Charles Dickens
David Copperfield - Teil 1
Charles Dickens

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Zwanzigstes Kapitel.

Steerforth daheim.

Als das Stubenmädchen früh um acht Uhr an meine Tür klopfte und mir anzeigte, daß draußen Rasierwasser für mich stehe, fühlte ich es schmerzlich, daß ich dessen nicht bedurfte, und errötete im Bett darüber. Der Argwohn, das Mädchen habe gelacht, als sie es sagte, quälte mich die ganze Zeit über, als ich mich anzog, und gab mir ein scheues, schuldbewußtes Aussehen, als ich auf dem Weg zum Frühstückszimmer dem Mädchen auf der Treppe begegnete. So empfindlich war mir das Gefühl, jünger zu sein, als ich wünschte, daß ich mich eine Zeitlang gar nicht entschließen konnte, unter den obwaltenden, demütigenden Umständen an ihr vorbeizugehen, sondern, wie ich sie unten den Besen führen hörte, an einem Fenster stehen blieb, und die Reiterstatue König Karls betrachtete, die von einem Labyrinth von Fiakern umgeben war und in dem feinen Regen und dunkelbraunen Nebel nichts weniger als königlich aussah, bis mich der Kellner benachrichtigte, daß der Herr mit dem Frühstück auf mich warte.

Steerforth erwartete mich nicht im Kaffeezimmer, sondern in einem besondern, sehr gemütlichen Zimmer mit roten Vorhängen und türkischen Teppichen, wo ein helles Feuer brannte und ein warmes Frühstück auf dem gedeckten Tisch stand, und wo sich ein niedliches Miniaturbild des Zimmers, des Feuers, des Frühstücks und Steerforths und alles übrige in dem kleinen runden Spiegel über dem Serviertisch abbildete. Ich war anfangs etwas blöde, da Steerforth so selbstbewußt und elegant, und mir in allem, selbst in den Jahren, so überlegen war: aber sein vertraulich aufmunterndes Wesen brachte das bald ins Gleis, und ich fühlte mich ganz zu Hause. Ich konnte nicht genug bewundern, wie sehr er das »Goldene Kreuz« umgewandelt hatte, oder aufhören meine gestrige langweilige Verlassenheit mit der Behäbigkeit und dem Genuß dieses Morgens zu vergleichen. Des Kellners Vertraulichkeit war spurlos verschwunden, als ob sie nie dagewesen wäre: er bediente uns, möchte ich sagen, so feierlich, als wäre es ein Leichenschmaus.

»Nun, Copperfield,« sagte Steerforth, als wir uns allein befanden, »ich möchte wissen, was du treibst, und wohin du gehst, und so weiter. Es kommt mir vor, als ob du mein Eigentum wärst.«

Vor Freude glühend, daß er noch soviel Teilnahme für mich fühlte, erzählte ich ihm, daß meine Tante mich zu dieser kleinen Reise veranlaßt habe, in welcher Absicht und was ihr Ziel sei.

»Da du also keine Eile hast,« sagte Steerforth, »so komm mit zu meiner Mutter nach Highgate und bleib ein oder zwei Tage bei uns. Meine Mutter wird dir gefallen – sie ist ein wenig eitel auf mich, und spricht viel von mir, aber das kannst du ihr verzeihen – und du wirst ihr gewiß auch gefallen.«

»Ich möchte dessen so sicher sein, wie du es freundlich behauptest«, erwiderte ich lächelnd.

»Oh!« sagte Steerforth, »wer mich liebt, hat ohne Ausnahme einen Anspruch auf sie, der sicherlich anerkannt wird.«

»Nun, dann muß ich ihr Günstling werden«, sagte ich.

»Gut!« meinte Steerforth. »Komm und zeige es. Wir wollen uns ein paar Stunden in der Stadt umsehen. – Es ist ordentlich eine Lust, sie einem solchen Neuling wie du bist, Copperfield, zeigen zu können – und dann fahren wir mit der Landkutsche nach Highgate.«

Ich konnte mich kaum von dem Gedanken freimachen, ich träume, und werde sogleich wieder in Nummer 44 oder in der einsamen Nische im Frühstückszimmer mit dem vertraulich tuenden Kellner aufwachen. Nachdem ich an meine Tante über das glückliche Zusammentreffen mit meinem vielbewunderten alten Schulkameraden und über die angenommene Einladung berichtet, fuhren wir in einem Fiaker aus, besichtigten ein Panorama und einige andere Sehenswürdigkeiten, und besahen uns das Museum. Ich konnte dabei nicht umhin zu bemerken, wieviel Steerforth von unendlich vielen Dingen wußte, und wie wenig Wert er auf seine Kenntnisse zu legen schien.

