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In dem wieder alte Bekannte erscheinen, und das zeigt, wie Monks und der Jude ihre würdigen Köpfe zusammenstecken.
Am Abend des folgenden Tages erwachte Herr William Sikes aus seinem Schlummer und fragte noch schlaftrunken, wieviel Uhr es sei.
Die Stube, in der er lag, war keine von denen, die er vor dem Einbruch bewohnt hatte, aber sie befand sich in demselben Stadtviertel und war nicht weit von seiner früheren Wohnung. Es war ein kümmerliches, kleines Gemach, das nur durch ein einziges kleines Dachfenster Licht erhielt. Auch fehlte es nicht an anderen Zeichen, daß der Ehrenmann in letzter Zeit ziemlich heruntergekommen war. Das wenige Hausgerät, der Mangel aller Bequemlichkeit und sein abgemagertes Aussehen bestätigten es.
Der Räuber lag in einen weißen Mantel gehüllt auf dem Bette und zeigte ein Gesicht, dessen krankhafte Blässe durch den eine Woche alten, schwarzen Stoppelbart nicht verschönert wurde. Der Hund lag neben dem Bette, bald aufmerksam seinen Herrn anblickend, bald die Ohren spitzend und knurrend, wenn irgendein Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Am Fenster saß, mit der Ausbesserung einer dem Einbrecher gehörigen Weste beschäftigt, eine blasse, durch Entbehrungen und Nachtwachen so heruntergekommene Frauensperson, daß man in ihr nicht leicht die frühere Nancy wiedererkannt haben würde, wenn nicht ihre Stimme gewesen wäre, die den alten Klang hatte.
»Es hat vor kurzem sieben geschlagen«, sagte das Mädchen. »Wie geht es dir heute abend, Bill?«
»So schwach wie Wasser«, erwiderte er mit einem kräftigen Fluch. »Reich mir mal die Hand, damit ich aus diesem verwünschten Bette komme.«
Die Krankheit hatte Sikes nicht milder gestimmt, denn als ihm das Mädchen aufhalf und ihn nach einem Stuhl geleitete, fluchte er über ihre Ungeschicklichkeit und prügelte sie.
»Heulst du schon wieder!« fuhr Sikes sie an. »Laß bloß das Geplärre bleiben. Schere dich zum Teufel, wenn du nichts Besseres tun kannst. Verstanden?«
»Jawohl«, sagte das Mädchen, das Gesicht zur Seite wendend, und zwang sich zu einem Lächeln. »Was hast du nur wieder?«
»Hast dich eines Besseren besonnen«, brummte Sikes, als er noch eine in ihrem Auge hängende Träne gewahrte.
»Um so besser für dich.«
»Ach, du kannst heute abend nicht schlecht zu mir sein«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Warum nicht?« brüllte er.
»So viele Nächte«, sagte das Mädchen mit einem Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, die ihrer Stimme eine gewisse Weichheit verlieh, »so viele Nächte habe ich dich wie ein Kind geduldig gewartet und gepflegt und sehe dich heute zum ersten Male wieder bei Besinnung. Du würdest mich nicht so behandelt haben wie eben, wenn du daran gedacht hättest, nicht wahr? Bitte sage, du hättest es nicht getan!«
»Nun ja, ich hätte es wahrscheinlich nicht getan, aber, zum Donnerwetter, da fängt sie schon wieder zu heulen an.«
»Es ist nichts«, sagte Nancy und warf sich in einen Stuhl. »Laß mir einen Augenblick Ruhe, und es ist gleich vorüber.«
»Was wird vorüber sein?« fragte Sikes wütend. »Was ist das wieder für ein Blödsinn. Steh auf und tue etwas, aber bleib mir mit deinem Weiberquatsch vom Leibe!«
Zu jeder anderen Zeit würde diese Aufforderung und der Ton, in dem sie gesprochen wurde, die gewünschte Wirkung gehabt haben. Aber das Mädchen war in der Tat abgespannt und ganz erschöpft, ließ den Kopf auf die Stuhllehne fallen und wurde ohnmächtig, ehe noch Herr Sikes einige passende Flüche ausstoßen konnte, mit denen er bei ähnlichen Gelegenheiten seine Drohungen auszuschmücken pflegte. Da er nicht wußte, was in diesem Falle zu tun sei, denn Nancys hysterische Anfälle waren meistens von jener heftigen Art, die der Kranke gewöhnlich ohne sonderlichen Beistand selbst durchkämpft, so versuchte er es zuerst mit ein bißchen Gotteslästerung, und als sich diese Behandlungsweise als ganz unwirksam erwies, rief er nach Hilfe.
