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Drei Äste
»The Holly Tree«
Ich habe im Laufe meines Lebens ein einziges Geheimnis in meiner Brust verschlossen. Ich bin ein schüchterner Mensch. Niemand würde es glauben, niemand glaubt es jetzt von mir, niemand hat es jemals geglaubt, aber ich bin eben von Natur aus schüchtern. Das ist das Geheimnis, das ich bis jetzt keiner Seele anvertraut habe.
Ich könnte den Leser in tiefe Rührung versetzen, wenn ich ihm die zahllosen Orte nennen würde, wo ich nicht gewesen bin, die zahllosen Leute, die ich nicht besucht oder zu mir eingeladen habe, die zahllosen gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen ich mich unberechtigterweise entzogen habe – alles nur, weil ich nach Anlage und Charakter ein schüchterner Mensch bin. Aber ich will den Leser ungerührt lassen und mich an die Ausführung dessen machen, was meine Absicht ist.
Diese Absicht besteht darin, einen klaren Bericht über meine Reisen und Entdeckungen in dem Gasthaus zur Stechpalme zu geben. In diesem Haus, in dem Mensch und Vieh gut aufgehoben sind, war ich einstmals eingeschneit.
Es war in dem denkwürdigen Jahr, als ich für immer von Angela Leath schied, die ich in Kürze heiraten sollte. Ich hatte die Entdeckung gemacht, daß sie meinen besten Freund vorzog. Seit unserer Schulzeit hatte ich in meinem Innern bereitwillig zugegeben, daß Edwin mir weit überlegen war. So hatte ich denn das Gefühl, daß es ganz natürlich war, wenn sie ihm den Vorzug gab, und ich bemühte mich, beiden zu verzeihen. In dieser Lage beschloß ich, nach Amerika zu gehen – denn sonst ging ich zum Teufel.
Ich ließ mir weder Angela noch Edwin gegenüber von meiner Entdeckung etwas anmerken, sondern beschloß, ihnen einzeln einen rührenden Brief zu schreiben, der meinen Segen und meine Vergebung enthielt. Das Begleitschiff, das die Verbindung mit dem Ufer herstellte, sollte ihn zur Post bringen, wenn ich selbst schon auf der Reise nach der Neuen Welt war und nicht mehr zurückgerufen werden konnte. In dieser Weise meinen Schmerz in meine Brust verschließend und mich, so gut es ging, mit dem Gedanken an meine Großmut tröstend, verließ ich still alles, was mir teuer war, und trat die traurige Fahrt an, die ich vorhatte.
Es war die trostloseste Zeit mitten im Winter, als ich um fünf Uhr morgens für immer meine Junggesellenwohnung verließ. Ich hatte mich natürlich bei Kerzenlicht rasiert; mich fror jämmerlich, und ich empfand jenes alles andere verdrängende Gefühl, als sei ich aufgestanden, um gehängt zu werden, ein Gefühl, das meiner Erfahrung nach mit einem zu frühen Aufstehen unter solchen Umständen in der Regel verknüpft ist.
Wie gut erinnere ich mich noch des traurigen Anblicks der Fleet Street, als ich aus dem Stadtteil Temple kam! Die Straßenlaternen, die im stürmischen Nordostwind flackerten, als winde sich sogar das Gas unter der Kälte; die weißverschneiten Hausdächer; der kalte Himmel, an dem die Sterne funkelten; die Marktleute und anderen Frühaufsteher, die hin und her trabten, um ihr fast erstarrtes Blut in Bewegung zu halten; die wenigen Kaffee- und Wirtshäuser, die für solche Kundschaft offen waren und ihr Licht und gastfreundliche Wärme anboten; der harte, kalte, frostige Reif, mit dem die Luft beladen war (der Wind hatte ihn bereits in jede Ritze getrieben) und der mein Gesicht wie eine stählerne Peitsche traf.
Es waren noch neun Tage bis zum Ende des Monats und zum Ende des Jahres. Der Postdampfer nach den Vereinigten Staaten sollte bei günstigem Wetter am ersten des folgenden Monats von Liverpool ausfahren, und die Zwischenzeit stand mir zur freien Verfügung. Ich hatte das in Betracht gezogen und den Entschluß gefaßt, einen bestimmten Ort (dessen Name nichts zur Sache tut) in einer abgelegenen Gegend von Yorkshire zu besuchen. Er war mir teuer, weil ich dort in einem Landhaus Angela zum erstenmal gesehen hatte, und in meiner melancholischen Stimmung tat mir die Vorstellung wohl, vor dem Verlassen des Vaterlandes einen Winterabschied davon zu nehmen. Wie ich noch hinzufügen muß, hatte ich es zu verhindern gewußt, daß man mich aufsuchte, bevor mein Entschluß durch seine Ausführung unwiderruflich geworden war. Ich hatte nämlich am Abend zuvor in meinem gewöhnlichen Ton an Angela einen Brief geschrieben, in dem ich bedauerte, daß dringende Geschäfte, über die sie später Näheres erfahren sollte, mich gänzlich unerwartet für eine Woche oder zehn Tage von ihrer Seite rissen.
Damals gab es noch keine Nord-Eisenbahnlinie, sondern nur Postkutschen. Ich stelle mich, ebenso wie manche andere, noch heute gelegentlich so, als beklagte ich das Verschwinden der Postkutsche, aber in Wirklichkeit wurde sie damals von aller Welt als eine schwere Strafe gefürchtet. Ich hatte mir auf dem schnellsten dieser Vehikel den Sitz neben dem Kutscher gesichert und begab mich nach der Fleet Street, um mit meinem Koffer ein Cab zu besteigen, das mich zum »Pfauhahn« in Islington bringen sollte, von wo diese Postkutsche abfuhr. Auf dem Weg nach der Fleet Street erzählte mir einer unserer Wachmänner aus Temple, der meinen Koffer trug, daß die riesigen Eisblöcke, die seit einigen Tagen im Fluß trieben, in der Nacht eine geschlossene Decke gebildet hätten, über die man von den Temple Gardens bis zum Surrey-Ufer hinübergehen könnte. Als ich das hörte, begann ich mir doch die Frage zu stellen, ob der Kutschersitz meinem Unglück nicht ein plötzliches und frostiges Ende bereiten würde. Mein Herz war gebrochen, das ist wahr, aber es stand noch nicht ganz so schlimm um mich, daß ich mir gewünscht hätte, zu Tode zu erstarren.
Als ich im »Pfauhahn« anlangte – wo man zum Schutz gegen die Kälte Warmbier trank –, fragte ich, ob noch ein Sitz im Innern frei wäre. Da machte ich die Entdeckung, daß ich, drinnen oder draußen, der einzige Reisende war. Das gab mir eine noch lebhaftere Vorstellung davon, wie trostlos das Wetter war, da diese Kutsche sonst stets besonders gut besetzt war. Doch nahm ich ein wenig Warmbier zu mir (das ich ungewöhnlich gut fand) und stieg in die Postkutsche. Als ich Platz genommen hatte, packte man mich bis zur Hüfte in Stroh ein, und mit dem Bewußtsein, ziemlich komisch auszusehen, begann ich meine Reise.
Es war noch dunkel, als wir den »Pfauhahn« verließen. Dann tauchten eine kleine Weile blasse, unbestimmte Gespenster von Häusern und Bäumen auf und verschwanden wieder, und dann herrschte harter, finsterer, frostiger Tag. Die Hausbewohner machten Feuer in den Kaminen. Der Rauch stieg in geraden Säulen hoch in die dünne Luft, und wir polterten über den härtesten Boden, auf dem ich je das Geklapper von Hufeisen vernommen habe, dem Highgate-Tore zu. Als wir aufs freie Feld kamen, schien alles alt und grau geworden zu sein. Die Straßen, die Bäume, die Strohdächer der Hütten und Bauernhäuser, die Heuschober auf den Höfen. Alle Arbeiten im Freien ruhten, die Pferdetröge in den Wirtshäusern an der Straße waren hart gefroren, niemand trieb sich müßig herum, die Türen waren fest zugemacht, in den kleinen Häusern an den Schlagbäumen lohten helle Feuer, und Kinder (selbst Schlagbaumwärter haben Kinder und scheinen sie zu lieben) rieben mit ihren rundlichen Armen den Frost von den kleinen Glasscheiben, damit sie mit ihren hellen Augen die einsame Postkutsche beim Vorüberfahren betrachten konnten. Ich weiß nicht, wann es zu schneien begann; aber ich erinnere mich, daß wir gerade irgendwo die Pferde wechselten, als ich den Kondukteur die Bemerkung machen hörte, »daß die alte Dame im Himmel oben heute ihre Gänse recht tüchtig rupfe«. Da erst gewahrte ich, daß die weißen Daunen rasch und dicht fielen.
