Charles Dickens
David Copperfield - Teil 1
Charles Dickens

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David Copperfield.

Einleitung des Herausgebers.

Der Ruhm von Dickens stand nie so hoch als zur Zeit der Vollendung von David Copperfield. Die Popularität, die dieses Buch von Anfang an errang, wuchs in einem Maße wie bei keinem vorhergehenden Werke, mit Ausnahme Pickwicks. Wenn das Talent nicht größer war als im Chuzzlewit, so übte der Gegenstand doch eine größere Anziehungskraft aus; die Begebenheiten waren mannigfaltiger, das Spiel der Charaktere freier, und außerdem herrschte eine allerdings allgemeine und unbestimmte Vermutung, die das Interesse nicht wenig verschärft hatte, daß nämlich der Dichtung etwas aus dem Leben des Autors zugrunde liege. Aus seinem handschriftlichen Nachlasse hat sich nun einerseits ergeben, daß in David Copperfield allerdings Wahrheit und Dichtung eng miteinander verflochten sind, anderseits aber zugleich, daß man mit der Identifizierung von Dickens mit David Copperfield früher viel zu weit gegangen ist. Die Lebensgeschichte des Dichters deckt sich mit der des David Copperfield nicht weiter als die traurigen Hungerford-Szenen reichen! Hier ist nun freilich die interessante Tatsache zu verzeichnen, daß Dickens lange vor der Konzeption des David Copperfield seine Autobiographie zu schreiben begonnen hatte, und daß er das Bruchstück, das von seinen mit Bob Fagin und Paul Green verlebten Jahren handelte, ohne wesentliche Änderungen dem Romane einverleibte. Alles, was über diese Episode hinausgeht, ist nicht Autobiographie, sondern eitel Fiktion. Besonders irrig ist es, in dem Charakter des David Copperfield den von Dickens suchen zu wollen, man müßte denn beide nach Analogie des Satzes einander nahe bringen wollen, daß sich die Gegensätze berühren.

Hat nun auch das Bekanntwerden der wirklichen Dickensschen Lebensgeschichte auf der einen Seite dazu beigetragen, unsern Roman eines guten Teils seines autobiographischen Reizes zu entkleiden, so hat es doch auf der andren Seite zugleich das Interesse an ihm, sowie an allen übrigen Dickensschen Romanen wesentlich erhöht, in die Personen aus dem Kreise des Dichters in poetischer Umhüllung verwoben sind. Der Brauch, Romancharakteren Originale aus dem wirklichen Leben zugrunde zu legen, ist in der englischen Literatur zwar älter als Dickens (schon Smollett und Fielding, auch W. Scott haben ihn befolgt), aber keiner hat ihn in so originaler Weise auszubeuten verstanden wie gerade er. Wo ihm auch eine bemerkenswerte Charakterseite an einem Menschen entgegentrat, griff er sie auf und verwertete sie in seinen Werken. Ja, er ging nach Modellen förmlich auf die Suche. Daß in Mr. Micawber sein Vater porträtiert ist, wurde bereits in der Haupt-Einleitung: »Charles Dickens. Sein Leben und Schaffen« erwähnt.

Die Freiheit, mit der Dickens seine Romanfiguren lebenden Personen anähnelte, fand nicht bei allen, deren er sich bemächtigte, die gleiche Beurteilung. Während die einen ein wahres Vergnügen und selbst eine Ehre darin fanden, ihrem Ebenbilde in Dickensscher Idealisierung oder auch Karikierung in einem seiner Werke zu begegnen, fühlten sich andere unangenehm davon berührt, ihre persönlichen Eigenschaften und häuslichen Verhältnisse durch den Dichter auf den öffentlichen Markt hinausgetragen zu sehen. Obschon nun dem Dichter aus keinem seiner Romane peinlichere Unannehmlichkeiten erwuchsen, als aus Bleak House, in dem er seinen Freund Leigh Hunt unter dem Namen Skimpole eine mehr als zweifelhafte Rolle spielen ließ, so ist es ihm doch auch bei David Copperfield begegnet, daß jemand aus seiner Bekanntschaft Verwahrung dagegen einlegte, sich in unliebsamer Weise in den Roman verflochten zu sehen. Dies geschah von einer Dame, die in Miß Moucher die Karikatur ihres eigenen Ichs erkannte. Nun konnte Dickens zwar das einmal Geschehene nicht ungeschehen machen, aber er wußte doch noch Abhilfe zu schaffen. Während es nämlich ursprünglich in seinem Plane gelegen hatte, die Figur der Miß Moucher in höchst bedenklicher Weise zu verwerten, gab er nun noch zu rechter Zeit der ganzen Sache eine solche Wendung, daß ihr Charakter in durchaus günstigem Lichte erscheint und einen nichts weniger als unangenehmen Eindruck hinterläßt. Wie geschickt der Dichter dabei verfuhr, zeigt sich dem Leser bei einer aufmerksamen Vergleichung des 32. mit dem 22. Kapitel.