»Was ist los, Freundchen?« fragte der Jude, in die Stube tretend.
»Da, hilf dem Mädchen gefälligst«, schrie Sikes ungeduldig. »Steh nicht da, um zu quatschen und mich anzugrinsen!«
Mit einem Ausruf der Überraschung beeilte sich Fagin, dem Mädchen Beistand zu leisten, während Herr Jack Dawkins (sonst auch der Gannef genannt), welcher nach seinem würdigen Freunde ins Zimmer getreten war, schnell ein Bündel, das er in der Hand trug, auf die Erde warf und Herrn Karl Bates, der ihm auf dem Fuße folgte, eine Flasche aus der Hand riß. In einem Augenblick entkorkte er sie mit den Zähnen und goß der Kranken einen Teil ihres Inhalts in den Mund, nachdem er denselben vorher selbst gekostet hatte, um eine etwaige Verwechslung zu verhüten.
»Bring ihr mit dem Blasebalg etwas frische Luft unter die Nase«, sagte der Gannef zu Karl Bates. »Und Sie, Fagin, reiben ihr die Handflächen, während Bill ihr das Mieder aufmacht!«
Diese vereint angewandten Belebungsmittel übten bald die gewünschte Wirkung aus. Das Mädchen kam allmählich wieder zu sich, wankte nach einem Stuhl am Bett, verbarg ihr Gesicht in den Kissen und überließ es Herrn Sikes, die Neuankömmlinge gebührend zu empfangen.
»Donnerwetter, welch böser Wind hat dich hierher verschlagen?« fragte er Fagin.
»Kein böser Wind, mein Lieber«, antwortete der Jude, »denn schlimme Winde blasen niemand etwas Gutes zu. Ich habe Euch aber etwas Gutes mitgebracht, das Euer Herz erfreuen wird. Gannef, mach doch mal das Bündel auf und gib Bill die Kleinigkeiten, wofür wir heute morgen unser ganzes Geld ausgegeben haben.«
Der Gannef öffnete nun das ziemlich große Bündel, das aus einem zusammengeschlagenen alten Tischtuch bestand, und händigte den Inhalt desselben, Stück für Stück, Karl Bates aus. Dieser legte die Gegenstände unter Lobsprüchen über ihre Vortrefflichkeit auf den Tisch.
»Seht, die Kaninchenpastete, Bill. Köstliche, zarte Tierchen, daß einem sogar ihre Knochen auf der Zunge zergehen und man sie nicht erst abzunagen braucht; und hier den Tee, so stark, daß er beinahe den Deckel der Teekanne in die Luft wirft; und den Zucker, den herrlichen Chesterkäse und dann, was sagt Ihr nun?«
Hier brachte Herr Bates aus einer seiner umfangreichen Taschen eine ziemlich große, sorgfältig verkorkte Weinflasche zum Vorschein.
