schreiben:
Henrietta teilt Thomas mit, daß mir die Augen in bezug auf Euch geöffnet wurden. Ich wünsche Euch alles Glück, aber Miteinandergehen und wir – dazwischen liegt ein unüberbrückbarer Abgrund. Jemand, der so neidisch auf Überlegenheit ist – oh, jener Blick auf ihn! – kann niemals ein Führer sein für
Henrietta
Nachschrift: Zum Altar.
Meiner leichtlebigen Gemütsart nachgebend, legte ich mich nach dem Empfang dieses Briefes auf eine Woche ins Bett. Während dieser ganzen Zeit mußte London die gewohnten Früchte meiner Arbeit entbehren. Als ich sie wiederaufnahm, machte ich die Entdeckung, daß Henrietta mit dem Künstler von Piccadilly verheiratet war.
Sagte ich, mit dem Künstler? Welch unheilvolle Worte waren das, voll giftiger Falschheit und bitterem Hohn! Ich – ich – ich bin der Künstler. Ich war der wirkliche Künstler von Piccadilly, ich war der wirkliche Künstler von Waterloo Road, ich bin der einzige Urheber aller jener Pflasterzeichnungen, die alltäglich und allnächtlich Ihre Bewunderung erregen. Ich stelle sie her und vermiete sie dann. Der Mann, den Sie mit den Tüten voll bunter Kreide und den Wischlappen sehen, wie er die Grundstriche der Beschriftung nachzieht und die Umrisse des Lachses schattiert, der Mann, der den Ruhm einheimst, der Mann, der das Geld einheimst, mietet – ja, so ist es, und ich muß es erleben, es zu erzählen! – mietet diese Kunstwerke von mir und bringt nichts dazu als die Kerzen.
Das ist das Schicksal des Genies in einem Handelsstaat. Ich bringe das Zittern nicht fertig, ich bringe die Lebhaftigkeit nicht fertig, ich bringe die Faxen mit dem Anstellungsuchen in einem Kontor nicht fertig; ich kann bloß die Kunstwerke entwerfen und ausführen. Infolgedessen bekommen Sie mich nie zu sehen; Sie glauben, Sie sähen mich, wenn Sie jemand anders sehen, und dieser andere ist ein bloßer Kaufmann. Der eine, den ich und Mr. Click in der Waterloo Road sahen, kann nur ein einziges Wort schreiben, und dieses habe ich ihm beigebracht. Es ist das Wort Multiplikation, das Sie ihn von unten nach oben schreiben sehen können, weil er es richtig nicht fertigbringt. Der andere, den ich und Henrietta am Geländer des Green Parks sahen, kann gerade die beiden Enden eines Regenbogens mit seiner Manschette und einem Wischlappen hinschmieren, wenn er sehr dringend dazu genötigt ist, sich zu zeigen. Aber er könnte, und wenn es ihm ans Leben ginge, ebensowenig den Bogen des Regenbogens fertigkriegen wie das Mondlicht, den Fisch, den Vulkan, den Schiffbruch, die Hammelkeule, den Eremiten oder irgendeinen anderen der gefeiertsten Effekte.
Um zu schließen, wie ich begonnen habe: Wenn es einen Mann der Öffentlichkeit gibt, der vom Schicksal geschlagen ist, so bin ich es. Und sooft Sie schon meine Werke gesehen haben, sie jetzt sehen und noch sehen werden, so ist die Wahrscheinlichkeit doch wie eins zu fünfzigtausend, daß Sie jemals mich selbst zu Gesicht bekommen werden. Höchstens könnten Sie einmal zufällig, wenn die Kerzen ausgebrannt sind und der Kaufmann fort ist, einen unbeachteten jungen Mann wahrnehmen, der sorgfältig die letzten Spuren der Zeichnungen ausreibt, so daß niemand sie erneuern kann. Das bin ich.
* * *
Der Leser wird sich schon längst gedacht haben, daß ich die vorstehenden Blätter verkauft habe. Aus der Tatsache, daß sie hier abgedruckt sind, wird er den Schluß gezogen haben, daß ich sie an jemand verkauft habe, der noch niemals+… Der Rest dieser schmeichelhaften Bemerkung wurde von der Redaktion gestrichen.