Der einsame Tag ging weiter, und ich brachte ihn mit Schlummern zu, wie es ein einsamer Reisender zu halten pflegt. Ich war warm und tapfer, wenn ich gegessen und getrunken hatte – besonders nach dem Diner; zu allen anderen Zeiten aber kalt und niedergeschlagen. Ich befand mich in ständiger Verwirrung in bezug auf Zeit und Ort und war immer mehr oder weniger von Sinnen. Die Kutsche und die Pferde schienen mir im Chor ununterbrochen »Die schöne alte Zeit« zu singen. Sie hielten mit der größten Regelmäßigkeit Takt und Melodie und führten die Steigerung zu Beginn des Kehrreims mit einer Genauigkeit aus, die mich zu Tode quälte. Während wir die Pferde wechselten, gingen der Kondukteur und der Kutscher stampfend auf der Landstraße hin und her und drückten die Spur ihrer Stiefel in den Schnee. Außerdem gossen sie so viel flüssigen Trost in sich hinein, ohne irgendwie davon angegriffen zu sein, daß ich sie, als die Dunkelheit wieder hereinbrach, für zwei große, weiße, aufrechtstehende Fässer zu halten begann. An einsamen Orten stürzten unsere Pferde gelegentlich und wir mußten sie wieder hochbringen – was die angenehmste Abwechslung war, die ich hatte, denn ich wurde dabei warm. Und die ganze Zeit über schneite und schneite und schneite es immerfort und wollte gar nicht wieder aufhören. So verbrachten wir die Nacht. So kamen wir auf der großen Landstraße nach Norden rund um das Zifferblatt, während Kutsche und Pferde wieder den ganzen Tag lang »Die schöne alte Zeit« sangen. Und es schneite und schneite und schneite immerfort und wollte gar nicht wieder aufhören.
Ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern, wo wir am zweiten Tag zu Mittag waren und wo wir hätten sein sollen. Aber ich weiß, daß wir um Dutzende von Meilen im Rückstand waren und daß es mit jeder Stunde schlimmer um uns wurde. Der Schnee wurde erstaunlich tief, Meilensteine waren nicht mehr zu sehen, die Landstraße und die Felder waren alles eins. Anstatt uns nach Zäunen und Hecken richten zu können, fuhren wir knirschend über eine ununterbrochene Fläche von unheimlichem Weiß dahin, die jeden Augenblick unter uns einsinken und uns eine ganze Hügelseite hinunterwerfen konnte. Aber der Kutscher und der Kondukteur, die auf dem Bock in steter Beratung beisammensaßen und scharf Ausschau hielten, fanden stets mit erstaunlichem Scharfsinn die Fahrbahn heraus.
Als wir in Sichtweite einer Stadt kamen, erschien sie mir wie eine große Zeichnung auf einer Schiefertafel, wobei auf die Kirchen und Häuser, auf denen der Schnee am dichtesten lag, am meisten Schieferstift verwendet zu sein schien. Fuhren wir aber in eine Stadt hinein und fanden, daß die Zifferblätter der Kirchenuhren ganz voller Schnee waren, so daß die Zeiger stillstanden und die Gasthausschilder unkenntlich waren, so kam es mir vor, als wäre der ganze Ort von weißem Moos überwachsen. Auch die Kutsche selbst war bloß noch ein Schneeball; ebenso waren die Männer und die Jungen, die bis zur Stadtgrenze neben uns herliefen und unsere gehemmten Räder drehten und die Pferde antrieben, Männer und Jungen aus Schnee; und die kalte, wilde Wüstenei, in die sie uns schließlich entließen, war eine beschneite Sahara. Man hätte denken können, das sei genug; und doch versichere ich auf mein Wort: Es schneite und schneite und schneite immerfort und wollte gar nicht wieder aufhören.
Den ganzen Tag lang sangen wir »Die schöne alte Zeit«; dabei sahen wir außerhalb der Städte und Dörfer nichts als die Spuren von Wieseln, Hasen, Füchsen und manchmal von Vögeln. Um neun Uhr abends weckte mich auf einem Moor in Yorkshire ein fröhliches Schmettern unseres Horns aus meiner Schläfrigkeit. Gleichzeitig schlug der willkommene Klang menschlicher Stimmen an mein Ohr, und schimmernde Laternen bewegten sich hin und her. Ich fand, daß wir dabei waren, die Pferde zu wechseln.
Man half mir aus der Kutsche, und ich fragte einen Kellner, dessen bloßes Haupt in einer einzigen Minute so weiß wie das des Königs Lear wurde:
»Was für ein Gasthaus ist das hier?«
»Die ›Stechpalme‹, Sir«, erwiderte er.
»Auf Ehrenwort«, sagte ich in entschuldigendem Ton zu dem Kondukteur und dem Kutscher, »ich glaube, ich muß hier haltmachen.«
Nun hatten sich bereits der Wirt, die Wirtin, der Hausknecht, der Postjunge und die gesamten Stallautoritäten unter der gespannten Aufmerksamkeit aller übrigen Hausangehörigen beim Kutscher erkundigt, ob er beabsichtige, die Reise fortzusetzen. Der Kutscher hatte schon erwidert, »ja, er würde sie durchbringen« – damit meinte er die Kutsche –, »wenn George bei ihm aushalten wolle«. George war der Kondukteur, und er hatte schon den Schwur geleistet, er wolle und werde bei ihm aushalten. Infolgedessen zogen die Helfer bereits die Pferde aus dem Stall.
Nach dieser Unterhaltung kam meine Ankündigung, daß ich ganz und gar zerschlagen sei und die Reise nicht fortsetzen könnte, nicht unerwartet. Ja, ich zweifle stark, ob ich es als ein von Natur schüchterner Mensch über mich gebracht hätte, die Erklärung abzugeben, wenn mir diese vorhergehende Unterhaltung nicht den Weg geebnet hätte. Unter den Umständen fand mein Entschluß sogar bei dem Kondukteur und dem Kutscher Beifall. Auch die Umstehenden bemerkten einer zum anderen, daß der Gentleman doch morgen mit der Post weiterfahren könne, während er heute nacht nur erfrieren würde, und wo wäre das Gute darin, wenn ein Gentleman erfröre oder gar lebendig begraben würde (wie ein humorbegabter Helfer als einen Scherz auf meine Kosten hinzufügte, womit er bei den Anwesenden großen Erfolg hatte). So wurde denn unter allgemeiner Billigung meines Entschlusses mein Koffer, steif wie ein gefrorener Leichnam, herausgehoben. Ich erwies mich bei dem Kondukteur und dem Kutscher auf die richtige Art erkenntlich und wünschte ihnen gute Nacht und glückliche Reise. Dann folgte ich, nach allem doch mit einem leisen Gefühl der Beschämung, weil ich sie in dem Kampf mit dem Wetter allein ließ, dem Wirt, der Wirtin und dem Kellner der »Stechpalme« die Treppe hinauf.
Ich glaubte niemals ein so großes Zimmer gesehen zu haben, wie das, welches man mir anwies. Es hatte fünf Fenster mit Vorhängen von einem so dunklen Rot, daß sie das Licht von einem ganzen Dutzend Sonnen absorbiert haben würden; und über den Vorhängen gab es noch komplizierte Übergardinen, die sich in höchst sonderbarer Weise an der ganzen Wand entlangzogen. Ich verlangte ein kleineres Zimmer, aber man sagte mir, es gäbe keins. Sie könnten mir aber einen Wandschirm ins Zimmer setzen, meinte der Wirt. Daraufhin wurde ein großer, alter, lackierter Wandschirm gebracht, auf dem ringsum Eingeborene (Japaner, glaube ich) abgebildet waren, die eine Menge idiotischer Dinge trieben. Mit diesem wurde ich mir selbst überlassen.
Zu meinem Schlafzimmer, das etwa einen halben Kilometer entfernt war, gelangte man über eine große Treppe am Ende einer langen Galerie; und niemand kann verstehen, was für eine Plage das für einen schüchternen Menschen ist, der es lieber vermeiden möchte, auf der Treppe Leuten zu begegnen. Es war das ungemütlichste Zimmer, in dem ich je vom Alpdrücken geplagt wurde, und sämtliche Möbel darin, von den vier Bettpfosten an bis zu den beiden alten silbernen Leuchtern, waren lang und schmal, mit hohen Schultern und spindeldürrer Mitte. Wagte ich es, unten in meinem Zimmer den Kopf zum Schirm hinauszustecken, so stürzte der Wind wie ein toller Stier auf mich los; blieb ich aber in meinem Lehnsessel, so röstete mich das Feuer, bis ich wie ein neugebrannter Ziegelstein aussah. Der Kaminsims war sehr hoch, und darüber hing ein schlimmer Spiegel – ich könnte ihn einen Wellenspiegel nennen –, der, wenn ich aufstand, mir gerade meine Stirn zeigte, und diese sieht bei keinem Menschen gut aus, wenn sie sich gerade an den Augenbrauen kurz abgeschnitten präsentiert. Wenn ich, den Rücken dem Feuer zugekehrt, dastand, zog die Dunkelheit, die über und jenseits des Wandschirms den großen Raum wie eine Gruft erfüllte, unwiderstehlich meine Augen an, während die in der Entfernung undeutlich zu unterscheidenden Übergardinen der zehn Vorhänge an den fünf Fenstern sich wie ein Nest voll ungeheurer Würmer krümmten und wanden.