»Du willst dir gewiß einen hohen akademischen Grad erwerben, Steerforth,« sagte ich, »wenn du ihn nicht schon hast; und man wird guten Grund haben, auf dich stolz zu sein.«

»Ich einen Grad erwerben!« rief Steerforth. »Ich gewiß nicht! mein liebes Blümchen – du nimmst es doch nicht übel, wenn ich dich Blümchen nenne?«

»Durchaus nicht!« sagte ich.

»Bist doch ein guter Junge! Liebes Blümchen,« sagte Steerforth, »ich wünsche oder beabsichtige nicht im mindesten, mich in dieser Art auszuzeichnen. Für meine Zwecke habe ich schon genug gelernt. Ich komme mir schon jetzt ziemlich langweilig genug vor.«

»Aber der Ruhm« – fing ich an.

»Du romantisches Veilchen!« sagte Steerforth, und lachte noch herzlicher; »warum sollte ich mich plagen, damit ein Dutzend schwerfälliger Pedanten den Mund aufsperrt und verwundert die Hände in die Höhe hält! Das mögen sie bei einem andern tun, dem will ich den Ruhm gern lassen.«

Ich schämte mich ordentlich, daß ich so sehr fehlgegriffen hatte, und bemühte mich, die Rede auf etwas anderes zu bringen. Das war zum Glück nicht schwer, denn Steerforth konnte immer mit einer ihm eigenen Leichtigkeit und Gewandtheit von einem Gegenstand zum andern übergehen.

Nach unserer Umschau in der Stadt nahmen wir ein zweites Frühstück ein, und der kurze Wintertag verging so schnell, daß wir in unserm Eilwagen erst in der Dämmerung an einem alten ungetünchten Hause in Highgate oben auf der Höhe hielten. Eine ältliche Dame, obgleich nicht sehr bei Jahren, von stolzer Haltung und hübschem Angesicht, stand in der Tür, als wir abstiegen, und schloß Steerforth mit der Begrüßung »mein liebster James« in die Arme. Diese Dame stellte er mir als seine Mutter vor, und sie bewillkommnete mich mit größer Freundlichkeit.

Es war ein stattliches, altmodisches, sehr stilles und wohlgehaltenes Haus. Von den Fenstern meines Zimmers sah ich London in der Ferne wie eine riesige Nebelmasse vor mir liegen, mit einem hier und da durchblickenden Lichte. Ich hatte gerade nur Zeit, während ich Toilette machte, einen Blick auf die gediegene Ausstattung und die Stickereien zu werfen – ich glaube von Mrs. Steerforth als junges Mädchen herrührend –, sowie einige Pastellgemälde mit gepuderten Damen an den Wänden beim Scheine des jüngst angezündeten Kaminfeuers flüchtig zu sehen, als ich zum Diner gerufen wurde.

Im Speisezimmer fand ich noch eine zweite Dame, von kleinerem Wuchs, dunkelm Teint und nicht sehr angenehmem Äußern, obgleich sie nicht häßlich war. Sie zog meine Aufmerksamkeit auf sich, vielleicht weil ich nicht erwartet hatte sie zu sehen, vielleicht weil ich ihr zufällig gegenüber saß, vielleicht auch weil wirklich etwas Bemerkenswertes an ihr war. Sie hatte schwarzes Haar und lebhafte schwarze Augen, war hager und hatte eine Narbe auf der Lippe. Es war eine alte Narbe, die den Mund gegen das Kinn hin durchschnitten hatte, jetzt aber bloß noch als ein schmaler weißer Streif über und auf der Oberlippe zu sehen war. In mir setzte sich sogleich die Vorstellung fest, daß sie ungefähr dreißig Jahre alt sei, und sich einen Mann wünsche. Sie war ein wenig verfallen – wie ein Haus wegen langer Herrenlosigkeit – aber war, wie ich schon oben sagte, nicht gerade häßlich zu nennen. Ihre Hagerkeit schien die Wirkung von innerlich zehrendem Feuer zu sein, das aus ihren dunkeln tiefliegenden Augen herausblitzte.