»Ja!« sagte Fagin, mit zufriedenem Lächeln sich die Hände reibend. »Das wird Euch schmecken, das wird Euch bekommen, Bill.«
»Bekommen?« schrie Sikes. »Ich hätte zehnmal umkommen können, ohne daß du für mich auch nur einen Finger krümmtest. Was soll das heißen, daß du mich über drei Wochen in dieser Patsche sitzen ließest, du falscher Hund, du!«
»Nun hört bloß mal an, Jungens«, sagte der Jude achselzuckend; »und wir kommen her, um ihm alle diese wundervollen Sachen zu bringen.«
»Die Sachen sind ja schön und gut«, meinte Sikes etwas besänftigt, als er den Tisch überblickte, »aber was hast du zu deiner Entschuldigung anzuführen, daß du mich hier krank und ohne alle Mittel liegen ließest, als wäre ich ein Hund wie dieser da. Still, Köter!« brüllte er seinen Hund an, als dieser knurrte. »Also womit kannst du dich ausreden, du altes Gerippe?«
»Ich war über eine Woche von London weg, lieber Freund, in Geschäften.«
»Und die anderen vierzehn Tage? Warum hast du dich da nicht um mich gekümmert, ich hätte krepieren können wie eine kranke Ratte in ihrem Loche!«
»Ich konnt's nicht anders, Bill. Vor so vielen Zuhörern kann ich mich jedoch nicht auf eine lange Erörterung einlassen. Es war mir aber unmöglich. Auf Ehre!«
»Auf – was?« fragte Sikes mit dem Ausdruck höchster Verachtung im Gesicht. »Jungens, schneidet einer mir mal ein Stück von der Pastete ab, damit ich den üblen Geschmack von seiner Ehre aus dem Munde kriege, oder ich ersticke dran!«
»Nicht so hitzig, lieber Freund«, sprach der Jude unterwürfig. »Ich habe Euch nicht vergessen, niemals, Bill.«
»Nein, ich will meinen Kopf verwetten, daß du es nicht tatest«, meinte Sikes höhnisch. »Die ganze Zeit über, als ich hier im Fieber lag, hast du Pläne ausgeheckt. Bill sollte dies und Bill sollte das tun. Und alles sollte Bill spottbillig machen, sobald er wieder gesund und arm genug wäre, um von dir ausgenutzt werden zu können. Hätte ich das Mädchen nicht gehabt, so wäre ich wahrscheinlich verreckt!«
»Das ist's ja gerade, Bill«, sagte der Jude, der begierig den letzten Satz auffaßte. »Wenn Ihr das Mädchen nicht gehabt hättet! Aber war es nicht der arme alte Fagin, der Euch das Mädchen zuführte, und hättet Ihr sie gehabt ohne mich?«
»Weiß Gott, da hat er recht«, meinte Nancy, hastig hervortretend. »Laß ihn, Bill, laß ihn.«
Nancys Einmischung gab dem Gespräch eine andere Wendung, denn die Jungen begannen auf einen Wink des schlauen alten Juden, sie mit Schnaps zu traktieren, von dem sie jedoch nur sparsam genoß. Fagin, der eine große Lustigkeit zur Schau trug, brachte allmählich Herrn Sikes in eine bessere Laune. Er tat so, als betrachte er dessen Drohungen nur als Scherz und belachte den einen oder den anderen derben Witz des Einbrechers recht geräuschvoll. Herr Sikes, der der Schnapsflasche wiederholt in reichlichem Maße zugesprochen hatte, sagte:
»Das ist alles ganz schön und gut, aber ich muß heute noch Draht von dir haben.«
»Ich habe nicht einen Pfennig bei mir«, sagte Fagin.