Ich vermute, daß die Beobachtungen, die ich an mir selbst mache, auch von anderen Leuten ähnlichen Charakters an sich selbst wahrgenommen werden. Das ermutigt mich zu der Mitteilung, daß ich auf Reisen niemals an einem Ort ankomme, ohne sogleich den Wunsch zu empfinden, ihn wieder zu verlassen. Noch bevor ich deshalb mit meinem Abendbrot von gebratenem Geflügel und Glühwein fertig geworden war, hatte ich dem Kellner meine Anordnungen für die morgige Abreise bis in jede Einzelheit genau eingeschärft. Frühstück und Rechnung um acht. Wagen um neun. Zwei Pferde, oder, wenn nötig, sogar vier.
So müde ich auch war, schien mir doch die Nacht etwa die Länge einer Woche zu haben. Wenn mich das Alpdrücken manchmal für eine kurze Weile losließ, dachte ich an Angela, und ich wurde bei dem Gedanken, daß ich mich auf dem kürzesten Wege nach Gretna Green befand, von größerer Traurigkeit als je erfüllt. Was hatte ich mit Gretna Green zu schaffen? Ich ging nicht auf diesem Weg zum Teufel, sondern über die amerikanische Route, bemerkte ich mit Bitterkeit zu mir selbst.
Am Morgen fand ich, daß es immer noch schneite, daß es die ganze Nacht durch geschneit hatte und daß ich eingeschneit war. In diesem Flecken auf dem Moor war jetzt jedes Heraus- oder Hereinkommen unmöglich, bis die Straße von Arbeitern aus der benachbarten Marktstadt ausgeschaufelt worden war. Niemand aber vermochte mir zu sagen, wann sie sich bis zur »Stechpalme« durchgearbeitet haben könnten.
Es war jetzt Weihnachtsabend. Ich hätte überall ein trauriges Weihnachtsfest verlebt, und folglich kam es darauf nicht an. Aber eingeschneit zu sein, war immerhin etwas Ähnliches wie zu erfrieren, und daran lag mir nun durchaus nichts. Ich fühlte mich sehr einsam. Und doch konnte ich dem Wirt und der Wirtin ebensowenig den Vorschlag machen, mich zu ihrer Gesellschaft zuzulassen (obwohl mir das sehr angenehm gewesen wäre), wie ich sie hätte bitten können, mir ein Stück Silbergeschirr zu schenken. Hier muß mein großes Geheimnis, die tiefsitzende Schüchternheit meines Charakters, in Betracht gezogen werden. Wie die meisten schüchternen Menschen beurteile ich auch andere Leute so, als ob sie schüchtern wären. So genierte ich mich nicht nur selbst viel zu sehr, um mit dem Vorschlag an sie heranzutreten, sondern ich hatte auch ein rücksichtsvolles Bedenken, daß ich sie dadurch in die größte Verlegenheit bringen würde.
So versuchte ich denn, mich mit meiner Einsamkeit abzufinden, und fragte vor allem danach, welche Bücher im Hause wären. Daraufhin brachte mir der Kellner ein »Landstraßenbuch«, zwei oder drei alte Zeitungen, ein kleines Liederbuch, das am Schluß eine kleine Sammlung von Trinksprüchen und Festreden aufwies, ein kleines Witzbuch, einen einzelnen Band von »Peregrine Pickle« und die »Empfindsame Reise«. Von den beiden letzteren Büchern kannte ich bereits jedes Wort, aber ich las sie noch einmal durch. Dann versuchte ich, alle Lieder in dem Liederbuch zu singen (auch »Die schöne alte Zeit« befand sich darunter), ging das ganze Witzbuch durch (es war eine Fundstätte der Melancholie, die ganz zu meiner Stimmung paßte), brachte alle Trinksprüche aus, hielt alle Festreden und las die Zeitungen vollständig durch. In den letzteren standen nichts als Annoncen über Staatspapiere, der Bericht über eine Versammlung wegen einer Grafschaftssteuer und die Nachricht von einem Raubüberfall. Da ich ein gieriger Leser bin, reichte dieser Vorrat nicht bis zum Abend, sondern war schon zur Teezeit erschöpft. Von da an ganz auf mich selbst angewiesen, verbrachte ich eine Stunde damit zu überlegen, was ich nun anfangen sollte. Schließlich kam ich (immer ängstlich bemüht, den Gedanken an Angela und Edwin von mir fernzuhalten) auf den Einfall, mir meine Erfahrungen mit Gasthäusern wieder ins Gedächtnis zu rufen und zu versuchen, wie lange das vorhielt. Ich schürte das Feuer, schob meinen Stuhl ein wenig an die eine Seite des Wandschirms – wobei ich freilich nicht weit zu gehen wagte, denn ich wußte, der Wind wartete auf mich, um über mich herzustürzen – ich hörte ihn schon fauchen – und begann.
Da meine ersten Eindrücke von einem Gasthaus aus der Kinderstube stammten, ging ich bis zu ihr als Ausgangspunkt zurück. Da fand ich mich denn zu Füßen einer blassen Frau mit Fischaugen, einer Adlernase und einem grünen Rock sitzen, deren Spezialität eine unheimliche Erzählung von dem Besitzer eines Gasthauses an der Landstraße war. Die Gäste, die dort einkehrten, verschwanden viele Jahre lang auf unerklärliche Weise, bis es ans Tageslicht kam, daß es die Beschäftigung seines Lebens gewesen war, sie in Pasteten zu verwandeln. Um sich diesem Geschäftszweig mit aller Bequemlichkeit widmen zu können, hatte er eine Geheimtür hinter dem Kopfende des Bettes angebracht, und wenn der Gast (mit Pasteten überfüttert) eingeschlafen war, guckte dieser böse Wirt vorsichtig mit einer Lampe in der einen und einem Messer in der anderen Hand herein, schnitt ihm die Gurgel ab und verarbeitete ihn zu Pasteten. Zu diesem Zweck standen unter einer Falltür Kessel, die ständig mit kochendem Wasser gefüllt waren, und den Teig rollte er bei stiller Nacht aus. Jedoch war auch er nicht frei von Gewissensbissen, denn er legte sich niemals zu Bett, ohne daß man ihn murmeln hörte: »Zuviel Pfeffer!« Und das war auch der Anlaß, weswegen er vor Gericht gestellt wurde.
Ich war kaum mit diesem Verbrecher fertig geworden, als ein anderer aus derselben Zeit vor meine Erinnerung trat, dessen Beruf ursprünglich Hauseinbruch war. Bei der Beschäftigung mit diesem Handwerk wurde ihm eines Nachts, als er in verbrecherischer Absicht zu einem Fenster einstieg, von einem tapferen und hübschen Dienstmädchen das rechte Ohr abgehauen. Dieses tapfere und hübsche Dienstmädchen war, wie die Frau mit der Adlernase stets durch geheimnisvolle Andeutungen zu verstehen geben wollte, sie selbst gewesen, obwohl die Beschreibung durchaus nicht auf sie paßte. Nach einigen Jahren heiratete dieses Mädchen den Wirt eines Landgasthofs, der die merkwürdige Gewohnheit hatte, stets eine seidene Schlafmütze zu tragen, die er unter keinen Umständen abnehmen wollte. Schließlich hob eines Nachts, als er in tiefem Schlaf lag, die tapfere und hübsche Frau seine seidene Schlafmütze an der rechten Seite auf und fand, daß dort sein Ohr fehlte. Sie schloß daraus scharfsinnig, daß er der verstümmelte Einbrecher war, der sie mit der Absicht geheiratet hatte, sie umzubringen. Daraufhin ließ sie unverzüglich das Schüreisen heiß werden und machte damit seiner Laufbahn ein Ende, wofür sie zu König Georg auf den Thron gebracht und von seiner königlichen Majestät zu ihrer großen Klugheit und Tapferkeit beglückwünscht wurde.