Sie wurde mir als Miß Dartle vorgestellt, Steerforth und seine Mutter nannten sie Rosa. Ich erfuhr, daß sie im Hause wohnte und seit langer Zeit Mrs. Steerforth Gesellschafterin war. Es schien mir, als ob sie das, was sie sagen wollte, nie offen heraus sagte, sondern es nur umschrieb und es dadurch viel wichtiger erscheinen ließ. Zum Beispiel, als Mrs. Steerforth mehr im Scherz als im Ernste bemerkte, sie fürchte, ihr Sohn lebe etwas zu locker auf der Universität, sagte Miß Dartle:

»O wirklich? Sie wissen, wie wenig ich das kenne, und daß ich nur frage, um mich belehren zu lassen, aber ist das nicht immer so? Ich habe immer geglaubt, das Leben auf der Universität sei immer – nicht?«

»Es ist die Vorbereitung zu einer sehr ernsten Laufbahn, wenn Sie das meinen, Rosa«, antwortete Mrs. Steerforth mit einiger Kälte.

»Oh! Ja! Das ist gewiß sehr richtig«, entgegnete Miß Dartle. »Aber ist es bei alledem nicht –? Ich lasse mich belehren, wenn ich unrecht habe – ist es wirklich nicht –?«

»Was soll es denn wirklich sein?« fragte Mrs. Steerforth.

»Oh! Sie meinen, es ist es nicht!« erwiderte Miß Dartle. »Oh, es freut mich, das zu hören! Nun weiß ich, was ich zu tun habe. Das ist der Vorteil des Fragens. Ich werde nie mehr dulden, daß die Leute das Universitätsleben verschwenderisch und liederlich nennen.«

»Und da tun Sie recht«, sagte Mrs. Steerforth. »Der Lehrer meines Sohnes ist ein sehr gewissenhafter Mann; und wenn ich meinem Sohne kein unbedingtes Vertrauen schenkte, so würde ich ihm vertrauen.«

»Wirklich?« sagte Miß Dartle. »Wirklich! Gewissenhaft ist er! Also wirklich gewissenhaft?«

»Ja, ich bin davon überzeugt«, sagte Mrs. Steerforth.

»Das ist herrlich!« sagte Miß Dartle. »Welch ein Trost! Wirklich gewissenhaft? Da ist er also nicht – aber natürlich kann er's nicht sein, wenn er wirklich gewissenhaft ist. Nun, diese Gewißheit über ihn wird mir in Zukunft eine wahre Erquickung sein. Sie können sich gar nicht denken, wie ihn die Überzeugung, daß er wirklich gewissenhaft ist, in meiner Meinung hebt.«

Ihre eigene Ansicht über jede Frage und ihre Berichtigung jeder Äußerung, die ihr nicht einleuchtete, gab Miß Dartle auf dieselbe Weise zu verstehen; und manchmal, wie ich mir nicht verbergen konnte, mit großem Nachdruck, obgleich im Widerspruch selbst mit Steerforth. Ein Beispiel dieser Art kam noch während des Essens vor. Mrs. Steerforth sprach von meiner beabsichtigten Reise nach Suffolk, und ich warf hin, wie sehr ich mich freuen würde, wenn Steerforth mich begleitete; und indem ich ihnen erzählte, daß ich meine alte Amme und Mr. Peggottys Familie besuchen wollte, erinnerte ich ihn an den Schiffer, den er in der Schule gesehen.

»Aha! Der ehrliche Kauz!« sagte Steerforth. »Er hatte einen Sohn mit, nicht?«

»Nein. Das war sein Neffe,« gab ich zur Antwort, »den er aber als Sohn adoptiert hat. Er hat auch eine sehr hübsche kleine Nichte, die er als Tochter angenommen hat. Mit einem Wort, sein Haus – oder vielmehr sein Boot, denn er wohnt in einem Boot auf den Dünen – ist voll von Leuten, die sein Edelmut und seine Güte erhält. Du wirst dich freuen, diese Häuslichkeit zu sehen.«

»Meinst du?« sagte Steerforth. »Nun, wir wollen sehen, was zu tun ist. Es wäre der Reise wert, einmal mitten unter der Art Leuten zu leben – gar nicht zu sprechen von dem Vergnügen, mit dir zu reisen, Blümchen.«

Mein Herz schlug in der Hoffnung einer neuen Freude. Aber in bezug auf den Ton, in dem er von »der Art Leuten« gesprochen, fing jetzt Miß Dartle, deren glänzende Augen uns beobachtet hatten, wieder an.