Nachdem ich diese Schriften zu sehr günstigen Bedingungen losgeworden war, nahm ich meine gewöhnlichen Beschäftigungen wieder auf. Aber ich machte nur zu bald die Entdeckung, daß der Seelenfrieden von einer Stirn entflohen war, der bis dahin die Zeit nur das Haar geraubt hatte, während im Innern alles in ungestörter Ruhe geblieben war.
Es wäre überflüssig, es verhüllen zu wollen – die Stirn, von der ich spreche, ist meine eigene.
Ja, um diese Stirn sammelten sich schwere Sorgen, wie der schwarze Fittich des Vogels in der Fabel, die – die zweifellos jeder Rechtlichgesinnte in Erinnerung haben wird. Wenn nicht, dann kann ich mich unter dem Druck des Augenblicks nicht auf Einzelheiten darüber einlassen. Der Gedanke, daß die Schriften jetzt unweigerlich in Druck gehen würden und daß er noch leben und darauf stoßen könnte, lag wie ein Alpdrücken auf meinem gehetzten Gewissen. Die Spannkraft meines Gemüts war dahin. Nutzlos war die Flasche, mochte es Wein oder Medizin sein. Ich versuchte es mit beidem, aber beides wirkte auf mein Nervensystem jämmerlich deprimierend.
Diese Niedergeschlagenheit hatte sich meiner zum erstenmal bemächtigt, als ich zu überlegen begann, was ich bloß sagen sollte, wenn er – der Unbekannte – eines Tages im Kaffeezimmer auftauchen und Schadenersatz verlangen sollte. So ging ich denn umher, als ich eines Vormittags im vergangenen November einen Wink erhielt, den, wie es schien, mir der Finger des Schicksals und der des Gewissens gemeinschaftlich zuteil werden ließen. Ich war allein im Kaffeezimmer, hatte gerade das Feuer zu einer Flamme geschürt und stand, ihm den Rücken zukehrend, davor und versuchte zu ergründen, ob die Hitze einen besänftigenden Einfluß auf die Stimme im Innern geltend machen würde. Auf einmal sah ich einen jungen Mann mit einer Mütze und einem intelligenten Gesicht (obwohl sein Haar dringend hätte geschnitten werden müssen) vor mir.
»Mr. Christopher, der Oberkellner?«
»Derselbe.«
Der junge Mann schüttelte sich die Haare, die ihn am Sehen hinderten, aus dem Gesicht und zog ein Paket aus der Brusttasche hervor. Dieses händigte er mir, die Augen durchbohrend auf mich gerichtet (oder kam es mir vielleicht bloß so vor?) mit folgenden Worten aus:
»Die Korrekturen.«
Obwohl ich fühlte, wie das Feuer meine Rockschöße zu versengen begann, besaß ich doch nicht die Kraft, meine Stellung zu wechseln. Der junge Mann legte das Paket in meine zitternde Hand und wiederholte höflich:
»Die Korrekturen.«
Mit diesen Worten schied er.
Ich öffnete das Paket und fand darin die vorstehend wiedergegebenen Geschichten gedruckt, geradeso wie sie der Leser (darf ich sagen, der verständnisvolle Leser?) gelesen hat. Doch das verschaffte mir keine Beruhigung. Es war ja auch nur der Beweis, daß ich die Schriften verkauft hatte.
Meine Angst wurde von Tag zu Tag schlimmer. Ich hatte an die drohende Gefahr der Veröffentlichung gedacht, als bereits alles gedruckt war. Das Honorar wiederzuerstatten, um die Vereinbarung rückgängig zu machen und so das Erscheinen zu verhindern, daran war nicht zu denken. Meine Familie war in alle Winde zerstreut; Weihnachten stand vor der Tür; einen Bruder im Krankenhaus und eine Schwester mit Rheumatismus konnte ich nicht ganz vernachlässigen. Und nicht allein diese beiden rechneten auf das Einkommen eines in seiner Tätigkeit ganz auf sich selbst gestellten Kellners. Ein Bruder ohne Anstellung und ein Bruder ohne Geld, um einen Wechsel zu bezahlen, und ein Bruder, der den Verstand verloren hatte, und ein Bruder, der in New York war (was nicht dasselbe ist, obgleich es so scheinen möchte) – sie alle hatten mir die Taschen gründlich geleert. Mein Gemütszustand verschlimmerte sich immer mehr. Die Korrekturen kamen mir nicht aus dem Sinn. Das Weihnachtsfest rückte näher, und sowie die Veröffentlichung erfolgt war, mußte ich stündlich befürchten, daß er mir im Kaffeezimmer auf einmal entgegentreten und beim Himmel und seinem Vaterland sein Recht fordern würde.