Dieselbe Erzählerin, die, wie ich schon seit langer Zeit überzeugt bin, eine dämonische Lust daran hatte, mich derartig zu erschrecken, daß ich fast von Sinnen kam, kannte noch eine andere authentische Anekdote aus ihrer eigenen Erfahrung, die, wie ich jetzt glaube, auf »Raimund und Agnes, oder die blutende Nonne« zurückging. Sie behauptete, die Sache sei ihrem Schwager passiert, der kolossal reich und kolossal groß wäre – was mein Vater beides nicht war. (Dieses dämonische Weib legte stets Wert darauf, meinem jugendlichen Geist meine teuersten Verwandten und Freunde unter Umständen vorzuführen, die sie im Vergleich zu anderen in einem ungünstigen Licht erscheinen ließen.) Der Schwager ritt einst auf einem prachtvollen Pferd (wir hatten kein prachtvolles Pferd in unserem Haus) durch einen Wald, gefolgt von einer wertvollen und ihm sehr ans Herz gewachsenen Neufundland-Dogge (wir hatten keine Dogge), als es plötzlich Nacht wurde und er an ein Wirtshaus kam. Ein schwarzes Weib öffnete ihm die Tür, und er fragte sie, ob er ein Bett haben könnte. Sie antwortete ja, stellte sein Pferd in den Stall und führte ihn in ein Zimmer, in dem zwei schwarze Männer waren. Während er beim Abendbrot saß, begann ein Papagei im Zimmer zu sprechen: »Blut, Blut! Wischt das Blut auf!« Worauf einer der schwarzen Männer dem Papagei den Hals umdrehte, mit den Worten, er äße gebratene Papageien gern und wolle diesen am nächsten Morgen zum Frühstück haben. Nachdem er tüchtig gegessen und getrunken hatte, begab sich der kolossal reiche und große Schwager zu Bett. Doch war er einigermaßen verärgert, weil man seinen Hund im Stall eingeschlossen hatte, mit der Behauptung, es würden niemals Hunde im Haus geduldet. Er hatte über eine Stunde lang in Gedanken versunken ganz still dagesessen, da hörte er auf einmal, gerade als seine Kerze am Verlöschen war, ein Scharren an der Tür. Er öffnete die Tür, und draußen stand die Neufundland-Dogge! Sie kam sacht herein und beschnupperte ihn. Dann ging sie geradeswegs auf ein Häufchen Stroh in der Ecke zu, worunter, wie die schwarzen Männer behauptet hatten, Äpfel lagen, riß das Stroh weg und enthüllte zwei in Blut getauchte Laken. In diesem Augenblick ging die Kerze gänzlich aus, und als der Schwager durch eine Türritze blickte, sah er die beiden schwarzen Männer die Treppe hinauf schleichen; der eine war mit einem etwa fünf Fuß langen Dolch bewaffnet, der andere trug ein Hackmesser, einen Sack und einen Spaten. An das Ende des Abenteuers kann ich mich nicht mehr erinnern, und ich vermute deshalb, ich war, wenn es soweit gekommen war, stets so von Schrecken übermannt gewesen, daß ich eine Viertelstunde lang nicht mehr zuzuhören imstande war.
Schließlich nahm ich meine Kerze und ging zu Bett. Als ich am folgenden Tag erwachte, herrschte scharfer Frost, und der finstere Himmel drohte mit weiterem Schneefall. Als ich mit meinem Frühstück fertig geworden war, schob ich meinen Sessel an dieselbe Stelle wie vorher und setzte mich vor das Feuer. Es wurde herzlich langweilig in der »Stechpalme«. Ich unternahm eine Überland-Expedition über den Wandschirm hinaus und gelangte bis zum vierten Fenster. Hier wurde ich durch die Gewalt des Unwetters vertrieben und zog mich wieder in mein Winterlager zurück. Mir kam ein verzweifelter Einfall. Unter jeden anderen Verhältnissen würde ich ihn wieder von mir gewiesen haben, aber in der Klemme, in der ich mich befand, hielt ich ihn fest. Konnte ich die angeborene Schüchternheit, die mich vom Tisch des Wirts und von der Gesellschaft, die ich dort finden könnte, fernhielt, so weit überwinden, um den Stiefelputzer heraufzurufen und ihn zu bitten, Platz – und etwas Flüssiges – zu nehmen und mit mir zu sprechen? Ich konnte es tun. Ich wollte es tun. Ich tat es.
* * *
Wo überall er zu seiner Zeit gewesen wäre? wiederholte er, als ich die Frage an ihn stellte. Du lieber Gott, er war überall gewesen! Und was er gewesen wäre? Weiß der Himmel, er war so ziemlich alles gewesen, was man aufzählen konnte!
Ob er allerhand gesehen hätte? Nun, selbstverständlich. Ich würde es selbst sagen, könne er mir versichern, wüßte ich auch bloß ein Zwanzigstel von dem, was ihm in den Weg gekommen war. Seiner Meinung nach wäre es sogar leichter für ihn, aufzuzählen, was er nicht gesehen hätte, als was er gesehen hätte. Ja, wahrhaftig, viel leichter.
Was wäre wohl das Interessanteste, was er zu sehen bekommen hätte? Nun, das könne er nicht so recht entscheiden. Er wisse im Augenblick nicht, was das Interessanteste wäre – ausgenommen etwa ein Einhorn – und das hätte er einst auf einem Jahrmarkt gesehen. Aber wenn sich's nun um eine Geschichte handelte, wie ein junger Gentleman von noch nicht acht Jahren mit einer schönen jungen Frau von sieben auf und davon ging, würde mir das sonderbar genug vorkommen? Doch wohl. Nun, das wäre eine Geschichte, die sich vor seinen Augen abgespielt hätte, und er hätte die Schuhe geputzt, in denen sie durchgegangen wären – und sie wären so klein gewesen, daß er seine Hand nicht hätte hineinstecken können.
Master Harry Walmers' Vater, sehen Sie, lebte in einem Landhaus in der Nähe von Shooter's Hill etwa anderthalb Meilen von Lunnon. Er war ein lebhafter Gentleman von gutem Aussehen, ging mit hocherhobenem Kopf umher und hatte, wie man sagt, Feuer in sich. Er schrieb Verse, er ritt, er lief, er spielte Kricket, er tanzte, er spielte auf der Bühne, und alles gleich vollendet. Er war ungewöhnlich stolz auf Master Harry, da er sein einziges Kind war; aber dabei verzog er ihn doch nicht. Er war ein Gentleman, der wußte, was er wollte, und der die Augen offen hielt; es war nicht mit ihm zu spaßen. So machte er zwar den hübschen, gescheiten Jungen geradezu zu seinem Gefährten und hatte seine herzliche Freude daran, daß er so gern seine Märchenbücher las; auch langweilte es ihn nie, mit anzuhören, wie der Junge sagte, mein Name ist Norval, oder seine Lieder »Im jungen Maimond strahlt die Liebe« und »Wenn von dem, der sich liebt, nur der Name noch lebt« und dergleichen sang; aber dabei hielt er das Kind streng in Zucht, und das Kind war ein Kind, und es wäre zu wünschen, man könnte das von mehr Kindern sagen!
Woher wußte der Stiefelputzer denn das alles? Nun, weil er Gärtnergehilfe gewesen war. Er konnte natürlich nicht Gärtnergehilfe sein und stets im Sommer auf dem Rasen vor den Fenstern mit Mähen und Harken und Jäten und Stutzen und diesem und jenem beschäftigt sein, ohne mit den Verhältnissen in der Familie bekannt zu werden. Selbst wenn Master Harry nicht eines Morgens früh zu ihm gekommen wäre und ihn gefragt hätte: »Cobbs, wie würdet Ihr Norah schreiben, wenn man Euch fragte?« Worauf er das Wort in Druckbuchstaben an dem ganzen Zaun einzuschnitzen begann.
Der Stiefelputzer konnte nicht behaupten, daß er sich vorher besonders viel um Kinder gekümmert hätte; aber es war wirklich hübsch, die beiden winzigen Leutchen, bis über die Ohren verliebt, zusammen herumgehen zu sehen. Und der Mut des Jungen! Wahrhaftig, er hätte seinen kleinen Hut weggeworfen und seine kleinen Ärmel aufgekrempelt und wäre auf einen Löwen losgegangen, wenn sie zufällig einem begegnet wären und sie Angst vor ihm gehabt hätte. Eines Tages bleibt er zusammen mit ihr neben dem Stiefelputzer stehen, der Unkraut auf dem Kiesweg jätet, und spricht frischweg zu ihm:
»Cobbs«, sagt er, »ich habe Euch gern.«
»Wirklich, Sir? Ich bin stolz, das zu hören.«
»Ja, so ist es, Cobbs. Weshalb glaubt Ihr wohl, daß ich Euch gern habe, Cobbs?«
»Das weiß ich wirklich nicht, Master Harry.«
»Weil Norah Euch gern hat, Cobbs.«
»Wirklich, Sir? Das ist sehr angenehm.«
»Angenehm, Cobbs? Es ist besser als Millionen der glänzendsten Diamanten, wenn Norah jemand gern hat.«
»Sicherlich, Sir.«
»Ihr geht, Cobbs, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Hättet Ihr gern einen anderen Posten, Cobbs?«
»Nun, Sir, ich hätte nichts dagegen, wenn es ein guter wäre.«
»Dann, Cobbs«, sagt er, »sollt Ihr unser Obergärtner sein, wenn wir verheiratet sind.«
Und er legt den Arm der Kleinen in dem himmelblauen Mäntelchen in den seinen und geht mit ihr davon.
