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Unglückliche Folgen.
Es war ungefähr zwei Stunden vor Tagesanbruch, als der Jude wachend in seiner Höhle mit bleichem Gesicht und blutrot unterlaufenen Augen dasaß, daß er nicht einem Menschen, sondern eher einem aus dem Grabe gestiegenen Gespenste glich.
Er kauerte, in eine alte zerrissene Bettdecke gehüllt, an einem kalten Herd und richtete seinen Blick auf ein dem Erlöschen nahes Licht, das neben ihm auf dem Tische stand.
Auf einer Matratze am Boden lag ausgestreckt Noah Claypole in tiefem Schlafe. Der alte Mann ließ zerstreut seinen Blick zwischen ihm und der Kerze schweifen, deren überhängender Docht den heißen Talg auf das Tischtuch träufeln ließ. Die Gedanken des Juden waren mit anderen Dingen beschäftigt. Der Verdruß über die Vereitlung seines Plans, der Haß gegen das Mädchen, das gewagt hatte, ihn an Fremde zu verraten, das Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit ihrer Weigerung, ihn auszuliefern, die Wut, sich an Sikes nicht rächen zu können, die Furcht vor der Entdeckung und dem Galgen, alles dies ging ihm durch den Kopf und brütete in seinem Hirn neue Pläne schwärzester Bosheit aus.
Er saß regungslos da und kümmerte sich nicht im geringsten um das Entschwinden der Zeit. »Endlich«, murmelte er, als er Schritte auf der Straße hörte. »Endlich!«
Die Klingel ertönte leise. Er schlich zur Haustür und kehrte bald mit einem vermummten Manne zurück, der einen Packen unter dem Arme trug. Es war Sikes.
»Da!« sagte er, das Bündel auf den Tisch werfend. »Verwerte es, so gut du kannst. Es hat mir Mühe genug gemacht, es zu kriegen. Ich wollte schon vor drei Stunden hier sein.«
Fagin nahm den Packen und schloß ihn in den Schrank. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich wieder, starrte aber den Verbrecher unverwandt mit zitternden Lippen an.
»Was ist los?« schrie Sikes. »Warum siehst du mich so an? Sprich!«
Der Jude hob seine rechte Hand hoch und bewegte den Zeigefinger hin und her. Er versuchte zu sprechen, konnte aber nicht.
»Zum Teufel!« schrie Sikes und faßte in seine Brusttasche. »Er ist wahnsinnig geworden, ich muß mich vorsehen.«
»Nein – nein!« sagte Fagin, der endlich seine Sprache wiederfand. »Es ist nicht – Ihr seid es nicht, Bill. Ich habe nichts gegen Euch, gar nichts.«
»Hast nichts gegen mich, wirklich?« entgegnete Sikes und warf ihm einen wilden Blick zu. Er holte seine Pistole aus der Brusttasche. »Das ist ein Glück für einen von uns. Für welchen, ist gleichgültig.«
»Ich habe Euch etwas zu sagen, Bill«, versetzte Fagin, seinen Stuhl näher rückend, »was Euch stark aufregen wird.«
»So?« sagte der Verbrecher mit ungläubiger Miene.
»Rede, aber mach schnell, sonst denkt Nancy, mir ist ein Unglück zugestoßen.«
»Ein Unglück zugestoßen?« rief Fagin. »Sie hat Euch selber eins zugedacht.«
Sikes blickte dem Juden betroffen ins Gesicht, und da er darin nichts lesen konnte, faßte er den Juden am Rockkragen und schüttelte ihn tüchtig mit derber Faust.
»Heraus mit der Sprache oder ich drück' dir die Kehle zu. Mach das Maul auf und rede, du alter Schurke, du!«
»Denkt Euch, der Junge, der hier liegt –« begann Fagin.
Sikes drehte sich nach dem schlafenden Noah um, ließ den Juden los und sagte: »Weiter!«
»Nehmt mal an«, fuhr Fagin fort, »dieser Bursche plauderte aus, verpfiff uns alle – suchte zu diesem Zweck zuerst die rechten Leute und träfe mit ihnen dann auf der Straße zusammen, um ihnen Beschreibungen von uns und unsern Schlupfwinkeln zu geben.« Die Augen des Juden blitzten vor Wut. »Wenn er dies täte, was dann?«
»Was dann?« sagte Sikes mit einem schrecklichen Fluche. »Den Schädel würde ich ihm in so viele Stücke zertreten, als er Haare auf dem Kopfe hat.«
»Aber wie, wenn ich es täte?« rief der Jude mit kreischender Stimme. »Ich, der ich so viel weiß und so viele an den Galgen bringen könnte!«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Sikes zähneknirschend und bei dem bloßen Gedanken schon erblassend. »Aber ich täte im Gefängnis etwas, daß man mich in Ketten legen müßte. Und stünde ich mit dir vor Gericht, würde ich vor den Richtern und allen Menschen dir im Gerichtssaal den Kopf einschlagen. Dein Schädel würde aussehen, als ob ein beladener Wagen darübergegangen wäre.«
»Das würdet Ihr tun?«
»Ob ich's tun würde. Stelle mich mal auf die Probe!«
»Wenn's aber Karl Bates oder der Gannef oder Betsy oder –«
»Mir gleichgültig«, sagte der Einbrecher ungeduldig. »Wer es auch sein mag, ich würde ihm in dieser Weise dienen.«
Fagin sah den Räuber fest an und bückte sich dann über den Jüngling, um ihn aus dem Schlafe zu rütteln. Sikes sah neugierig zu.