Die erschütternde und gänzlich unerwartete Katastrophe, die ich dem Leser (soll ich sagen, dem höchst verständnisvollen Leser?) oben dunkel andeutete, naht nun mit raschen Schritten heran.
Wir schrieben noch November, aber die letzten Echos des Guy Fawkes-Tags waren längst verklungen. Das Geschäft war flau – verschiedene Braten standen weit unter dem gewohnten Absatz und mit dem Wein ging es natürlich dementsprechend. Schließlich war die Flaute derartig geworden, daß die Zimmer Nummer 26, 27, 28 und 31, nachdem sie um sechs Uhr ihre verschiedenen Diners eingenommen und bei ihren verschiedenen Karaffen ein wenig geschlummert hatten, in ihren verschiedenen Droschken zu ihren verschiedenen Nachtzügen gefahren waren und uns gänzlich leer zurückgelassen hatten.
Ich hatte mir die Abendzeitung an den Tisch Nummer 6 genommen, der das wärmste und angenehmste Plätzchen ist, und war, in die höchst interessanten Tagesereignisse vertieft, eingeschlummert. Der wohlbekannte Ruf »Kellner!« brachte mich wieder zum Bewußtsein. Ich fuhr mit der Antwort »Sir!« empor und gewahrte einen Gentleman, der neben Tisch Nummer 4 stand. Der Leser (soll ich sagen, der aufmerksame Leser?) wird gebeten, besonders auf den Ort zu achten, wo der Gentleman stand – am Tisch Nummer 4.
Er hatte eine von den neumodischen nicht einknickenden Reisetaschen in der Hand (gegen die ich eine Abneigung habe, denn ich sehe nicht ein, weshalb wir nicht einknicken sollten, wie unsere Väter vor uns eingeknickt sind), und er sagte:
»Ich möchte speisen, Kellner. Ich bleibe über Nacht hier.«
»Sehr wohl, Sir. Was wünschen Sie zum Diner, Sir?«
»Suppe, ein Stückchen Kabeljau mit Austernsauce und Braten.«
»Sehr wohl, Sir.«
Ich läutete nach dem Zimmermädchen, und Mrs. Pratchett trat ein, wie üblich mit ernstem Gesicht eine angezündete flache Kerze vor sich hertragend. Es sah aus, als gehörte sie zu einer langen öffentlichen Prozession, deren übrige Teilnehmer unsichtbar wären.
Inzwischen war der Gentleman an den Kaminsims gerade vor das Feuer getreten und hatte seine Stirn darauf gelegt. Es war ein niedriger Kamin, und so sah es aus, als stelle er sich zum Bockspringen für jemand hin. Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust. Sein Haar war lang und von heller Farbe, und als er seine Stirn auf den Kaminsims legte, fiel es ihm in wirrem Durcheinander über die Augen. Als er sich aber daraufhin umwandte und den Kopf wieder erhob, fiel es ihm in wirrem Durcheinander über die Ohren. Dies gab ihm ein wildes Aussehen, wie eine vom Sturm verwüstete Heide.
»Oh! Das Zimmermädchen. Ah!« Er stand da und sann über etwas nach. »Ganz richtig. Ja. Ich will jetzt nicht hinaufgehen. Nehmen Sie bloß meine Tasche. Es genügt für den Augenblick, wenn ich meine Nummer weiß. – Können Sie mir 24 B geben?«
(O Gewissen, was bist du für eine Natter!)
Mrs. Pratchett gab ihm das Zimmer und nahm die Reisetasche mit hinauf. Darauf ging er an das Feuer zurück und begann an den Fingernägeln zu kauen.