Alle Personen, die uns im David Copperfield entgegentreten, hier einzeln Revue passieren zu lassen, hieße der Wirkung des Romans Eintrag tun: die beredteste Sprache zum Herzen des Lesers sprechen sie selbst. Nur über den Roman als Ganzes mögen noch einige Worte hier Platz finden. Keines der Dickensschen Werke nimmt gegenüber der allgemeinen Bemerkung, der Dichter ermangele bis zu einem gewissen Grade der Gabe konsequenter Charakterzeichnung, eine solche Ausnahmestellung ein, wie gerade David Copperfield. Hier heben sich alle Personen in scharfen Konturen voneinander ab, und befinden sich unter ihnen auch nicht gerade jene Meistergebilde, durch die der Dickenssche Humor unsterblich geworden ist, so hat doch die Phantasie des Dichters nirgends eine reichere Fülle gänzlich voneinander verschiedener Charaktere zu schaffen vermocht. In keinem anderen Dickensschen Romane schließt sich die Handlung so folgerichtig und ungezwungen an Charaktere an, von denen sie ausgeht; nirgends zeigt sich des Dichters Begabung für das Pathetische in glänzenderem Lichte als in der Sturmszene am Schlusse des David Copperfield, wo der Leichnam des Verführers tot in die Trümmer des Hauses geschleudert wird, das er verödet, und an die Seite des Mannes, dessen Herz er gebrochen hat, während der eine ebensowenig weiß was ihm mißlungen war zu erreichen, als der andere, was er durch seinen Untergang gerettet. Aus seinem eigenen Munde weiß man, daß dieser Roman das Lieblingsprodukt seines Verfassers von Anfang an gewesen und bis ans Ende geblieben ist; aber auch ohne dieses Zeugnis würde man an der Wärme des Tones, der das ganze Werk durchweht, die liebende Hingabe, die ihm der Dichter gewidmet hat, erkennen. Keiner seiner Romane trägt das Gepräge seines Geistes deutlicher an der Stirne, und keiner wird mehr dazu beitragen, den Namen Dickens späteren Geschlechtern zu übermitteln, als gerade David Copperfield.

Daß die Begebenheiten sich leicht entwickeln und bis ans Ende mit den Charakteren, von denen sie einen Teil ausmachen, in natürlichem und anspruchslosem Zusammenhange stehen, kann wohl hier mit größerer Wahrheit behauptet werden, als von irgend einem anderen Romane von Dickens. Es ist ein Überfluß von eigentümlichen und deutlich erkennbaren Personen darin und ein verschwenderischer Reichtum an Detail; aber die Einheit des Planes und Zweckes ist immer klar, und der Ton ist durchweg der richtige. Durch den Gang der Ereignisse lernen wir den Wert der Entsagung und Geduld, des ruhigen Ertragens unvermeidlicher Übel kennen, und alles in den Schicksalen der handelnden Personen fordert uns auf, unsere edeln Triebe zu stärken und die Reinheit des häuslichen Lebens zu wahren. Es ist daher leicht die außerordentliche Popularität Copperfields zu erklären, auch wenn man nicht das hinzufügt, daß der Roman wohl kaum einen Leser, Mann oder Knaben, Frau oder Mädchen, gehabt haben kann, der nicht entdeckte, daß er selbst etwas von diesem Kinde an sich hatte. Kindheit und Jugend leben für uns alle von neuem in seinen wunderbaren Kindeserfahrungen auf.

Daß das Werk auch seine Fehler hat, ist gewiß, aber keine, die mit den meisterhaftesten Eigenschaften unverträglich sind, und ein Buch wird unsterblich nicht durch den Umstand, daß keine Fehler darin sind, sondern dadurch, daß trotz alledem Genie darin ist. Wer sollte nicht, um nur einige Personen aus diesem Prachtroman namhaft zu machen, Betsey Trotwood lieben? Eckig, rauh, überspannt, aber die Großmut und Rechtschaffenheit selber, ein in allen seinen Teilen gründlich durchgeführter Charakter, ein knorriges Stück weibliches Holz, gesund bis ins Mark, eine Frau, die durch vollkommene Weiblichkeit den zartesten ihres Geschlechtes angehört. Dickens hat an durchgreifender Echtheit und Wahrheit nichts Besseres geschaffen als Betsey Trotwood. Es ist eine ihrer Wunderlichkeiten, einen Narren zum Gefährten zu haben, aber es ist auch eine Wunderlichkeit, in der die größte Angemessenheit und Weisheit liegt. Durch eine in »Wilhelm Meister« hingeworfene Zeile: daß die wahre und zugleich vollkommen mögliche Art, Wahnsinnige zu behandeln darin bestehe, mit ihnen zu verfahren, als ob sie gesund wären, antizipierte Goethe ein Mittel gegen das furchtbarste Leiden der Menschheit, das erst ein Jahrhundert später zur Anwendung gebracht wurde; und was Mrs. Trotwood für Mr. Dick tut, geht noch einen Schritt weiter, indem es zeigt, wie oft man ohne Irrenhäuser fertig werden und wie groß die Zahl schwachsinniger Menschen sein könnte, die sich, mit einiger Geduld, in ihren eigenen Häusern behandeln ließen.