»Oh, wirklich? Bitte, sagen Sie mir, sind sie's wirklich?« sagte sie.

»Was sollen sie sein? Und wer soll was sein?« sagte Steerforth.

»Der Art Leute – sind sie wirklich Stöcke und Klötze, und Wesen anderer Art? Darüber möchte ich belehrt sein.«

»Nun, es ist ein ziemlich großer Unterschied zwischen ihnen und uns«, sagte Steerforth obenhin. »Es ist nicht zu erwarten, daß sie so feinfühlend sind wie wir. Ihr Zartgefühl ist nicht sehr leicht zu verletzen. Sie sind entsetzlich tugendhaft, glaub' ich – wenigstens behaupten das manche Leute, und ich will ihnen gewiß nicht widersprechen – aber sie haben kein sehr zartes Gefühl, und sie können dankbar sein, daß es nicht so leicht verwundbar ist wie ihre grobe dicke Haut.«

»Wirklich!« sagte Miß Dartle. »Nein, ich muß gestehen, es hat mich sehr gefreut, so etwas zu hören. Es ist so tröstlich! Es ist ein wahres Vergnügen, zu wissen, daß sie's nicht fühlen, wie sie leiden! Manchmal habe ich mir ordentlich Kummer gemacht um diese Art Leute; aber von nun an werde ich auch gar nicht mehr an sie denken. Man lebt, um zu lernen. Ich gestehe, ich hatte meine Zweifel, aber die sind jetzt verschwunden. Ich wußte es nicht, aber jetzt weiß ich's, und das beweist, wie nützlich es ist, zu fragen – nicht wahr?«

Ich glaubte, Steerforth habe das, was er sagte, nur im Scherz gesagt, oder um Miß Dartle zu foppen, und ich glaubte, er werde mir das erklären, als sie fort war, und wir beide allein vor dem Feuer saßen. Aber er fragte mich nur, was ich von ihr halte.

»Sie ist sehr gescheit, nicht wahr?«

»Gescheit! Sie legt alles auf einen Schleifstein«, sagte Steerforth, »und macht es scharf, wie sie sich und ihr Gesicht seit Jahren scharf gemacht hat. Sie ist halb alle geworden durch beständiges Schärfen. Sie ist ganz Schneide.«

»Was für eine merkwürdige Narbe sie auf der Lippe hat!« sagte ich.

Steerforths Gesicht wurde ein wenig lang, und er schwieg einen Augenblick.

»Hm,« sagte er – »an der bin ich schuld.«

»Durch einen unglücklichen Zufall?«

»Nein. Ich war noch ein kleiner Bengel; sie erzürnte mich, und ich warf mit einem Hammer nach ihr. Ein vielversprechender junger Engel muß ich gewesen sein!«

Es tat mir sehr leid, einen so peinlichen Gegenstand berührt zu haben, aber das konnte jetzt nichts mehr helfen.

»Sie hat die Narbe seit jener Zeit behalten, wie du siehst,« sagte Steerforth, »und sie wird sie mit ins Grab nehmen, wenn sie jemals in einem ruht – obgleich ich kaum glauben kann, daß sie jemals Ruhe finden wird. Sie war das mutterlose Kind eines weitläufigen Vetters von meinem Vater. Er starb, und meine Mutter, die damals Witwe war, nahm sie als Gesellschafterin zu sich. Sie hat ein paar tausend Pfund eigenes Vermögen und schlägt die Zinsen alljährlich zu dem Kapital. Da hast du die ganze Lebensgeschichte von Miß Rosa Dartle.«

»Und ich zweifle nicht, daß sie dich liebt wie einen Bruder?« sagte ich.

»Hm!« entgegnete Steerforth, und sah in das Feuer. »Manche Brüder werden nicht allzusehr geliebt, und manche lieben – aber schenk' ein, Copperfield! Wir wollen trinken.« Das trübe Lächeln, das auf seinem Gesicht geschwebt hatte, verschwand, als er dies mit Heiterkeit sprach, und er war wieder ganz der alte offene und gewinnende Jüngling.