»Aber haufenweise zu Hause«, entgegnete Sikes, »jedenfalls mußt du Draht heranschaffen.«
»Haufenweise?« rief der Jude in komischem Entsetzen. »Ich habe nicht so viel, wie – «
»Ich weiß nicht, wieviel Zaster du hast, und ich wette, es ist dir selbst nicht einmal bekannt, da eine ziemliche Zeit dazu gehören würde, alle die Goldfüchse zu zählen. Aber ich muß noch heute abend Geld haben und damit basta!«
»Schon gut«, sagte der Jude mit einem Seufzer, »ich werde den Gannef schicken.«
»Das laß man, der würde vielleicht das Wiederkommen vergessen oder den Weg verlieren oder die Greifer würden ihn fassen, so daß er nicht hätte kommen können, um Ausreden ist der ja nicht verlegen. Nancy soll in deine Lasterhöhle mitgehen und den Draht holen. Das ist sicherer; inzwischen werde ich noch ein bißchen pennen!«
Nach vielem Feilschen handelte Fagin die geforderte Summe von fünf Pfund auf drei Pfund vier Schilling und sechs Pence herunter, wobei er wiederholt feierlich beteuerte, daß ihm nur noch achtzehn Pence zum Leben übrigblieben. Herr Sikes meinte mürrisch, das wäre auch genug, worauf Nancy sich zum Fortgehen fertig machte. Fagin nahm nun Abschied von seinem ehrenwerten Freunde und trat, von Nancy und den beiden Jungen begleitet, den Rückweg an, während sich Sikes aufs Bett warf.
Als sie in der Wohnung des Juden ankamen, fanden sie dort Toby Crackit und Herrn Chitling eifrig beim fünfzehnten Spiel Cribbage, das der letztere natürlich mit seinem fünfzehnten und letzten Sixpencestück verlor, zur großen Erheiterung seiner jungen Freunde. Herr Crackit schien sich etwas zu schämen, in einer derartigen Unterhaltung mit einem Menschen getroffen worden zu sein, der hinsichtlich seiner Stellung und Geistesgaben so weit unter ihm den Rang einnahm. Er gähnte und fragte so beiläufig nach Sikes, dann nahm er seinen Hut, um zu gehen.
»Ist niemand hier gewesen, Toby?« fragte der Jude.
»Kein Bein. Es war hier so langweilig wie in der Kirche. Ihr müßt eigentlich mit einer Belohnung herausrücken, daß ich Euch das Haus solange gehütet habe. Weiß der Teufel, mir ist im Kopf so dumm wie einem Geschwornen. Ich wäre glatt eingeschlafen, wenn mich meine Gutmütigkeit nicht bewogen hätte, diesen jungen Menschen da zu unterhalten. Es war furchtbar stumpfsinnig, hol mich der Teufel, wenn's nicht wahr ist.«
Er steckte mit hochmütiger Miene seinen Gewinn in die Westentasche, als wären solche kleinen Silberstücke der Beachtung eines Mannes von seiner Bedeutung gar nicht wert, und verließ das Zimmer in seiner gewohnten vornehmen Haltung. Herr Chitling schickte ihm bewundernde Blicke nach und versicherte, daß er die Bekanntschaft dieses Herrn für fünfzehn Sixpences nicht zu teuer erkauft zu haben glaube.
»Du bist ein schnurriger Kerl, Tom«, sagte Herr Bates, den diese Erklärung höchlich ergötzte.
»Nicht im mindesten«, versetzte Herr Chitling. »Nicht wahr, Fagin?«
»Du bist ein ganz gescheiter Bursche«, sagte der Jude, ihm auf die Schulter klopfend, während er den beiden anderen Jungen einen bezeichnenden Blick zuwarf.
»Und Herr Crackit ist ein großer Stutzer, nicht wahr, Fagin?« fragte Tom.
»Ohne Zweifel, mein Lieber«, erwiderte der Jude.
»Und es gereicht einem zur Ehre, sich seiner Bekanntschaft erfreuen zu dürfen, nicht wahr, Fagin?« fuhr Tom fort.
