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Einundfünfzigstes Kapitel

Enthüllt verschiedene Geheimnisse und enthält einen Heiratsantrag ohne ein Wort von Ausstattung und Nadelgeld.

 

Zwei Tage nach den im letzten Kapitel erzählten Ereignissen befand sich Oliver nachmittags um drei Uhr in einem Reisewagen, der rasch dem Geburtsorte des Knaben zurollte. Frau Maylie, Rosa, Frau Bedwin und der gute Doktor waren bei ihm. Herr Brownlow folgte in einer Postkutsche, noch von jemand begleitet, dessen Name nicht erwähnt wurde.

Sie sprachen unterwegs wenig. Herr BrownIow hatte den beiden Damen und Oliver die Geständnisse, die er Monks abgerungen hatte, vorsichtig mitgeteilt. Jeder hing nun seinen Gedanken nach.

Als sie sich der Stadt näherten und endlich durch ihre engen Straßen fuhren, war der Junge ganz außer sich. Da stand Sowerberrys Haus gerade noch so wie früher. Er gewahrte Gamfields Karren vor einem Wirtshause. Das Armenhaus, das traurige Gefängnis seiner Kinderjahre, mit den düsteren Fenstern nach der Straße hinaus und demselben dürren Pförtner am Eingang. Es war ihm, als wenn er die Stadt erst gestern verlassen hätte, und sein neues Leben nur ein glücklicher Traum gewesen wäre.

Sie fuhren am ersten Gasthof vor, den Oliver nur mit Ehrfurcht anzusehen und für einen ganz gewaltigen Palast zu halten pflegte. Hier wurden sie von Herrn Grimwig empfangen, der eitel Freude und Sonnenschein war. Er küßte Rosa und auch die alte Dame, wie sie aus dem Wagen stiegen, als wäre er der Großvater der ganzen Gesellschaft. Er erbot sich nicht einmal, seinen Kopf aufzuessen, nicht einmal, als er einem sehr alten Postillion wegen des nächsten Weges nach London widersprach und es besser zu wissen behauptete, obgleich er ihn nur ein einziges Mal, und zwar im festen Schlaf, gemacht hatte. Das Mittagessen und die Zimmer standen bereit, alles war aufs beste angeordnet.

Herr Brownlow erschien nicht beim Essen, sondern blieb auf seinem Zimmer. Die beiden anderen Herren gingen mit wichtigen Mienen ein und aus und flüsterten geheimnisvoll, wenn sie im Zimmer waren. Einmal wurde Frau Maylie abgerufen und kam erst nach einer Stunde mit rotgeweinten Augen wieder zurück. Alles dies versetzte Rosa und Oliver in große Unruhe. Sie saßen stumm da und flüsterten nur, wenn sie sprachen, als fürchteten sie sich vor dem Ton ihrer eigenen Stimme.

Endlich, als die Uhr neun schlug, traten die Herren Losberne und Grimwig ins Zimmer, denen Herr Brownlow und ein Mann folgte, bei dessen Anblick Oliver laut aufschrie. Es war derselbe Mann, den er damals im Hofe des Gasthauses getroffen und dann an Fagins Seite vor dem Fenster seines kleinen Studierzimmers hatte stehen sehen. Monks warf einen haßerfüllten Blick auf den Jungen und setzte sich unweit der Tür. Herr Brownlow hatte einige Papiere in der Hand und trat an den Tisch, an dem Rosa und Oliver waren.

»Es ist zwar eine peinliche Sache «, begann er, »aber diese Erklärungen, die ich in London vor Zeugen niederschreiben und beglaubigen ließ, müssen der Hauptsache nach hier von Ihnen noch einmal persönlich abgegeben werden. Ich hätte Ihnen diese Demütigung gern erspart, aber Sie kennen die Gründe, warum wir sie aus Ihrem eigenen Munde abermals hören müssen, ehe wir uns trennen.«

»Los!« sagte der Angeredete mit abgewandtem Gesicht, »machen Sie schnell. Ich habe genug getan. Halten Sie mich hier nicht unnötig auf.«

»Dieses Kind«, fuhr Herr Brownlow fort und zog Oliver an sich, »ist Ihr Halbbruder, der illegitime Sohn Ihres Vaters, meines teuren Freundes Edwin Leeford, und der unglücklichen Agnes Flemming, der die Geburt des Knaben das Leben kostete.«