Der Stiefelputzer konnte mir versichern, daß es besser als ein Bild und ebensogut wie eine Komödie war, die beiden Kinder mit ihrem langen, schimmernden Lockenhaar, ihren leuchtenden Augen und ihrem schönen leichten Gang, bis über die Ohren verliebt, im Garten umherstreifen zu sehen. Der Stiefelputzer war der Meinung, daß die Vögel sie selbst für ein Paar Vögel ansahen und mit ihrer Unterhaltung Takt hielten, indem sie ihnen zu Gefallen sangen. Bisweilen krochen sie unter den Tulpenbaum und saßen dort, Wange an Wange, eines das Ärmchen um den Nacken des anderen geschlungen. So lasen sie von dem Prinzen und dem Drachen und den guten und bösen Zauberern und der schönen Königstochter. Bisweilen hörte er sie auch Pläne schmieden. Sie wollten in einem Haus mitten im Walde wohnen, sich Bienen und eine Kuh halten und von nichts als von Milch und Honig leben. Einmal traf er sie am Teich und hörte Master Harry sagen:
»Anbetungswürdige Norah, küsse mich und sage, daß du mich bis zum Wahnsinn liebst; sonst springe ich ins Wasser.«
Und bei dem Stiefelputzer stand es fest, daß er es getan hätte, wenn sie sein Verlangen nicht erfüllt hätte. Im ganzen, meinte der Stiefelputzer, erweckten seine Beobachtungen ein Gefühl in ihm, als ob er selbst verliebt wäre – nur wußte er nicht genau, in wen.
»Cobbs«, sagte Master Harry eines Abends, als Cobbs die Blumen besprengte, »ich gehe diesmal im Hochsommer zu meiner Großmama nach York auf Besuch.«
»Wirklich, Sir? Hoffentlich werden Sie dort die Zeit angenehm verbringen. Ich begebe mich selbst nach Yorkshire, wenn ich von hier fortgehe.«
»Geht Ihr zu Eurer Großmama, Cobbs?«
»Nein, Sir. Ich habe keine.«
»Keine Großmama, Cobbs?«
»Nein, Sir.«
Der Knabe sah Cobbs eine kleine Weile zu, wie er die Blumen besprengte, und sagte dann:
»Ich freue mich sehr auf diesen Besuch, Cobbs – Norah kommt auch mit.«
»Dann werden Sie sich sicher sehr wohl fühlen, Sir«, sagte Cobbs, »wenn Sie Ihre schöne Geliebte an Ihrer Seite haben werden.«
»Cobbs«, erwiderte der Knabe errötend, »ich dulde es niemals, daß jemand darüber scherzt, wenn ich es verhindern kann.«
»Es war kein Scherz, Sir«, sagte Cobbs unterwürfig – »es war nicht so gemeint.«
»Das freut mich, Cobbs, weil ich Euch gern habe, wie Ihr wißt, und Ihr bei uns leben werdet. – Cobbs!«
»Sir.«
»Was glaubt Ihr wohl, was meine Großmama mir gibt, wenn ich zu ihr komme?«
»Das könnte ich nicht einmal erraten, Sir.«
»Eine Fünfpfundnote der Bank von England, Cobbs.«
»Hui!« sagte Cobbs, »das ist mächtig viel Geld, Master Harry.«
»Mit so viel Geld kann man eine Menge anfangen – nicht, Cobbs?«
»Das glaube ich, Sir!«
»Cobbs«, sagte der Knabe, »ich will Euch ein Geheimnis verraten. Bei Norah zu Hause haben sie sie meinetwegen aufgezogen und über unsere Verlobung gelacht – sie haben darüber gespottet, Cobbs!«
»So groß, Sir«, sagte Cobbs, »ist die Verderbtheit der menschlichen Natur.«
Der Knabe stand ein paar Minuten lang, sein glühendes Gesicht der untergehenden Sonne zugekehrt, da, wobei er ganz denselben Ausdruck hatte wie sein Vater. Dann schied er mit den Worten:
»Gute Nacht, Cobbs. Ich gehe ins Haus.«
Wenn ich den Stiefelputzer etwa fragen wollte, wie es kam, daß er gerade damals seine Stellung aufgeben wollte, dann konnte er mir keine rechte Antwort geben. Er glaubte, er hätte jetzt noch dort sein können, wenn er es gewollt hätte. Aber, Sie verstehen, er war damals jünger und brauchte Abwechslung. Das war es: – er brauchte Abwechslung. Mr. Walmers sagte zu ihm, als er ihm seine Absicht, die Stellung zu verlassen, mitteilte:
»Cobbs«, sagte er, »habt Ihr Euch über etwas zu beklagen? Ich stelle die Frage deshalb an Euch, weil ich nach Möglichkeit den Klagen meiner Leute abhelfen möchte, wenn ich sie berechtigt finde.«
»Nein, Sir«, sagte Cobbs. »Ich danke Ihnen, Sir. Ich habe hier eine so gute Stellung, wie ich sie nur irgendwo zu finden hoffen kann. Die Wahrheit ist, Sir, daß ich gehe, um mein Glück zu suchen.«
»Oh, wirklich, Cobbs!« erwiderte er darauf. »Ich hoffe, Ihr werdet es finden.«
Und der Stiefelputzer konnte mir versichern – er tat das, indem er sein Haar mit dem Stiefelknecht berührte, eine Grußform, die zu seinem gegenwärtigen Beruf paßte –, daß er es noch nicht gefunden hatte.
Na schön, Sir! Der Stiefelputzer verließ also das Landhaus, als seine Zeit um war, und Master Harry fuhr zu der alten Dame in York. Diese hätte dem Jungen ihre eigenen Zähne gegeben (wenn sie welche gehabt hätte), so sehr liebte sie ihn. Was tut nun dieses Kind – denn ein Kind mußte man ihn doch noch nennen? Er läuft mit seiner Norah von der alten Dame weg, in der Absicht, nach Gretna Green zu gehen und sich trauen zu lassen!
Sir, der Stiefelputzer war in diesem selben Stechpalmen-Gasthaus beschäftigt (er hatte es seitdem einigemal verlassen, um sich etwas Besseres zu suchen, war aber aus dem einen oder anderen Grund immer wieder zurückgekommen), als an einem Sommernachmittag die Postkutsche vorfährt und die beiden Kinder heraussteigen. Der Kondukteur sagt zu unserem Alten:
»Ich bin mir über diese kleinen Passagiere nicht ganz im klaren; aber der junge Gentleman wünschte hierhergebracht zu werden.«
Der junge Gentleman steigt aus, hilft seiner Dame heraus, gibt dem Kondukteur ein Trinkgeld und sagt zu unserem Alten:
»Bitte, wir bleiben die Nacht über hier. Ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer werden nötig sein. Koteletts und Kirschpudding für zwei!«
Damit legt er den Arm der Kleinen, die ihr himmelblaues Mäntelchen trägt, in den seinen und geht stolz ins Haus.
Der Stiefelputzer überläßt es mir selbst, mir die Verblüffung des ganzen Hauses auszumalen, als diese beiden kleinen Geschöpfe ganz allein auf ihre Zimmer geleitet wurden. Die Verblüffung wurde noch größer, als er, der sie ungesehen beobachtet hatte, dem Alten seine Ansicht über den Zweck ihrer Reise mitteilte.
»Cobbs«, sagte der Alte, »wenn das wirklich so ist, dann muß ich selbst nach York fahren und ihre Angehörigen beruhigen. Ihr müßt inzwischen auf sie achtgeben und tun, was sie wollen, bis ich wieder zurück bin. Aber bevor ich fahre, Cobbs, wäre es mir lieb, wenn Ihr von ihnen selbst herausbekommen könntet, ob Ihr mit Eurer Ansicht auf der rechten Spur seid.«
»Sir«, sagte Cobbs, »das soll sofort geschehen.«
So ging denn der Stiefelputzer nach oben, und dort fand er Master Harry auf einem riesigen Sofa sitzen. (Es war auch sonst ein sehr weitläufiges Möbelstück, aber im Vergleich zu ihm nahm es sich noch viel größer aus.) Er war damit beschäftigt, Miß Norah mit seinem Taschentuch die Augen zu trocknen. Ihre kleinen Beine baumelten natürlich in der Luft, und der Stiefelputzer konnte mir wirklich nicht sagen, wie winzig die Kinder aussahen.