»Allerdings, sehr. Sie sind nur eifersüchtig, weil er sich mit ihnen nicht abgeben mag.«
»Also da liegt der Hase im Pfeffer«, rief Tom triumphierend. Er hat mich zwar kahl ausgeplündert, aber ich kann ja hingehen und mir wieder neues Geld verschaffen, sobald ich Lust habe, stimmt's, Fagin?«
»Sicher kannst du's«, versetzte der Jude, »und je eher du es tust, desto besser ist's. Sieh zu, daß du deinen Verlust schnell wieder gutmachst, und vertrödle keine Zeit. Gannef, Karl, für euch ist es auch Zeit, an die Arbeit zu gehen, es ist schon zehn Uhr und noch nichts getan.«
Die beiden Jungen nahmen ihre Hüte, nickten Nancy zu und verließen das Zimmer. Sie machten sich unterwegs über Herrn Chitling lustig, obgleich dessen Benehmen, wenn man gerecht sein will, gar nicht so besonders auffallend oder ungewöhnlich gewesen war. Gibt es doch überall viele vortreffliche junge Herren, die weit höhere Summen aufwenden als Herr Chitling, um in guter Gesellschaft gesehen zu werden.
»Nun will ich Ihnen das Geld holen, Nancy. Dieser Schlüssel gehört zu einem kleinen Schrank, wo ich die Sachen aufbewahre, die die Jungen bringen. Ich schließe mein Geld nämlich nie ein, weil ich keins einzuschließen habe, meine Liebe. Ha! Ha! Ha! Es ist ein kümmerliches Geschäft, Nancy, und man hat keinen Dank davon. Aber ich habe die jungen Leute gern um mich, und so hält man eben aus. Pst!« unterbrach er sich und verbarg hastig den Schlüssel in seiner Brusttasche. »Wer mag das sein? Horch!«
Nancy saß mit gekreuzten Armen am Tisch und schien sich für den Besuch nicht sonderlich zu interessieren, als das Geflüster einer Männerstimme an ihr Ohr schlug. Sofort riß sie ihren Hut und Schal ab und warf beides unter den Tisch. Wie sich der Jude umwandte, klagte sie mit matter Stimme über Hitze.
»Ach«, murmelte der Jude, »es ist der Mann, den ich vorhin erwartete. Er kommt die Treppe herab. Sprechen Sie, wenn er da ist, nicht von dem Gelde, Nancy. Er wird nicht lange bleiben – keine zehn Minuten!«
Den Zeigefinger an die Lippen legend, ging der Jude mit der Kerze an die Tür und erreichte sie gleichzeitig mit dem Besucher, der rasch ins Zimmer trat und dicht vor dem Mädchen stand, ehe er es bemerkte.
Es war Monks.
»Eine von meinen Schülerinnen«, erklärte Fagin, als er sah, daß Monks beim Anblick des fremden Gesichts zurückfuhr. »Bleiben Sie ruhig sitzen, Nancy.«
Diese rückte näher an den Tisch und blickte mit gleichgültiger Miene nach Monks hin, dann wandte sie die Augen ab. Als sich Monks aber zu dem Juden umdrehte, schielte sie beobachtend zu ihm hin, daß ein dritter kaum geglaubt hätte, daß diese beiden Blicke von derselben Person wären.
»Neuigkeiten?« fragte der Jude.
»Große.«
»Und – und – gute?« fragte Fagin mit langsamer Stimme, als fürchtete er, den anderen durch große zur Schau getragene Zuversicht zu reizen.
»Jedenfalls keine schlechten«, versetzte Monks lächelnd. »Diesmal war ich fix genug. Doch ich möchte mit Euch allein sprechen.«
Das Mädchen rückte noch näher an den Tisch heran und tat so, als ob sie den Wink nicht verstand. Fagin, der wohl fürchtete, sie möge von dem Geld sprechen, wenn er sie hinausgehen ließ, zeigte nach oben und ging mit Monks aus dem Zimmer.
»Nur nicht wieder in das verfluchte Loch, wo wir neulich waren«, hörte Nancy noch den Mann sagen, als beide die Treppe hinaufstiegen. Fagin lachte und gab eine Antwort, die sie nicht mehr vernehmen konnte. Aus dem Knarren der Dielen schloß sie, daß er seinen würdigen Freund nach dem zweiten Stocke hinaufgeführt hatte.