»Ja«, sagte Monks, Oliver zornig anblickend, dessen Herz hörbar klopfte, »es ist ihr Bastard!«

»Der Ausdruck, dessen Sie sich bedienen«, sagte Herr BrownIow ernst, »enthält einen beleidigenden Vorwurf gegen Verstorbene, die dem Urteil dieser Welt längst entrückt sind, und beschimpft keine Lebenden außer dem, der ihn gebrauchte. Doch lassen wir das. Er wurde in dieser Stadt geboren?«

»In dem Armenhause dieser Stadt«, war die mürrische Antwort. »Sie haben die Geschichte doch in den Papieren dort aufgeschrieben.«

»Sie muß auch hier zur Sprache kommen.«

»Also hören Sie«, begann Monks. »Als sein Vater in Rom erkrankte, begab sich seine Frau, meine Mutter, von der er lange getrennt gelebt hatte, von Paris aus mit meiner Wenigkeit zu ihm, soviel ich weiß, um sich sein Vermögen zu sichern, denn sie hegte keine besondere Liebe für ihn, wie auch er nicht für sie. Er wußte nichts von unserer Anwesenheit, denn er war bereits besinnungslos und starb am folgenden Tag. Unter den Papieren, die sich in seinem Pulte vorfanden, waren zwei mit dem Datum des Tages, an dem er erkrankte. Sie waren nebst einigen kurzen Zeilen an Sie, Herr Brownlow, adressiert und trugen auf dem Umschlag die Weisung, daß sie erst nach seinem Tode abgeschickt werden sollten. Das eine dieser Papiere war ein Brief an jenes Mädchen Agnes und das andere ein Testament.«

»Und der Brief?« fragte Herr Brownlow.

»Der Brief? Ein ganzer Bogen voll reuiger Selbstanklagen und Bitten, daß Gott ihr helfen möge. Er sagte darin dem Mädchen, daß ein Geheimnis, das sich eines Tages aufklären werde, ihn verhindert hätte, sich mit ihr zu vermählen. Sie hätte ihm hingebend vertraut, bis sie das verloren, was er ihr nicht mehr zurückgeben könnte. Sie hatte damals nur noch einige Monate bis zu ihrer Entbindung, und so teilte er ihr mit, was er zu tun beabsichtigte, um ihre Schande zu verdecken, wenn er am Leben bliebe. Er bat sie, wenn er sterben müßte, weder seinem Andenken zu fluchen, noch zu glauben, daß seine Sünde an ihr oder seinem Kinde heimgesucht werden würde, da die ganze Schuld seine wäre. Er erinnerte sie an den Tag, an dem er ihr das Medaillon und den Ring schenkte, in dem ihr Taufname mit einer Lücke eingegraben war, die er eines Tages mit seinem Familiennamen auszufüllen gehofft hätte. Er flehte sie an, seine kleinen Geschenke an ihrem Herzen zu tragen, und kam dann immer wieder auf dieselben Worte zurück, als ob er schon nicht mehr klaren Geistes gewesen, was, wie ich vermute, auch der Fall war.«

»Das Testament«, sagte Herr Brownlow, während Oliver still vor sich hin weinte, »war in demselben Geiste abgefaßt wie der Brief. Er sprach von dem Elend, das sein Weib über ihn gebracht hatte, und von dem störrischen Charakter, der Bosheit und den frühzeitigen lasterhaften Neigungen seines einzigen Sohnes, dem gelehrt worden war, den Vater zu hassen. Er vermachte Ihrer Mutter und Ihnen Jahresrenten von je achthundert Pfund. Sein Gesamtvermögen teilte er in zwei gleiche Teile und bestimmte den einen für Agnes Flemming und den andern für sein und ihr Kind, wenn es lebend zur Welt kommen und heranwachsen sollte. Für den Fall, daß es ein Mädchen wäre, sollte ihm die Erbschaft ohne weiteres zufallen. Wäre es jedoch ein Junge, so hafte die Bedingung daran, daß er während seiner Minderjährigkeit seinen Namen durch keine entehrende oder schlechte Tat befleckt habe, die das Einschreiten des Gerichts zur Folge gehabt hätte. Wie er ausführte, machte er diese Klausel, um dadurch sein Vertrauen zu der Mutter zu bekunden, daß das Kind der Erbe ihres schönen Herzens und ihres edlen Charakters werden würde. Sollte diese Erwartung trügen, so waren Sie zum Erben bestimmt; denn nur, wenn beide Kinder einander gleich wären aber auch nur dann, wollte er Ihren früheren Anspruch auf sein Vermögen anerkennen, obgleich Sie keinen auf sein Herz zu machen und ihn von früher Jugend an durch Kälte und Abneigung zurückgestoßen hätten.«