»Das ist ja Cobbs! Das ist ja Cobbs!« rief Master Harry aus, lief auf ihn zu und ergriff seine Hand. Miß Norah lief auf der anderen Seite auf ihn zu und faßte seine andere Hand, und beide hüpften vor Freude.
»Ich sah Sie aussteigen, Sir«, sagte Cobbs. »Ich dachte mir wenigstens, daß Sie das sein müßten. Ich dachte mir, daß ich mich in Ihrer Größe und Gestalt doch nicht täuschen könnte. Was ist der Zweck Ihrer Reise, Sir? – Heiratsabsichten?«
»Wir wollen uns in Gretna Green trauen lassen, Cobbs«, erwiderte der Junge. »Wir sind absichtlich durchgegangen. Norah war ziemlich niedergeschlagen, Cobbs; aber sie wird glücklich sein, jetzt wo wir Euch als Freund gefunden haben.«
»Ich danke Ihnen, Sir, und ich danke Ihnen, Miß«, sagte Cobbs, »für Ihre gute Meinung. Haben Sie etwas Gepäck mitgebracht, Sir?«
Wenn ich Cobbs' ehrenwörtlicher Versicherung glauben wollte, so hatte die Dame einen Sonnenschirm, ein Riechfläschchen, anderthalb gebutterte kalte Röstschnitten, acht Pfefferminzbonbons und eine Haarbürste, anscheinend die einer Puppe, mitgebracht. Der Gentleman aber war im Besitz von ein paar Metern Bindfaden, einem Messer, drei oder vier erstaunlich klein zusammengelegten Bogen Schreibpapier, einer Orange und einem Porzellanbecher mit seinem Namenszug darauf.
»Was sind denn Ihre Pläne im einzelnen, Sir?« sagte Cobbs.
»Morgen früh weiterzufahren«, erwiderte der Junge – sein Mut war wunderbar! – »und im Laufe des Tages zu heiraten.«
»Ganz recht, Sir«, sagte Cobbs. »Würde es Ihnen recht sein, Sir, wenn ich Sie begleite?«
Als Cobbs das sagte, hüpften sie beide wieder vor Freude und riefen:
»O ja, ja, Cobbs! Ja!«
»Schön, Sir«, meinte Cobbs. »Wenn Sie mir erlauben wollen, eine Meinung abzugeben, so möchte ich Ihnen folgendes empfehlen: Ich bin mit einem Pony bekannt, Sir, das vor einen Phaethon gespannt, den ich mir ausleihen könnte, Sie und Mrs. Harry Walmers junior in ganz kurzer Zeit ans Ziel Ihrer Reise bringen würde. Ich könnte selbst kutschieren, wenn es Ihnen recht ist. Ich weiß nicht ganz genau, Sir, ob dieses Pony morgen frei sein wird, aber selbst wenn Sie bis übermorgen darauf warten müßten, so würde es sich für Sie lohnen. Was die kleine Rechnung hier im Haus betrifft, so macht es nichts, wenn Ihnen etwa das Geld ausgehen sollte. Ich bin nämlich Mitbesitzer dieses Gasthauses, und die Rechnung könnte stehenbleiben.«
Der Stiefelputzer versicherte mir, daß, als sie in die Hände klatschten und abermals vor Freude hüpften und ihn »guter Cobbs!« und »lieber Cobbs!« nannten und in dem Entzücken ihrer vertrauensvollen Herzen sich über ihn weg küßten, er sich wie der gemeinste Schurke, der je geboren wurde, vorkam, weil er sie so täuschte.
»Wünschen Sie im Augenblick etwas, Sir?« fragte Cobbs, der sich fast zu Tode schämte.
»Wir möchten gern ein paar Kuchen nach dem Diner haben«, erwiderte Master Harry, indem er die Arme kreuzte, ein Bein vorstellte und vor sich hin blickte, »und zwei Äpfel – und Marmelade. Zum Diner möchten wir Wasser mit geröstetem Brot haben. Aber Norah ist gewohnt, ein halbes Glas Johannisbeerwein zum Dessert zu bekommen und ich ebenfalls.«
»Es soll am Büfett bestellt werden, Sir«, sagte Cobbs. Und damit ging er.
Der Stiefelputzer hatte jetzt, da er sprach, noch mit unverminderter Stärke das Gefühl von damals, daß er die Sache viel lieber in einem halben Dutzend Boxrunden mit dem Alten ausgetragen hätte, als sich mit ihm zu verschwören. Er wünschte von ganzem Herzen, daß es irgendeinen unmöglichen Ort gäbe, wo diese beiden Kinder eine unmögliche Ehe eingehen und für immer unmöglich glücklich leben könnten. Da dies aber unmöglich war, ging er auf den Plan des Alten ein, und der Alte fuhr eine halbe Stunde später nach York.
Die Art und Weise, wie die Frauen in diesem Haus – jede ohne Ausnahme, ob verheiratet oder ledig – den Jungen in ihr Herz schlossen, als sie die Geschichte erfuhren, fand der Stiefelputzer im höchsten Grade überraschend. Er konnte es nur mit Mühe verhindern, daß sie in das Zimmer stürzten und ihn küßten. Sie kletterten unter Lebensgefahr an allen möglichen Stellen hoch, um ihn durch eine Glasscheibe zu sehen. Sie standen zu sieben hintereinander am Schlüsselloch. Sie waren über ihn und seinen Mut halb von Sinnen.
Am Abend ging der Stiefelputzer in das Zimmer um nachzusehen, wie es den Ausreißern ginge. Der Gentleman saß auf der Fensterbank und hielt die Dame umschlungen. Auf ihrem Gesicht standen Tränen, und sie lag, sehr müde und halb schlafend, mit dem Kopf auf seiner Schulter.
»Mrs. Harry Walmers junior ist wohl ein wenig müde, Sir?« sagte Cobbs.
»Ja, sie ist müde, Cobbs. Aber sie ist es bloß nicht gewohnt, von zu Hause fort zu sein, und sie war wieder niedergeschlagen. Cobbs, könntet Ihr vielleicht bitte einen Apfel bringen?«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Cobbs. »Was für …?«
»Ich glaube, ein Norfolk-Apfel würde sie wieder munter machen, Cobbs. Sie ißt sie furchtbar gern.«
Der Stiefelputzer zog sich zurück, um das verlangte Kräftigungsmittel herbeizuschaffen. Als er es gebracht hatte, überreichte der Gentleman der Dame den Apfel, fütterte sie mit einem Löffel und nahm selbst ein wenig davon. Die Dame war schläfrig und ziemlich übellaunig.
»Was meinen Sie, Sir«, sagte Cobbs, »zu einem Zimmerleuchter?«
Der Gentleman war einverstanden. Das Zimmermädchen ging vor ihnen her die große Treppe hinauf; die Dame in ihrem himmelblauen Mäntelchen folgte, von dem Gentleman galant am Arm geführt; der Gentleman küßte sie an ihrer Tür und zog sich in sein eigenes Schlafzimmer zurück, wo der Stiefelputzer ihn sacht einschloß.
Das Gefühl des Stiefelputzers, daß er ein gemeiner Betrüger wäre, verstärkte sich noch, als sie ihn beim Frühstück (sie hatten am Abend zuvor Milch mit Wasser, Röstschnitten und Johannisbeermarmelade bestellt) über das Pony befragten. Er scheute sich nicht, mir zu gestehen, daß er den beiden Kindern ins Gesicht blicken und bei sich denken mußte, was für ein ruchloser alter Lügenerzähler er doch geworden sei. Jedoch log er wie ein Trojaner über das Pony weiter. Er erzählte ihnen, unglücklicherweise wäre das Pony gerade zur Hälfte geschoren, und in diesem Zustand dürfe man es nicht aus dem Stall nehmen, denn sonst könne es sich erkälten. Das Scheren würde aber im Laufe des Tages beendet sein, und morgen früh um acht Uhr stünde der Phaethon bereit. Als sich der Stiefelputzer jetzt hier in meinem Zimmer das Ganze wieder vergegenwärtigte, kam er zu der Ansicht, daß Mrs. Harry Walmers junior die Sache leid zu werden begann. Das Haar war ihr nicht gekräuselt worden, als sie zu Bett ging; es selbst zu bürsten schien aber über ihre Kräfte zu gehen, und so wurde sie ganz mutlos, weil es ihr beständig in die Augen fiel. Er saß hinter seiner Frühstückstasse und hieb in seine Marmelade ein, als wäre er sein eigener Vater.