»Bolter! Bolter! – Der arme Junge!« meinte Fagin, indem er im Vorgefühl einer höllischen Schadenfreude aufblickte und mit starker Betonung fortfuhr: »Er ist müde, weil er ihretwegen so lange wachen mußte, ihretwegen, Bill!«
»Was soll das heißen?« fragte Sikes, sich im Stuhl aufrichtend.
Der Jude gab keine Antwort, sondern brachte den schlaftrunkenen Noah in eine sitzende Stellung. Dieser gähnte, rieb sich die Augen und guckte sich verwirrt um.
»Erzähle es noch einmal, daß der es auch hört«, sprach Fagin, auf Sikes deutend.
»Was soll ich erzählen?« fragte Noah, sich rekelnd.
»Die Geschichte von – Nancy!« erwiderte der Jude, Sikes' Handgelenk fest umklammernd, als wollte er verhindern, daß er das Haus verließe, ehe er genug gehört hätte. »Du folgtest ihr?«
»Ja.«
»Nach der Londoner Brücke?«
»Ja.«
»Wo sie mit zwei Personen zusammentraf?«
»Ja.«
»Einem Herrn und einer Dame, zu der sie früher schon aus freien Stücken gegangen war. Der Herr forderte sie auf, alle ihre Genossen anzugeben, besonders aber Monks, was sie tat, und ihn zu beschreiben, was sie tat, und zu verraten, in welchem Gasthause wir verkehrten, was sie tat, und zu welcher Zeit man unsere Leute dort treffen könne, was sie tat. Sie beichtete alles, ohne durch eine Drohung dazu gezwungen zu sein. Nicht wahr, das tat sie, das tat sie?« rief der Jude halb verrückt vor Wut.
»Stimmt, genau so verhält sich die Sache«, sagte Noah, sich den Kopf kratzend.
»Und was sprach man vom letzten Sonntag?« fragte der Jude.
»Vom letzten Sonntag?« fragte Noah, sich besinnend. »Na, das habe ich Ihnen doch schon vorhin erzählt.«
»Erzähle es noch einmal, schnell«, schrie Fagin mit wutschäumenden Lippen.
»Man fragte sie«, sagte Noah, dem es jetzt zu dämmern schien, wer Sikes sein möchte, »warum sie letzten Sonntag nicht wie verabredet gekommen sei. Sie erwiderte darauf, sie hätte nicht können.«
»Sag ihm, warum sie nicht hätte können!«
»Weil sie mit Gewalt zurückgehalten worden sei von Bill, dem Manne, von dem sie der jungen Dame schon früher erzählt hätte!«
»Was sagte sie weiter von ihm?« schrie Fagin.
»Nun, sie sagte, es sei schwer, von ihm fortzukommen, ohne daß er wisse, wohin sie gehe. Sie hätte ihm daher das erstemal, als sie die Dame besuchte, einen Schlaftrunk gegeben. Ha! Ha! Ha! Ich mußte lachen, als ich sie so reden hörte.«
»Tod und Teufel!« brüllte Sikes, den Juden zurückstoßend. »Laß mich los.« Er schleuderte den Alten von sich und rannte aus dem Zimmer.
»Bill! Bill!« rief der Jude ihm nacheilend. »Auf ein Wort, nur ein Wort!«
Es wäre zu diesem Worte nicht gekommen, wenn der Verbrecher imstande gewesen wäre, die Haustür zu öffnen, an der er vergebens unter mächtigem Fluchen seine Wut ausließ, als Fagin keuchend anlangte.
»Laß mich hinaus!« tobte Sikes. »Laß mich hinaus, sag' ich dir. Will nichts mehr hören!«
»Nur ein Wort«, sagte der Jude und legte die Hand aufs Türschloß. »Ihr werdet doch nicht«
»Was?«
»Ihr werdet doch – keine Gewalttat begehen, Bill?«
Der Tag brach an, und es war hell genug, daß die Männer ihre Gesichter erkennen konnten. Sie wechselten einen einzigen Blick; in beider Augen glühte ein Feuer, das sich nicht mißdeuten ließ.