»Meine Mutter«, nahm nun Monks wieder das Wort, »tat, was jede Mutter getan hätte, sie verbrannte das Testament. Der Brief gelangte nie an seine Adresse. Aber sie bewahrte ihn und noch andere Schriftstücke für den Fall auf, daß man versuchen würde, den Fehltritt abzuleugnen. Sie berichtete dem Vater des Mädchens die Wahrheit mit Übertreibungen, die ihr der Haß eingab – ich liebe sie jetzt darum. Diese Nachricht bewog den alten Flemming, sich mit seinen Kindern in einen Winkel von Wales zurückzuziehen, wobei er zugleich seinen Namen änderte, damit seine Freunde ihn nicht entdeckten. Er wurde einige Zeit darauf tot in seinem Bette gefunden. Die Tochter hatte einige Wochen zuvor heimlich sein Haus verlassen. Er suchte sie in jedem Dorf und jeder Stadt der Umgegend. In der Nacht, als er mit der Überzeugung nach Hause kam, sie hätte sich das Leben genommen, um ihre Schande nicht zu überleben, brach das Herz des alten Mannes.«

Nach einem kurzen Schweigen fuhr Herr Brownlow in der Erzählung fort:

»Nach Jahren kam die Mutter dieses Menschen – dieses Eduard Leeford – zu mir. Er hatte sie verlassen, als er achtzehn Jahre alt war, und ihr Geld und Juwelen gestohlen, das Gestohlene verspielt, Fälschungen begangen und war dann nach London geflüchtet, wo er in Verbrecherkreisen verkehrte. Sie siechte an einer unheilbaren Krankheit dahin und wünschte ihn vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Man forschte lange vergeblich nach ihm, endlich aber fand man ihn. Sie fuhren dann beide nach Frankreich zurück.«

»Nach einem langen Krankenlager«, erzählte Monks weiter, »starb sie dort. Auf ihrem Totenbette vermachte sie mir mit diesen Geheimnissen ihren tödlichen Haß gegen alle, die in die Angelegenheit verwickelt waren. Sie wollte nicht glauben, daß das Mädchen sich selbst und dem Kinde ein Leid angetan hätte, sie war vielmehr der festen Überzeugung, daß ein Knabe geboren und am Leben wäre. Ich schwur ihr, wenn der Junge je meinen Weg kreuzen würde, ihn mit unversöhnlicher Feindschaft zu verfolgen und ihn, den prahlerischen Redensarten des beleidigenden Testaments zum Trotz, an den Galgen zu bringen. Sie hatte recht. Er kam mir endlich in den Weg. Der Anfang ließ sich gut an, und wenn dieses verdammte Frauenzimmer nicht geschwatzt hätte, wäre dem guten Anfang auch ein dementsprechender Schluß gefolgt.«

Der Halunke verwünschte laut sich selbst, daß sein bösartiger Plan mißlungen war. Inzwischen erzählte Herr Brownlow den entsetzten Zuhörern, daß der Jude, Monks' Helfershelfer, eine große Belohnung für Olivers Verführung zum Schlechten erhalten hätte. Als der Junge entwich, sollte ein Teil der Summe wieder zurückerstattet werden, und der daraus entstandene Streit sei die Veranlassung gewesen, daß beide jenen Besuch in dem Landhause machten, der Olivers Identität feststellen sollte und diesen so erschreckte.

»Und was wurde aus dem Medaillon und dem Ringe?« fragte Herr BrownIow Monks.

»Ich kaufte sie dem Manne und der Frau ab, die sie der Wärterin gestohlen hatten. Sie wissen, was daraus wurde«, sagte Monks, ohne die Augen zu erheben.

Herr Brownlow gab Grimwig einen Wink, der darauf plötzlich verschwand, aber bald wieder zurückkehrte, Frau Bumble ins Zimmer schob und deren widerstrebenden Eheherrn nach sich zerrte.