Nach dem Frühstück malten sie Soldaten, wie der Stiefelputzer zu glauben geneigt war – wenigstens wurden viele im Kamin gefunden, die alle beritten waren. Im Laufe des Morgens zog Master Harry die Glocke – es war zum Staunen, wie sicher dieser Junge auftrat – und fragte in munterem Ton:
»Cobbs, gibt es hier in der Umgebung schöne Spazierwege?«
»Ja, Sir«, erwiderte Cobbs. »Da ist der Liebesweg.«
»Macht mir nichts weis, Cobbs!« war die Antwort dieses Jungen. »Ihr spaßt wohl.«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Cobbs, »es gibt hier wirklich einen Liebesweg. Es ist ein hübscher Spaziergang, und ich werde stolz darauf sein, Sie und Mrs. Harry Walmers junior dorthin zu führen.«
»Norah, Liebste«, sagte Master Harry, »das ist interessant. Wir sollten uns wirklich den Liebesweg einmal ansehen. Setz deinen Hut auf, mein süßes Herz, und dann wollen wir mit Cobbs dorthin gehen.«
Während sie alle drei dahinschlenderten, erzählte ihm das junge Paar, sie hätten sich entschlossen, ihm als Obergärtner zweitausend Guineen jährlich zu geben, weil er ihnen ein so treuer Freund wäre. Der Stiefelputzer überließ es mir selbst, mir auszumalen, als was für einen Lumpen er sich beim Anhören dieser Worte fühlte. So gemein kam er sich vor, während er ihre strahlenden Augen vertrauensvoll auf sich gerichtet sah, daß er gewünscht hätte, die Erde täte sich auf und verschlänge ihn. Nun gut, Sir, er lenkte die Unterhaltung, so gut er konnte, auf etwas anderes und führte sie den Liebesweg entlang zu den Wasserwiesen. Dort wäre Master Harry bei dem Versuch, ihr eine Wasserlilie zu holen, beinahe ertrunken – aber diesem Jungen konnte nichts Angst machen. Nun, Sir, sie waren erschöpft. Es war alles so neu und seltsam für sie, daß sie todmüde davon wurden. Und sie legten sich auf einer Anhöhe, die voller Gänseblümchen stand, nieder, wie die Kinder im Wald oder auf der Wiese, und sanken in Schlaf.
Der Stiefelputzer konnte nicht verstehen – vielleicht verstand ich es, aber gleichviel, darauf kam es nicht an –, warum ein Mensch von einem ganz närrischen Gefühl gepackt wurde, wie er diese beiden hübschen Kinder an dem klaren, stillen, sonnigen Tag so daliegen sah, die im Schlaf nicht halb soviel träumten wie im Wachen. Aber, du lieber Gott!, wenn man anfängt, über sich selbst nachzudenken, verstehen Sie, und was man alles getrieben hat, seit man selbst in der Wiege lag, und was für ein trauriger Kunde man ist, und wie es immer entweder gestern oder morgen und niemals heute für einen ist, dann ist das wohl begreiflich!
Nun, Sir, sie erwachten schließlich wieder, und da wurde dem Stiefelputzer eines so ziemlich klar, nämlich, daß Mrs. Harry Walmers junior die gute Laune verloren hatte. Als Master Harry sie um die Hüfte faßte, meinte sie, er »kitzle sie so«; und als er darauf sagte: »Norah, mein junger Maienmond, dein Harry kitzelt dich?« erwiderte sie: »Ja, und ich will nach Hause!«
Ein wenig gekochtes Geflügel und ein gebackener Butterbrot-Pudding heiterten Mrs. Walmers ein wenig auf. Aber der Stiefelputzer hätte, wie er mir insgeheim gestehen mußte, gewünscht, sie verständnisvoller für die Stimme der Liebe und weniger auf Korinthen versessen zu sehen. Doch Master Harry war guten Muts und sein edles Herz so zärtlich wie nur je. Mrs. Walmers wurde um die Dämmerstunde sehr schläfrig und begann zu weinen. Deshalb ging sie genau wie am vorhergehenden Tage zu Bett; und Master Harry tat das gleiche.
Um elf oder zwölf Uhr nachts kommt der Alte in einer Chaise, von Mr. Walmers und einer älteren Dame begleitet, zurück. Mr. Walmers sieht gleichzeitig amüsiert und sehr ernst aus und sagt zu unserer Missis:
»Wir sind Ihnen sehr verbunden, Ma'am, daß Sie sich unserer kleinen Kinder so freundlich angenommen haben. Wir können Ihnen nie genug dafür danken. Bitte, Ma'am, wo ist mein Junge?«
Unsere Missis erwidert:
»Cobbs hat das liebe Kind unter seiner Obhut, Sir. Cobbs, führt den Herrn auf Nummer vierzig.«
Darauf sagt er zu Cobbs:
»Ah, Cobbs, ich freue mich, Euch zu sehen! Ich habe schon gehört, daß Ihr hier wäret!«
Worauf Cobbs erwidert:
»Ja, Sir. Ihr gehorsamster Diener, Sir.«
Vielleicht würde ich über die Worte des Stiefelputzers überrascht sein; aber er versichert mir, daß sein Herz wie ein Hammer geschlagen hätte, als er die Treppe hinaufging.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagt er, während er die Tür aufschließt; »ich hoffe, Sie sind nicht böse auf Master Harry. Denn Master Harry ist ein prächtiger Junge, Sir, und wird Ihnen Ehre machen.«
Und der Stiefelputzer erzählte mir, in der verwegenen Stimmung, in der er sich damals befunden hätte, hätte ihm der Vater des prächtigen Jungen ja nicht widersprechen dürfen. Er glaubt, er hätte ihm sonst »einen Klaps verabreicht« und die Folgen auf sich genommen.
Aber Mr. Walmers sagt bloß:
»Nein, Cobbs. Nein, mein guter Bursche. Ich danke Euch!«
Und dann geht er durch die geöffnete Tür ins Zimmer.
Auch der Stiefelputzer geht, die Kerze in der Hand, hinein und sieht, wie Mr. Walmers an das Bett herantritt, sich sacht niederbeugt und das schlafende Gesichtchen küßt. Dann steht er eine Minute lang da und sieht darauf nieder, wobei er ihm wunderbar gleichsieht (man erzählt, er wäre mit Mrs. Walmers durchgegangen), und dann rüttelt er ihn sanft an der kleinen Schulter.
»Harry, mein lieber Junge! Harry!«
Master Harry fährt empor und sieht ihn an. Er sieht auch Cobbs an. Ein solches Ehrgefühl besitzt dieser Knirps, daß er Cobbs ansieht, um festzustellen, ob der ihn in Ungelegenheiten gebracht hat.
»Ich bin nicht böse, mein Kind. Ich will bloß, daß du dich anziehst und mit nach Hause kommst.«
»Ja, Pa.«
Master Harry kleidet sich schnell an. Sein Mut wächst, als er beinahe fertig ist, und er steigert sich immer mehr, als er schließlich, seinen Vater anblickend, dasteht. Der Vater steht vor ihm und blickt ihn ebenfalls an, das ruhige Ebenbild seiner selbst.
»Bitte, darf ich« – die Tapferkeit dieses Knirpses und die Standhaftigkeit, mit der er seine aufsteigenden Tränen niederkämpfte! – »bitte, lieber Pa – darf ich – Norah küssen, bevor ich gehe?«
So faßt er Master Harry bei der Hand und sie gehen, der Stiefelputzer mit der Kerze voraus, in das andere Schlafzimmer, wo die ältere Dame am Bett sitzt und die arme kleine Mrs. Harry Walmers junior in tiefem Schlaf liegt. Dort hebt der Vater das Kind zu dem Kissen empor, legt sein Gesichtchen für einen Augenblick neben das warme Gesichtchen der tief schlafenden kleinen Mrs. Harry Walmers junior und zieht ihn dann sanft an sich. Die Zimmermädchen, die zur Tür hereinblicken, werden durch diesen Anblick so gerührt, daß eine von ihnen ausruft: »Es ist eine Schande, sie zu trennen!« Aber dieses Zimmermädchen war immer, wie der Stiefelputzer mir mitteilt, eine weichherzige Person. Nicht, daß man etwas gegen dieses Mädchen hätte haben können. Ganz im Gegenteil.
Und so endet die ganze Geschichte, sagt der Stiefelputzer. Mr. Walmers fuhr in der Chaise davon, Master Harrys Hand in der seinen. Die ältere Dame und Mrs. Harry Walmers junior, die es niemals werden sollte (sie heiratete lange danach einen Hauptmann und starb in Indien), verließen das Haus am folgenden Tag. Zum Schluß stellt der Stiefelputzer die Frage an mich, ob ich in zwei Dingen einer Meinung mit ihm bin: erstens, daß es nicht viele Paare auf dem Weg zur Trauung gibt, die halb so unschuldig sind wie diese beiden Kinder; zweitens, daß es für sehr viele Paare auf dem Weg zur Trauung von höchstem Nutzen wäre, wenn man sie bloß zur rechten Zeit anhalten und einzeln zurückbringen könnte.