»Kellner!« zwischen den Worten an den Nägeln kauend, »geben Sie mir«, kauend, »Papier und Feder; und in fünf Minuten«, kauend, »besorgen Sie mir bitte«, kauend, »einen«, kauend, »Boten.«
Ohne auf seine kaltwerdende Suppe zu achten, schrieb er, bevor er sein Diner anrührte, sechs Briefe und schickte sie ab. Drei gingen nach der City und drei nach Westen. Die City-Briefe waren für Cornhill, Ludgate Hill und Farringdon Street bestimmt. Die Briefe nach dem Westen gingen nach Great Marlborough Street, New Burlington Street und Piccadilly. An jedem der sechs Orte ließ sich der Empfänger systematisch verleugnen, und es gab keine Spur von einer Antwort. Unser Bote flüsterte mir zu, als er zurückkam: »Alles Buchhändler.«
Inzwischen war er jedoch mit seinem Diner und seiner Weinflasche fertig geworden. Er warf jetzt in der Aufregung mit dem Ellbogen einen Teller mit Biskuit vom Tisch herunter – achten Sie auf die Übereinstimmung mit den in der Rechnung angeführten Tatsachen! –, ohne ihn freilich zu zerbrechen, und verlangte Brandy mit heißem Wasser.
Ich war jetzt vollkommen überzeugt, daß er es war, und der Schweiß floß nur so von mir herab. Angeregt von dem erwähnten heißen Getränk, verlangte er wiederum Papier und Feder und verbrachte die folgenden zwei Stunden mit der Anfertigung eines Manuskripts, das er nach Vollendung ins Feuer warf. Dann ging er, von Mrs. Pratchett gefolgt, auf sein Zimmer, um sich schlafen zu legen. Mrs. Pratchett, die meinen aufgeregten Zustand bemerkte, sagte mir beim Herunterkommen, daß sie sein Auge in jeden Winkel der Korridore und der Treppe hätte gleiten sehen, als suche er sein Gepäck. Als sie sich dann beim Schließen der Tür von 24 B noch einmal umwandte, hätte er bereits seinen Rock abgelegt gehabt und wäre gerade im Begriff gewesen, unter die Bettstelle zu kriechen, wie ein Schornsteinfeger, bevor er in die Esse kriecht.
Am nächsten Tag – ich will die Qualen der Nacht mit Stillschweigen übergehen – war es in unserem Teil Londons so neblig, daß das Gas im Kaffeezimmer angezündet werden mußte. Wir waren immer noch allein, und kein fiebriges Wort kann die Unruhe seiner Erscheinung genügend beschreiben, während er am Tisch Nummer 4 saß; wozu noch kam, daß etwas mit dem Gas nicht in Ordnung war.
Nachdem er wiederum sein Diner bestellt hatte, ging er aus und blieb fast zwei Stunden fort. Bei seiner Rückkehr fragte er, ob eine Antwort da wäre, und da dies gänzlich verneint wurde, verlangte er unverzüglich nach Geflügelsuppe mit Cayennepfeffer und Orangenbrandy.
Da ich fühlte, daß der Kampf auf Leben und Tod jetzt bevorstand, hielt ich es für richtig, dafür zu sorgen, daß ich ihm auch an Kräften gewachsen wäre. Deshalb beschloß ich, alles zu genießen, was er genießen würde. So nahm ich denn hinter meinem Wandschirm, aber immer mit einem Auge auf ihn, Geflügelsuppe mit Cayennepfeffer und Orangenbrandy zu mir. Und als er später am Tag nochmals Orangenbrandy sagte, sagte ich das gleiche in leiserem Ton zu George, meinem zweiten Leutnant (mein erster hatte Urlaub), der zwischen mir und dem Büfett vermittelt.
Den ganzen entsetzlichen Tag lang ging er ständig im Kaffeezimmer auf und ab. Er kam oft in die nächste Nähe meines Wandschirms, und dann rollten seine Augen, nur zu deutlich auf der Suche nach einer Spur von seinem Gepäck. Es wurde halb sieben und ich deckte den Tisch für ihn. Er bestellte eine Flasche alten braunen Portwein. Auch ich bestellte eine Flasche alten braunen Portwein. Er trank seine Flasche. Ich trank meine Flasche, soweit es mir meine Pflichten gestatteten, Glas für Glas wie er die seinige. Er schloß mit Kaffee und einem Schnäpschen. Ich schloß mit Kaffee und einem Schnäpschen. Er schlummerte. Ich schlummerte. Schließlich »Kellner!« – und die Rechnung. Jetzt stand der Augenblick bevor, wo wir in tödlicher Umklammerung aneinandergeraten mußten.