Andere, sowohl durch Wahrheit als durch Wunderlichkeit gleich bemerkenswerte Gestalten sind die freundliche alte Pflegefrau und ihr Mann, der Fuhrmann, dessen Erlebnisse von Liebe wie von Sterblichkeit zusammengedrängt sind in drei seitdem in die allgemeine Verkehrssprache übergegangenen Worte ›Barkis ist willens‹. Und obgleich Miß Dartle eigentümlich unangenehm ist, so hat doch auch sie einige recht natürliche Züge, so z. B. ihre Eigentümlichkeit nie etwas geradeheraus zu sagen, sondern es nur anzudeuten und dadurch die Sache, erst recht aufzubauschen. Was Mrs. Steerforth betrifft, so verdient es Erwähnung, daß Thackeray eine Art Zuneigung für sie fühlte. »Ich wußte, wie es kommen würde, als ich zu lesen anfing« sagte er in einem ganz von ihm selbst handelnden Briefe, den er gleich nach, dem Auftreten von Mrs. Steerforth in dem Romane schrieb. »Meine Briefe an meine Mutter sind gerade so; aber sie hat sie gern, gerade wie Mrs. Steerforth. Gefällt Mrs. Steerforth Ihnen nicht?«

In der Verwandlung des brutalen Schulmeisters der früheren Kapitel in die milde Obrigkeitsperson von Middlesex am Schlusse liegt eine gesunde und sehr wirksame Satire. Auch begegnet man nirgend einem feineren Humor, als bei dem provinziellen Leichenbesorger, der die Kürze seines Atems durch die Fülle seines Herzens ersetzt und so wenig von dem Vampirauge des städtischen Leichenbesorgers in Chuzzlewit hat, daß er sich nicht einmal nach kranken Freunden erkundigen mag, aus Furcht vor unfreundlicher Deutung. Die ganze den Roman durchdringende Mischung von Heiterkeit und Trauer wird geschickt in die Behandlung dieses Teiles aufgenommen, und unter Heiratsanträgen und Vorbereitungen zu Hochzeiten und in das Läuten der Kirchenglocken zur Taufe hört man das beständige Rattattat des Hammers auf dem Sarge.

Von den Heldinnen, die die lebhafte, leicht gelenkte, nicht treulose, aber arg-verwirrte Neigung des Helden teilen, ist die verzogene Torheit und Zärtlichkeit der liebenden, kleinen und so kindlich-naiven Frau Dora anziehender, als die so unfehlbare Weisheit und selbstaufopfernde Güte der engelgleichen Frau Agnes. Die Szenen, die die Liebeswerbung und den Haushalt darstellen, sind unvergleichlich, und die Einblicke in Doktors-Commons, die jene Ansichten Mr. Spenlows über die Eitelkeit der menschlichen Erwartungen und die Inkonsequenz seiner Handlungsweise einleiten, bilden einen höchst angemessenen Hintergrund zu Davids häuslichem Leben. Dies gehörte unter die in den Roman aufgenommenen persönlichen Erlebnisse; aber eine traurigere Erkenntnis stellte sich einige Jahre später mit der Überzeugung ein, daß Davids Vergleiche, während der ersten Zeit seines ehelichen Lebens, zwischen dem Glück, das er genoß, und dem Glück, das er einst erwartete, »der unbestimmte unglückliche Verlust oder Mangel an Etwas«, worüber er so oft klagte (vgl. die Haupt-Einleitung), auch eine persönliche Erfahrung abspiegelten, die in der Wirklichkeit nicht so erfolgreich ersetzt würde als in der Dichtung des Romanes. Schließlich sei noch erwähnt, daß der Einfluß Copperfields auf den deutschen Roman besonders klar zu spüren ist: Hammer und Amboß von Friedrich Spielhagen, und teilweise auch Soll und Haben von Gustav Freytag, sind dem Geiste und besonders in vielen Partien der Handlung nach mehr mit dem Dickensschen Werke verwandt, als sich die beiden Autoren dessen vielleicht selber bewußt waren.

 


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