Kaum waren die Fußtritte der beiden verhallt, als das Mädchen seine Schuhe auszog, aus dem Zimmer eilte und mit unglaublicher Geschwindigkeit geräuschlos die Treppe hinaufflog. Oben verlor sie sich im Dunkel.
Das Zimmer blieb über eine Viertelstunde leer. Dann kam Nancy mit gespensterhaften Schritten wieder zurück, und gleich darauf hörte man auch die beiden Männer herunterkommen. Monks verließ sogleich das Haus, und der Jude holte das Geld. Als er zurückkam, rückte sich das Mädchen gerade ihren Hut zurecht, als ob sie sich zum Gehen vorbereite.
»Donnerwetter, Nancy«, rief Fagin erschrocken, als er das Licht auf den Tisch setzte, »wie blaß Sie aussehen!«
»Blaß?« sagte das Mädchen, ihn fest ansehend.
»Ganz furchtbar. Was ist denn los?«
»Nichts. Aber die dumpfe Luft hier im Zimmer ist angreifend. – Gebt schon das Geld, damit ich fort kann.«
Fagin zählte ihr, mit einem Seufzer bei jedem Stück, das Geld in die Hand, worauf sie sich mit einem einfachen »Gute Nacht!« trennten.
Als sie auf der Straße war, setzte sie sich auf eine Türschwelle nieder und schien ganz erschöpft zu sein, als ob sie unfähig wäre, ihren Weg fortzusetzen. Plötzlich erhob sie sich aber und lief in entgegengesetzter Richtung von Sikes' Wohnung davon. Endlich hielt sie atemlos inne, um neu Luft zu schöpfen. Mit einemmal schien ihr die Besinnung zu kommen, daß sie unfähig war, das, was sie vorhatte, auszuführen. Sie brach in Tränen aus und rang die Hände.
Möglich, daß die Tränen ihr Erleichterung verschafften, oder daß sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannte, genug, sie kehrte wieder um und eilte, um die verlorene Zeit wieder einzubringen, mit großer Hast nach Sikes' Wohnung.
Herr Sikes bemerkte ihre Aufregung nicht und fragte bloß, ob sie das Geld hätte. Auf ihre bejahende Antwort setzte er den unterbrochenen Schlaf fort.
Es war ein Glück für Nancy, daß das Geld Herrn Sikes in den Stand setzte, sich am andern Tage ganz mit Essen und Trinken zu beschäftigen. Das hatte eine so wohltätige Wirkung auf seine Stimmung, daß er weder Lust noch Neigung spürte, sich um ihr Benehmen zu bekümmern. Sein luchsäugiger Freund Fagin würde aber wahrscheinlich ihre Unrast auf den ersten Blick entdeckt haben und auf die Vermutung gekommen sein, daß ihr Aufgeregtsein auf irgendeinen gefährlichen Schritt hindeutete, zu dessen Ausführung sie sich erst nach einem inneren harten Kampf entschließen konnte. Freilich, Herr Sikes hatte nicht diesen scharfen Blick, wie denn auch einem so rauhen Burschen zartere Gefühlsäußerungen nicht leicht auffallen konnten.
Je näher der Abend heranrückte, desto mehr wuchs die Unruhe des Mädchens. Als sie am Bette des Einbrechers saß und wartete, daß er sich in den Schlaf trinken möge, lag eine so ungewöhnliche Blässe auf ihren Wangen, und in ihren Augen blitzte ein solches Feuer, daß es selbst Sikes auffallen mußte.
Dieser, durch das Fieber geschwächt, trank den Schnaps mit heißem Wasser vermischt, damit er weniger aufregend wirke. Er hatte Nancy gerade sein Glas gereicht, damit sie es zum dritten oder vierten Male wieder fülle, als er des Mädchens Blässe gewahrte.