»Trügen mich meine Augen?« rief Herr Bumble mit schlechtgespielter Freude, »oder ist dies wirklich der kleine Oliver? Ach, O-Ii-ver, wenn Sie wüßten, wie ich mich um Sie gegrämt habe!«

»Halt's Maul, Dummkopf!« murmelte Frau Bumble.

»Frau, ist's nicht natürlich, ganz natürlich«, entgegnete Bumble, »muß mir nicht das Herz aufgehen, mir, der ich ihn als Gemeindekind erzogen habe, wenn ich ihn hier sitzen sehe zwischen so feinen Damen und Herren? Ich habe den Knaben immer geliebt wie meinen meinen – meinen eigenen Großvater«, sagte endlich Herr Bumble, nachdem er einen passenderen Vergleich nicht gleich gefunden hatte.

»Ach bitte«, fiel Herr Grimwig ein, »unterdrücken Sie Ihre Gefühle!«

»Ich will mir Mühe geben«, sagte Herr Bumble. »Wie geht es Ihnen, mein Herr? Ich hoffe gut.«

Diese Begrüßung war an Herrn Brownlow gerichtet, der sich dem würdigen Ehepaar genähert hatte und nun, auf Monks zeigend, fragte:

»Kennen Sie diesen Mann?«

»Nein!« antwortete Frau Bumble ohne Zögern.

»Aber Sie vielleicht, Herr Bumble?«

»Hab' ihn nie in meinem Leben gesehen!«

»Auch nichts verkauft?«

»Nein!« entgegnete Frau Bumble.

»Sie haben auch nie ein gewisses goldenes Medaillon und einen Ring gehabt?«

»Allerdings nicht. Hat man uns bloß deshalb hierhergeholt, um uns derartig törichte Fragen beantworten zu lassen?«

Herr Brownlow winkte Herrn Grimwig abermals zu, und dieser verschwand wieder, um gleich darauf mit zwei gichtbrüchigen alten Weibern zurückzukehren.

»Sie haben zwar in der Nacht, als die alte Sally starb, die Tür verschlossen«, sagte die eine und hob ihre vertrocknete Hand hoch, »aber Sie konnten weder unsere Ohren noch die Ritzen in der Wand verstopfen.«

»Nein, nein, nein«, fügte die andere kopfwackelnd hinzu.

»Wir hörten, wie die Sterbende versuchte, Ihnen zu sagen, was sie getan, und sahen auch, wie Sie ein Papier aus ihrer Hand nahmen und am andern Tage ins Leihhaus gingen.«

»Haben Sie vielleicht Lust, den Pfandleiher selbst zu sehen?« fragte Herr Grimwig und ging zur Tür.

»Nein«, sagte Frau Bumble, »weil er«, sie deutete auf Monks, »augenscheinlich Memme genug gewesen ist zu beichten, und da Sie unter allen diesen alten Hexen gerade die richtigen herausgefunden haben, so bleibt mir nicht mehr viel zu sagen. Ja, ich verkaufte ihm das Medaillon und den Ring, und der ganze Plunder liegt an einem Orte, wo Sie ihn nie wieder finden können. Und was weiter?«

»Nichts weiter«, antwortete Herr Brownlow, »als daß wir dafür sorgen werden, daß man euch aus euren Beamtenstellungen als unzuverlässig entfernt. Ihr könnt gehen.«

»Ich hoffe«, meinte Herr Bumble bestürzt, als Herr Grimwig mit den beiden alten Weibern wieder verschwunden war, »ich hoffe, daß dieser kleine Zwischenfall mir nicht mein Amt kosten wird.«

»Das wird er allerdings, darauf dürfen Sie sich gefaßt machen und noch froh sein, daß Sie so davonkommen.«

»Es war ausschließlich das Werk meiner Frau, sie wollte es so«, wandte Herr Bumble ein, nachdem er sich vorher mit einem schnellen Blick überzeugt hatte, daß seine Gattin nicht mehr im Zimmer war.

»Das ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, Sie sind für das Gesetz der schuldigere Teil, da in solchen Fällen angenommen wird, Ihr Weib hätte nach Ihrer Anweisung gehandelt.«

»Wenn das Gesetz so etwas annimmt«, erwiderte Herr Bumble und zerknüllte seinen Hut mit den Händen, »so ist das Gesetz ein Esel, ein Dummkopf. Wenn das Gesetz mit solchen Augen sieht, so ist es ein Junggeselle, und ich wünsche ihm das Ärgste, nämlich daß ihm die Augen durch Erfahrung aufgehen mögen, ja durch Erfahrung.«

Nach diesen mit großem Nachdruck gesprochenen Worten stülpte Herr Bumble seinen Hut auf den Kopf, steckte die Hände in die Taschen und folgte seinem trauten Weib.