* * *
Ich war eine ganze Woche lang eingeschneit gewesen. Die Zeit war mir so schnell vergangen, daß ich die Tatsache sehr bezweifelt hätte, hätte nicht ein dokumentarischer Beweis dafür auf meinem Tisch gelegen.
Die Landstraße war am Tag zuvor ausgeschaufelt worden, und das fragliche Dokument war meine Rechnung. Es bezeugte unwiderleglich, daß ich sieben Tage und Nächte lang unter den schützenden Ästen der »Stechpalme« gegessen und getrunken, mich gewärmt und geschlafen hatte.
Ich hatte gestern der Landstraße vierundzwanzig Stunden Zeit gelassen, um ihren Zustand zu verbessern, und hatte Anweisung gegeben, daß »morgen abend um acht Uhr« meine Rechnung auf dem Tisch und eine Kutsche am Tor sein sollte. Am folgenden Tag um acht Uhr abends schnallte ich mein Reiseschreibzeug in sein Lederfutteral, bezahlte meine Rechnung und hüllte mich in meine warmen Überröcke und Umschlagtücher. Jetzt blieb natürlich keine Zeit mehr für den Abstecher zu dem Landhaus, wo ich Angela zum erstenmal gesehen hatte, um dort den Eiszapfen, die jetzt zweifellos in Massen herabhingen, eine gefrorene Träne hinzuzufügen. Meine Aufgabe bestand darin, auf der kürzesten offenen Straße nach Liverpool zu fahren, dort mein schweres Gepäck in Empfang zu nehmen und mich einzuschiffen. Damit hatte ich gerade genug zu tun, und es blieb mir keine Stunde Zeit.
Ich hatte mich von allen meinen Freunden in der »Stechpalme« verabschiedet, wobei ich für den Augenblick meine Schüchternheit fast abgelegt hatte, und stand jetzt eine halbe Minute lang an der Gasthaustür und sah dem Hausknecht zu, wie er das Seil, das meinen Koffer auf der Kutsche festband, noch einmal herumschlang. Auf einmal bemerkte ich Lampen, die auf die »Stechpalme« zukamen. Die Straße war so dicht mit Schnee gepolstert, daß kein Geräusch von Rädern zu hören war; aber wir alle an der Gasthaustür sahen zwischen den zu beiden Seiten des Fahrwegs aufgetürmten Schneemauern Lampen herankommen, und zwar in einem ziemlich raschen Tempo. Das Zimmermädchen erriet sofort, wie der Fall lag, und rief dem Hausknecht zu: »Tom, das ist eine Gretna-Fahrt!« Der Hausknecht begriff, daß sie instinktiv eine Trauung oder etwas dergleichen witterte, und stürzte über den Hof, indem er schrie: »Die nächsten vier heraus!« Und im Augenblick war das ganze Haus in hellem Aufruhr.
Ich hatte ein melancholisches Interesse daran, den Mann zu sehen, der liebte und wiedergeliebt wurde. Deshalb fuhr ich nicht gleich ab, sondern blieb an der Gasthaustür stehen, als die Flüchtlinge ankamen. Ein Mann mit munteren Augen, in einen Mantel gehüllt, sprang so rasch heraus, daß er mich fast umgerissen hätte. Er drehte sich um, um sich zu entschuldigen, und, beim Himmel, es war Edwin!
»Charley!« sagte er zurückweichend. »Beim allmächtigen Gott, was machst du hier?«
»Edwin«, sagte ich zurückweichend, »beim allmächtigen Gott, was machst du hier?«
Ich schlug mich bei diesen Worten vor die Stirn, und ein heller Lichtschein schien vor meinen Augen aufzublitzen.
Er drängte mich eilig in das kleine Gastzimmer – es brannte stets ein schwaches Feuer darin, ohne daß es geschürt wurde –, wo die Reisenden zu warten pflegten, während ihre Pferde angeschirrt wurden, und sagte:
»Charley, vergib mir!«
»Edwin!« erwiderte ich. »War das recht gehandelt? Wo ich sie so liebte! Wo ich sie so lange im Herzen getragen hatte!«
Ich konnte nicht weitersprechen.
Er war betroffen, als er sah, wie nahe es mir ging, und machte die grausame Bemerkung, er hätte nicht geglaubt, daß ich es mir so sehr zu Herzen nehmen würde.
Ich blickte ihn an. Ich machte ihm keine Vorwürfe mehr. Ich blickte ihn bloß an.
»Mein teurer, teurer Charley«, sagte er, »denke nicht schlecht von mir, ich bitte dich! Ich weiß, du hast ein Recht darauf, daß ich ganz offen zu dir bin, und, glaube mir, bis jetzt bin ich es stets gewesen. Ich verabscheue Heimlichkeiten. Sie sind für mich eine Gemeinheit. Aber ich und mein liebes Mädel haben um deinetwillen das Geheimnis gewahrt.«
Er und sein liebes Mädel! Das stählte mich.
»Sie haben es um meinetwillen gewahrt, Sir?« sagte ich und wunderte mich, daß er mit seinem offenen Gesicht mir derartig die Stirn bot.
»Ja! – und um Angelas willen«, sagte er.
Ich hatte den Eindruck, daß das Zimmer sich schwankend herumdrehte, wie ein auslaufender Kreisel.
»Erklären Sie sich«, sagte ich und mußte mich dabei mit der einen Hand an einem Lehnsessel festhalten.
»Mein lieber, guter alter Charley!« erwiderte Edwin in seiner herzlichen Art, »denke einmal nach! Als du mit Angela so glücklich warst, weshalb sollte ich dich dann bei dem alten Gentleman in Mißgunst bringen, indem ich dich in unser Verhältnis und (nachdem er meinen Antrag zurückgewiesen hatte) in unser geheimes Einverständnis einweihte? Es war wirklich besser, daß du, ohne zu lügen, sagen konntest: ›Er hat sich nie mit mir beraten, mir nie etwas gesagt, nie ein Wort davon verlauten lassen.‹ Wenn Angela etwas davon ahnte und mir jede Gunst und Unterstützung zuteil werden ließ, die ihr möglich war – Gott segne sie, das liebe Wesen –, so lag das nicht an mir. Weder ich noch Emmeline haben ihr jemals etwas gesagt, ebensowenig wie dir. Und aus demselben guten Grund, Charley; glaube mir, aus demselben guten Grund und keinem anderen auf Erden!«
Emmeline war Angelas Kusine. Wohnte bei ihr. War mit ihr aufgewachsen. War ihres Vaters Mündel. Besaß Vermögen.
»Emmeline ist in der Kutsche, mein lieber Edwin!« sagte ich und schloß ihn herzlich in meine Arme.
»Mein guter Junge!« sagte er, »glaubst du, ich fahre ohne sie nach Gretna Green?«
Ich rannte mit Edwin hinaus, ich öffnete die Kutschentür, ich schloß Emmeline in die Arme, ich drückte sie an mein Herz. Sie war in weiche Pelze gehüllt, wie die schneeige Landschaft; aber sie war warm und jung und reizend. Ich schirrte mit eigener Hand die Leitpferde an, gab jedem der Jungen eine Fünfpfundnote, rief ihnen Glückwünsche nach, als sie davonfuhren, und fuhr, so rasch die Pferde laufen konnten, selbst in der entgegengesetzten Richtung davon.
Ich ging nicht nach Liverpool, ich ging nicht nach Amerika, ich ging geradeswegs nach London zurück und heiratete Angela. Ich habe bis auf den heutigen Tag nicht einmal ihr das Geheimnis von meiner Schüchternheit enthüllt und zu welcher voreiligen Reise mich mein Mißtrauen verleitet hatte. Wenn sie und Edwin und Emmeline und unsere acht und ihre sieben Kinder – ihre älteste Tochter ist jetzt schon alt genug, um selbst Weiß zu tragen, worin sie ihrer Mutter sehr ähnlich sieht – diese Seiten einmal lesen werden, was natürlich eines Tages geschehen wird, so werde ich es kaum vermeiden können, daß sie am Ende dahinterkommen werden. Aber das macht nichts! Ich kann mich damit abfinden. Durch bloßen Zufall benutzte ich in der »Stechpalme« die Weihnachtszeit dazu, mich ein wenig nach meinen Mitmenschen umzusehen und Einblick in ihr Leben und Treiben zu bekommen. Ich hoffe, daß es mir nicht schlecht bekommen ist und daß es niemand in meiner Nähe oder in weiter Ferne jemals schlecht bekommen wird. Und ich sage: Möge die grüne Stechpalme blühen; möge sie ihre Wurzeln tief in unsere englische Heimaterde treiben, und mögen ihre wertvollen Keime von den Vögeln des Himmels über die ganze Welt hin verstreut werden!
* * *