»Zum Henker!« schrie er und richtete sich im Bette auf, »du siehst ja wie eine wandelnde Leiche aus. Was ist dir?«
»Was mir ist?« sagte das Mädchen. »Nichts! Warum starrst du mich so an?«
»Was ist das wieder für ein Blödsinn?« tobte Sikes, dabei faßte er sie am Arm und schüttelte sie derb. »Was ist los? Was bedeutet das? Wo sind deine Gedanken?«
»Bei gar manchem, Bill«, versetzte sie schaudernd und preßte die Hände an die Augen. »Aber, lieber Gott, was ist da komisch dran?«
Der Ton erzwungener Heiterkeit, in dem sie die letzten Worte sprach, schien auf den Einbrecher einen tieferen Eindruck zu machen als ihr starrer Blick vorher.
»Ich will dir mal sagen, was es ist«, sagte Sikes.
»Falls du nicht vom Fieber angesteckt bist und es jetzt selbst kriegst, so führst du etwas Schlimmes im Schilde. Du wirst doch nicht hingehen, nein, Gott verdamm mich, so etwas kannst du nicht tun!«
»Was tun?« fragte das Mädchen.
»Es gibt«, murmelte Sikes vor sich hin und richtete seinen Blick fest auf sie, »es gibt auf der ganzen Welt kein treueres und zuverlässigeres Mädel, sonst hätte ich ihr schon vor drei Monaten den Hals abgeschnitten. Sie hat das Fieber, das ist alles.«
Nachdem er sich so selbst beruhigt hatte, leerte Sikes das Glas und verlangte unter dem üblichen Gefluche seine Arznei. Das Mädchen sprang schnell auf und goß, ihm den Rücken zukehrend, die Medizin in eine Tasse, die er sogleich austrank.
»Nun«, sagte der Räuber, »komm, setze dich zu mir, zeige mir aber dein gewöhnliches Gesicht, wenn du nicht willst, daß ich es dir in einer Weise verändere, die dir das Wiedererkennen schwer macht.«
Nancy gehorchte, und Sikes, der ihre Hand fest umklammerte, legte sich auf die Kissen zurück und heftete den Blick auf sie. Nachdem er sich einigemal unruhig hin und her gewälzt hatte, fielen ihm schließlich die Augen zu, und seine Hand öffnete sich; der Arm fiel schlaff an seiner Seite nieder, und der Einbrecher lag wie in tiefer Betäubung da.
»Der Schlaftrunk hat endlich gewirkt«, murmelte sie, »doch vielleicht ist es jetzt schon zu spät.«
Sie nahm rasch ihren Hut und Schal, sah sich aber alle Augenblicke ängstlich um, als ob sie trotz des Schlaftrunks jede Sekunde den Druck von Sikes' schwerer Hand zu fühlen fürchtete. Dann beugte sie sich langsam über den Schläfer und küßte seine Lippen, worauf sie schnell das Zimmer verließ und aus dem Hause schlüpfte.
Ein Nachtwächter rief halb zehn, und sie fragte, ob es schon lange nach dieser Zeit wäre.
»In einer Viertelstunde wird es voll schlagen«, erwiderte der Mann, ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtend.
»Vor einer Stunde kann ich nicht dort sein«, flüsterte Nancy und rannte eilig die Straße hinunter. Sie jagte auf dem schmalen Pflaster nur so dahin, stieß rücksichtslos die Vorübergehenden in ihrem tollen Lauf an und drängte sich mit Gewalt durch Haufen von Menschen, die ihr im Wege waren.
Es war elf Uhr abends, als sie sich dem Orte ihrer Bestimmung näherte. Dieser war ein Haus in einer ruhigen, aber schönen Straße unweit des Hydeparks. Mit einem raschen Entschlusse trat sie in den Hausflur. Die Pförtnerstube war leer. Sie blickte unsicher umher und ging auf die Treppe zu.
»Nun, junge Frau«, rief ein adrett gekleidetes Dienstmädchen aus einer Tür ihr zu, »zu wem wollen Sie denn?«
»Zu einer Dame, die in diesem Hause wohnt«, antwortete Nancy.