So rasch, wie der Pfeil vom Bogen fliegt, hatte ich meinen Entschluß gefaßt; oder anders ausgedrückt, ich hatte ihn zwischen neun und neun ausgehämmert. Er bestand darin, daß ich meinerseits zuerst den Gegenstand zur Sprache bringen und ein volles Geständnis ablegen wollte; gleichzeitig wollte ich mich erbieten, ihm jeden beliebigen Schadenersatz in Teilzahlungen zu leisten, der mir möglich wäre. Er zahlte seine Rechnung (wobei er der Bedienung gegenüber seine volle Pflicht tat), während seine Augen bis zuletzt umherrollten, ob er nicht eine Spur von seinem Gepäck entdecke. Ein einziges Mal begegneten sich unsere Blicke dabei mit der glänzenden Starrheit (ich glaube, ich begehe mit diesem Vergleich keinen Fehler), des wohlbekannten Basilisken.
Mit leidlich fester Hand, wenn auch mit Unterwürfigkeit, legte ich die Korrekturbogen vor ihn hin.
»Barmherziger Himmel!« rief er, indem er aufsprang und sich an den Haaren faßte. »Was ist das? Druckschrift!«
»Sir«, erwiderte ich mit begütigender Stimme, indem ich mich über ihn beugte, »ich gestehe demütig, daß ich die unglückliche Veranlassung dazu bin. Aber ich hoffe, Sir, daß, wenn ich Ihnen erst die Umstände und die vollkommene Harmlosigkeit meiner Absichten erklärt habe+…«
Zu meinem größten Erstaunen unterbrach er meine Rede, indem er mich in beide Arme schloß und an sein Brustbein preßte. Ich muß gestehen, daß dabei mein Gesicht (im besonderen meine Nase) kurze Zeit in einer sehr unangenehmen Lage war, weil er seinen Rock bis oben zugeknöpft hatte und seine Knöpfe ungewöhnlich hart waren.
»Ha, ha, ha!« rief er, mich mit einem wilden Lachen aus seinen Armen lassend und meine Hand ergreifend. »Wie ist Ihr Name, mein Wohltäter?«
»Mein Name, Sir« (ich war in der höchsten Verlegenheit, wie ich ihn verstehen sollte), »ist Christopher und ich hoffe, Sir, daß, als solcher, wenn Sie meine Erklärungen vernom…«
»Gedruckt!« rief er wiederum aus, die Korrekturbogen hin und her werfend, als ob er sich in ihnen baden wollte. »Gedruckt!! O Christopher! O Menschenfreund! Keine Belohnung ist würdig genug für Sie – aber welche Summe würde Ihnen annehmbar erscheinen?«
Ich war einen Schritt zurückgetreten, andernfalls hätte ich wieder unter seinen Knöpfen zu leiden gehabt.
»Sir, ich versichere Ihnen, ich habe bereits eine gute Bezahlung erhalten und+…«
»Nein, nein, Christopher! Reden Sie nicht so! Welche Summe würde Ihnen annehmbar erscheinen, Christopher? Würden Ihnen zwanzig Pfund annehmbar scheinen?«
So groß auch meine Überraschung war, fand ich doch natürlich die Worte:
»Sir, soviel ich weiß, gab es noch keinen Menschen, der nicht mit mehr als der durchschnittlichen Menge Wasser im Kopf geboren wurde, der zwanzig Pfund nicht annehmbar gefunden hätte. Jedoch – ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, Sir« – er hatte das Geld eilig aus seiner Börse herausgeschüttelt und es mir in zwei Banknoten in die Hand gedrückt –, »jedoch möchte ich gern wissen, Sir, wenn ich damit nicht lästig falle, wodurch ich diese Freigebigkeit verdient habe.«
»So erfahren Sie denn, mein Christopher«, erwiderte er, »daß ich mich von Kindheit an unablässig, aber erfolglos bemüht habe, gedruckt zu werden. Erfahren Sie, Christopher, daß alle lebenden und einige tote Verleger sich geweigert haben, mich zu drucken. Erfahren Sie, Christopher, daß ich ganze Stapel von Papier, die nicht gedruckt sind, vollgeschrieben habe. Aber sie sollen Ihnen vorgelesen werden, mein Freund und Bruder. Sie haben manchmal einen freien Tag?«