»Mein liebes Fräulein«, sagte Herr Brownlow, sich zu Rosa wendend, »geben Sie mir mal Ihre Hand. Zittern Sie nicht! Sie brauchen sich vor den paar Worten nicht zu fürchten, die noch zu sagen bleiben.«

»Wenn sie – ich weiß zwar nicht, wie das möglich wäre, doch wenn sie irgendwie mich betreffen, so lassen Sie sie mich ein andermal hören. Ich habe jetzt weder die Kraft noch den Mut dazu.«

»Ach«, sagte der alte Herr, ihren Arm durch seinen ziehend, »Sie sind mutiger, als Sie denken. – Kennen Sie diese junge Dame?«

»Ja«, erwiderte Monks.

»Ich habe Sie nie gesehen«, sagte Rosa leise.

»Aber ich Sie oft«, versetzte Monks.

»Der Vater der unglücklichen Agnes hatte zwei Töchter. Was war das Schicksal der zweiten, des Kindes?« fragte Herr Brownlow.

»Das Mädchen wurde, als der Vater an einem fremden Ort unter einem angenommenen Namen starb, von armen Leuten als eigenes Kind aufgezogen. Der Haß findet jedoch oft den Weg, wo die Liebe fehlgeht, denn meine Mutter entdeckte es nach Jahresfrist. Die Leute waren sehr arm und fingen an, wenigstens der Mann, ihrer Menschenfreundlichkeit müde zu werden. Sie ließ es deshalb da und machte ihnen ein kleines Geldgeschenk, womit sie jedoch keine großen Sprünge machen konnten. Meine Mutter versprach auch weitere Unterstützung, die zu schicken sie jedoch nicht im Sinne hatte. Sie hielt jedoch die Armut der Leute nicht für ausreichend, um das Kind recht unglücklich zu machen. Deshalb erzählte sie den Pflegeeltern noch die Geschichte von der ehrvergessenen Schwester und bat sie, auf das Kind recht acht zu haben. Es wäre doch ein uneheliches aus schlechter Familie, an dem man sicher wenig Gutes erleben würde. Die Umstände schienen dem recht zu geben, und die Leute glaubten alles. Das Mädchen wurde daher übel genug behandelt, so daß selbst wir damit zufrieden sein konnten. Da wollte es der Zufall, daß eine verwitwete Dame aus Chester das Kind sah und es aus Mitleid zu sich nahm. Der Teufel war gegen uns im Bunde, denn trotz aller unserer Bemühungen blieb es bei der Dame und war glücklich. Ich verlor es vor drei Jahren aus den Augen und sah es erst vor einigen Monaten wieder.«

»Sehen Sie es jetzt?«

»Ja – an Ihrem Arm.«

»Aber trotzdem meine Nichte –« rief Frau Maylie, das beinahe ohnmächtig werdende Mädchen mit den Armen auffangend. »Du bleibst mein liebes Kind. Nicht für alle Schätze der Welt würde ich dich hergeben.«

»Sie sind die einzige Freundin, die ich hatte«, schluchzte Rosa an ihrem Busen, »die gütigste, die beste aller Freundinnen. Ich kann soviel auf einmal nicht ertragen, das Herz will mir brechen.«

»Du hast mehr getragen und bist trotzdem immer das gute, edle Mädchen geblieben, das Glück und Sonnenschein überall verbreitete. Komm zu dir, Liebling, sieh, wer es ist, der in deine Arme fliegen will, das arme Kind.«

»Ach, ich werde sie nie Tante nennen«, rief Oliver, seinen Arm um ihren Nacken schlingend, »Schwester, meine liebe Schwester. Meine Herzensrosa!«

Mögen die Tränen, die jetzt flossen, und die abgebrochenen Worte, die in den Umarmungen der beiden Waisen gewechselt wurden, geheiligt sein! Sie blieben lange, lange allein. Ein leises Pochen an die Tür kündigte endlich an, daß jemand draußen sei. Oliver öffnete und ließ Harry Maylie ein, während er selbst hinausschlüpfte.