»Zu einer Dame?« fragte das Mädchen und musterte Nancy unverschämt von oben bis unten. »Bitte, zu welcher Dame?«
»Zu Fräulein Maylie!«
Das Dienstmädchen forderte nun einen Diener auf, Nancy die nötige Auskunft zu geben, worauf sich dieser das Gesuch vortragen ließ.
»Wen soll ich melden?« fragte er.
»Der Name tut nichts zur Sache!«
»Und was ist Ihr Anliegen?« fuhr der Bediente fort.
»Das kommt auch nicht in Betracht. Ich muß die Dame selbst sprechen!«
»Da wird nichts draus«, damit schob er sie zur Haustür. »Scheren Sie sich weg!«
»Man kann mich nur mit Gewalt hinausbringen, und dazu dürften wohl zwei wie Sie nötig sein«, schrie Nancy laut. »Ist denn keiner hier«, sagte sie, sich umblickend, »der für ein armes Mädchen eine einfache Botschaft ausrichten will?«
Das machte auf einen gutmütigen Koch, der mit der anderen Dienerschaft dem Auftritte zusah, Eindruck, und er legte sich ins Mittel.
»Weißt du, Joe, tue ihr doch den Gefallen.«
»Hat doch keinen Zweck!« versetzte der Bediente. »Die junge Dame wird doch solche Person nicht annehmen. Das glaubst du wohl selbst nicht!«
Diese Anspielung auf Nancys zweideutiges Aussehen weckte ein gewaltiges Maß tugendhafter Entrüstung in den Herzen der vier Dienstmädchen. Sie erklärten mit großer Geschwätzigkeit, dieses Geschöpf sei eine Schande ihres Geschlechts, und man könne nichts Besseres tun, als sie ohne Gnade auf die Straße zu setzen.
»Fangt mit mir an, was ihr wollt«, sagte Nancy zu den Männern, »aber tut zuerst, um was ich euch bat. Um Gottes willen, richtet meine Botschaft an die junge Dame aus.«
Der gutmütige Koch unterstützte ihre Bitte und erreichte damit, daß der zuerst erschienene Diener die Meldung übernahm.
»Also was soll ich der Herrschaft sagen?« fragte er, mit einem Fuß auf der Treppe.
»Daß ein junges Mädchen dringend um eine Unterredung mit Fräulein Maylie unter vier Augen bittet. Die Dame wird nach meinen ersten Worten schon urteilen können, ob sie mich weiter anhören will oder mich hinauswerfen lassen muß.«
»Ich meine, das ist ein starkes Stück«, sagte einer der Diener.
»Richten Sie das aus«, versetzte Nancy bestimmt, »und lassen Sie mich die Antwort wissen.«
Der Diener eilte die Treppe hinauf. Nancy stand bleich und mit zuckenden Lippen da, als dauernd abfällige Bemerkungen über sie, in denen die züchtigen Dienstmädchen sich gar nicht genugtun konnten, an ihr Ohr drangen. Ihre Beklommenheit nahm noch zu, als der Diener zurückkam und ihr sagte, sie möge hinaufgehen.
»Was hat man eigentlich in der Welt davon, wenn man anständig bleibt?« meinte das eine Dienstmädchen.
»Messing gilt mehr als das im Feuer erprobte Gold«, sagte das zweite.
Das dritte begnügte sich mit der Frage, aus welchem besseren Stoffe wohl Damen sein mögen.
Und das vierte übernahm den Sopran in dem harmonischen Quartett: »Es ist 'ne Sünd' und Schande«, womit die vier keuschen Dianen schlossen.
Ohne auf diese Redensarten zu achten – denn sie hatte wichtigere Dinge auf dem Herzen –, folgte Nancy mit zitternden Knien dem Diener in ein kleines, durch eine Hängelampe erleuchtetes Zimmer. Hier verschwand er, und sie blieb allein.