»Ich meine«, fuhr der Jude fort, der erkannte, daß Verstellung nutzlos sei, »ich meine, der eigenen Sicherheit wegen, kein Blutvergießen. Seid schlau, Bill, und nicht zu gewalttätig.«
Sikes gab keine Antwort, sondern stürzte sofort aus dem Hause, sobald Fagin geöffnet hatte.
Ohne anzuhalten, mit zusammengebissenen Zähnen stürmte der Räuber nach seiner Wohnung. Er öffnete sie sachte mit dem Schlüssel und ging in sein Zimmer hinauf, dessen Tür er hinter sich zweimal abschloß. Nun schob er die Vorhänge des Bettes zurück.
Auf demselben lag halb angekleidet Nancy. Er rüttelte sie aus dem Schlafe, und sie fuhr mit erschrockenem Gesicht auf.
»Erheb dich!« sagte Sikes.
»Ach, du bist's, Bill?« sprach das Mädchen, erfreut über sein Kommen.
»Ja«, war die Erwiderung. »Steh auf!«
Es brannte ein Licht, aber der Räuber riß es aus dem Leuchter und warf es in den Kamin. Nancy erhob sich und gewahrte, daß der Morgen graute. Sie wollte zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen.
»Laß das«, fuhr Sikes sie an und hielt sie mit der Hand zurück. »Für das, was ich vorhabe, ist's hell genug.«
»Bill!« sagte das Mädchen ängstlich, »was guckst du mich so an?«
Er sah sie eine Weile mit weit aufgerissenen Augen und keuchender Brust an. Dann packte er sie an die Kehle, schleppte sie in die Mitte des Zimmers und mit einem Blick nach der Tür legte er seine schwere Hand auf ihren Mund.
»Bill! Bill!« keuchte das Mädchen in Todesangst, »ich will nicht schreien oder weinen, nicht ein einziges Mal, höre mich an, sprich mit mir, sage mir, was ich getan habe!«
»Du weißt's selbst am besten, du weiblicher Satan, man hat dich heute nacht belauscht und jedes deiner Worte gehört!«
»Dann, um Himmelswillen, schone mein Leben, wie ich deines schonte«, rief Nancy, sich fest an ihn klammernd. »Bill, lieber Bill, du kannst mich doch nicht töten wollen. Bedenk, was ich heute nacht alles deinetwegen aufgegeben habe. Komm wieder zu Sinnen und erspare dir dies Verbrechen. Ich laß dich nicht los, und du kannst mich nicht abschütteln. Bill, Bill, um Gotteswillen, komm zu dir, ehe du mein Blut vergießt! Ich bin dir treu gewesen, bei meiner sündigen Seele, ich war dir treu!«
Der Einbrecher kämpfte vergebens, um seine Arme freizukriegen, die Nancy mit der Kraft der Verzweiflung fest umklammert hielt.
»Bill!« rief das Mädchen, indem sie sich bemühte, ihren Kopf an seine Brust zu legen. »Der alte Herr und die liebe Dame sprachen von einem fernen Lande, wo ich meine Tage in Frieden beschließen könnte. Laß mich noch einmal zu ihnen gehen und sie bitten, dir dieselbe Wohltat zu erweisen. Dann wollen wir beide diesen schrecklichen Ort verlassen und weit von hier ein neues Leben beginnen und uns niemals wiedersehen. Sie sagten mir, Reue komme nie zu spät, ich fühle es jetzt, aber wir müssen Zeit haben, nur ein wenig Zeit.«
Sikes hatte einen Arm freigekriegt und ergriff seine Pistole. Doch mitten in seiner Wut kam ihm der Gedanke, daß der Mord sogleich entdeckt werden würde, wenn er Feuer gäbe; so schlug er Nancy aus Leibeskräften mit dem Kolben zweimal auf das zu ihm emporgehobene, das seine fast berührende Gesicht.
Sie wankte und fiel, fast blind von dem Blut, das aus einer tiefen Stirnwunde ihr Gesicht überströmte. Mit aller Gewalt erhob sie sich mühsam auf die Knie und zog aus ihrem Busen ein weißes Taschentuch – es war Rosas – hielt es mit gefalteten Händen so hoch gen Himmel, als es ihre entschwindenden Kräfte erlaubten und stammelte ein Gebet um Gnade und Erbarmen zu ihrem Schöpfer.
Es war ein gräßlicher Anblick. Der Mörder wankte zurück bis zur Wand und ergriff einen schweren Knüttel. Er bedeckte mit einer Hand sein Gesicht und schlug die Kniende nieder.