Da ich die große Gefahr sah, in der ich schwebte, brachte ich die Geistesgegenwart auf zu antworten: »Niemals!« Um ihm jede Hoffnung zu nehmen, fügte ich hinzu: »Niemals! Von der Wiege bis zum Grab nicht!«
»Nun gut«, sagte er, diesen Gedanken aufgebend und wieder über seinen Korrekturbogen kichernd. »Aber ich bin gedruckt! Der Flug des Ehrgeizes, der sich zuerst aus meines Vaters niederer Hütte erhob, ist endlich verwirklicht! Der goldene Bogen« – so fuhr er in seinen Schwärmereien fort –, »von zauberischer Hand berührt, hat einen vollkommen reinen Laut ertönen lassen! Wann trug sich dies zu, mein Christopher?«
»Was, Sir?«
»Dieser«, er hielt die Korrekturbogen in Armlänge vor sich hin, um sie zu bewundern – »dieser Drrruck.«
Als ich ihm ausführlichen Bericht darüber erstattet hatte, ergriff er abermals meine Hand und sagte:
»Teurer Christopher, das Bewußtsein sollte Ihnen guttun, daß Sie ein Werkzeug in der Hand des Schicksals sind. Denn das sind Sie.«
Eine vorübergehende melancholische Anwandlung ließ mich den Kopf schütteln und sagen:
»Vielleicht sind wir das alle.«
»Das meine ich nicht«, erwiderte er. »Ich spreche nicht im allgemeinen, sondern beziehe mich bloß auf diesen Einzelfall. Hören Sie gut zu, Christopher! Ich hatte jede Hoffnung aufgegeben, durch meine eigenen Bemühungen jemals eines der Manuskripte in meinem Gepäck loszuwerden. Wohin ich sie auch schickte, sie kamen stets wieder zurück, und so ließ ich denn vor etwa sieben Jahren dieses Gepäck hier, in der verzweifelten Hoffnung, daß entweder die allzu getreuen Manuskripte nicht mehr zu mir zurückkommen würden, oder daß jemand, der nicht so verflucht ist wie ich, sie eines Tages der Welt schenken würde. Sie folgen mir, mein Christopher?«
»Ganz gut, Sir.«
Ich folgte ihm so weit, um zu verstehen, daß er einen schwachen Kopf hatte und daß der Orangenlikör, der heiße Brandy und der alte braune Portwein zusammen auf ihn zu wirken begannen. (Der alte Braune, der sehr berauschend ist, eignet sich am besten für hartnäckige Fälle.)
»Jahre vergingen, während deren diese Werke im Staub schlummerten. Schließlich erwählte das Schicksal sein Werkzeug unter der gesamten Menschheit und sandte Sie hierher, Christopher! Und, o Wunder!, der Schrein barst auseinander, und der Schatz war frei!«
Als er dies gesagt hatte, zerzauste er sein Haar, wobei er auf den Zehenspitzen stand.
»Aber«, erinnerte er sich, während er in Erregung geriet, »wir müssen die ganze Nacht durch wach bleiben, mein Christopher. Ich muß diese Bogen korrigieren. Füllen Sie alle Schreibzeuge mit Tinte und bringen Sie mir einige neue Federn.«
Er bekleckerte sich selbst und bekleckerte die Korrekturbogen die ganze Nacht hindurch derartig mit Tinte, daß, als der Sonnengott ihm anzeigte, es sei Zeit zum Scheiden (was er in einer vierrädrigen Kutsche tat), man schwer hätte sagen können, was sie wären und was er wäre und was Kleckse wären. Seine letzte Weisung war, daß ich mich sofort auf den Weg machen und seine Korrekturbogen im Kontor des Verlages abgeben sollte. Das tat ich. Sie werden aber wahrscheinlich nicht erscheinen, denn, während ich diese abschließenden Zeilen aufs Papier warf, kam eine Nachricht aus der Beauford-Druckerei, daß die gesamte Belegschaft nicht herausbekommen könnte, was sie bedeuten sollten. Worauf ein bestimmter Gentleman aus der Firma, den ich nicht weiter nennen will, lachte und die Korrekturbogen ins Feuer warf.
* * *