»Ich weiß alles«, sagte Harry, sich an der Seite des holden Mädchens niederlassend, »ich weiß alles, teuerste Rosa! Ich bin nicht aus Zufall hier, ich habe alles gestern schon gewußt. Errätst du wohl, daß ich komme, um dich an dein Versprechen zu erinnern?«

»Halt!« sagte Rosa. »Du weißt wirklich alles?«

»Alles! Du gabst mir die Erlaubnis, innerhalb eines Jahres auf den Gegenstand unseres letzten Gesprächs wieder zurückzukommen. Nicht um dich zu drängen, deinen Entschluß zu ändern, sondern nur, dich ihn wiederholen zu hören, wenn du noch derselben Ansicht wärest.«

»Dieselben Beweggründe, die mich damals bestimmten, werden mich auch jetzt leiten.«

»Die Aufklärungen heute abend« begann Harry.

»Diese Aufklärungen«, fiel ihm Rosa sanft ins Wort, »lassen mich dir gegenüber in derselben Lage, in der ich mich vorher befand.«

»Du verhärtest dein Herz gegen mich, Rosa!«

»Ach, Harry! Harry!« sagte Rosa, in Tränen ausbrechend, »ich wollte, ich könnte es! Wieviele Schmerzen würde es mir ersparen!«

»Aber warum willst du dir selbst Schmerzen bereiten«, sagte Harry, ihre Hand ergreifend. »Denk doch an das, was du heute abend gehört hast, liebe Rosa!«

»Und was habe ich vernommen?« schluchzte Rosa. »Daß das Gefühl, entehrt zu sein, so stark auf meinem Vater lastete, daß er sich von der Welt scheu zurückzog, wir haben genug über die Angelegenheit gesprochen, Harry, mehr als genug.«

»Noch nicht, noch nicht!« entgegnete der junge Mann, das Mädchen, das aufstehen wollte, zurückhaltend. »Meine Hoffnungen, Wünsche, Aussichten, jeder Gedanke meines Lebens ist anders geworden, nur nicht meine Liebe zu dir. Ich biete dir jetzt keine hohe Stellung in der lärmenden Welt, sondern nur einen stillen Herd, ein Herz und einen Herd, ja, teuerste Rosa, nur diese beiden sind es, die ich dir anzubieten habe.«

»Was willst du damit sagen?« stammelte das Mädchen.

»Nur, daß ich dich nach unserm letzten Abschied mit dem festen Entschluß verließ, alle eingebildeten Schranken zwischen mir und dir niederzureißen. Da meine Welt nicht die deinige sein konnte, so wollte ich deine zu der meinigen machen. Der Geburtsdünkel sollte nicht über dich die Nase rümpfen, deshalb habe ich ihm für immer Lebewohl gesagt. Die Gönner und die hochgestellten Verwandten blicken mich jetzt kaum an. Aber es gibt lächelnde Auen und rauschende Bäume in Englands schönster Provinz, und bei einer Dorfkirche, der meinigen, Rosa, der meinigen, steht ein kleines Landhaus, auf das du mich stolzer machen kannst, als mich alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn gemacht hätten. Das ist jetzt mein Rang und meine Stellung in der Welt und ich lege sie dir hier zu Füßen.«

»Es ist eine harte Geduldsprobe, wenn man mit dem Essen auf ein Liebespaar warten soll«, meinte Herr Grimwig, im Lehnstuhl aus einem kleinen Schlaf aufwachend. »Ich hatte ernstlich im Sinne«, sagte er zu den eintretenden Damen und Harry, »heute abend meinen Kopf aufzuessen, denn es kam mir nachgerade so vor, als sollte ich nichts anderes bekommen. Übrigens nehme ich mir, mit Ihrer Erlaubnis, die Freiheit, die Braut mit einem Kusse zu begrüßen.«

Herr Grimwig verlor keine Zeit, der erbetenen Freiheit die Tat folgen zu lassen, und da Beispiele ansteckend wirken, so taten es ihm der Doktor und Herr BrownIow nach. Gewisse Leute behaupten zwar, daß der Anfang in einem anstoßenden Zimmer von Harry Maylie gemacht wurde, aber die besten Autoritäten erklären das für eine Verleumdung, da an derartiges bei einem jungen Manne, der ein Geistlicher wäre, nicht zu denken sei.


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