Ich konnte nicht umhin, mit peinlichem Interesse die Narbe zu betrachten, als wir zum Tee hinaufgingen. Ich bemerkte bald, daß es der empfindlichste Fleck ihres Gesichts war, und daß er, wenn sie blaß wurde, sich zuerst veränderte und sich in seiner ganzen Länge als ein bleifarbiger Streif darstellte, ähnlich einem mit unsichtbarer Tinte gezogenen Strich, der an das Feuer gehalten wird. Sie und Steerforth hatten einen kleinen Streit zusammen beim Puffbrettspiel – sie schien einen Augenblick ganz wütend zu sein, und da wurde der Streif sichtbar, wie das alte »Mene Tekel Upharsin« an der Mauerwand.

Ich wunderte mich natürlich nicht, daß Mrs. Steerforth große Stücke auf ihren Sohn hielt. Es war, als ob sie von nichts anderm denken und sprechen könnte. Sie zeigte mir sein Bild als kleines Kind, in einem Medaillon mit seinem Haar; sie zeigte mir sein Bild, aus der Zeit, wo ich ihn zuerst kennen gelernt hatte, und sie trug sein Bild, wie er jetzt war, auf ihrer Brust.

Alle Briefe, die er ihr geschrieben hatte, verwahrte sie in einem Schränkchen neben ihrem Platz am Kamin, und sie würde mir daraus vorgelesen haben, und ich hätte sie gern gehört, wenn er nicht Einspruch getan und es ihr ausgeredet hätte.

»Mein Sohn sagte mir, Sie wären bei Mr. Creakle mit ihm bekannt geworden«, sagte Mrs. Steerforth, als wir uns beide miteinander an dem einen Tisch unterhielten, während der Sohn mit Miß Turtle an einem andern Tisch Puff spielte. »Ich kann mich aus jener Zeit erinnern, daß er mir von einem jungen Schüler erzählte, an dem er Gefallen gefunden hätte, aber wie Sie sich leicht denken können, ist mir Ihr Name nicht erinnerlich geblieben.«

»Er benahm sich damals sehr schön und edel gegen mich, Madame,« antwortete ich, »und ich war eines solchen Freundes sehr bedürftig. Ich wäre ohne ihn ganz unterdrückt worden.«

»Er benimmt sich immer schön und edel«, meinte Mrs. Steerforth mit Stolz.

Ich sagte dazu von ganzem Herzen »ja«, Gott weiß es. Sie fühlte das; denn ihr vornehmes Wesen fing etwas an nachzulassen, außer wenn sie von ihrem Sohne sprach, wobei sie stets eine stolze Miene annahm.

»Es war eigentlich keine passende Schule für meinen Sohn; durchaus nicht! Aber es kamen damals bei der Wahl besondere Umstände in Betracht. Meines Sohnes feuriger Geist machte es notwendig, daß er mit einem Manne zusammenkam, der seine Überlegenheit fühlte, und sich vor ihm beugte, und wir fanden dort einen solchen Mann.«

Ich wußte das, weil ich den Kerl kannte. Und dennoch verachtete ich ihn deshalb nicht noch mehr, sondern hielt es eher für einen Zug, der manches gut machte – wie es überhaupt ein Milderungsgrund war, daß er einem so unwiderstehlichen Menschen wie Steerforth nicht widerstehen konnte.

»Die großen Fähigkeiten meines Sohnes«, fuhr sie in ihrem mütterlichen Stolze fort, »wurden von freiwilligem Wetteifer und selbstbewußtem Stolze angestachelt. Er würde sich gegen jeden Zwang empört haben; aber er war der Herr in der Schule, und war fest entschlossen, sich seines Platzes würdig zu machen. Es sah ihm ganz ähnlich.«

Ich stimmte dem aus vollstem Herzen bei.

»Mein Sohn sagte mir, daß Sie ihn, Mr. Copperfield, förmlich verehrt haben, und daß Sie ihn gestern, als Sie ihn trafen, mit Freudentränen im Auge anredeten. Es würde Heuchelei sein, wenn ich mich überrascht stellen sollte, daß mein Sohn solche Gemütsbewegungen veranlassen könnte, aber ich kann gegen eine Person, die seine Verdienste so tief fühlt, nicht gleichgültig sein, und es freut mich außerordentlich, Sie hier zu sehen, und ich kann Sie versichern, daß er Gefühle ungewöhnlicher Freundschaft für Sie hegt, und daß Sie sich auf seinen Schutz immer werden verlassen können.«

Miß Dartle trieb das Puffspiel mit demselben Eifer wie alles andere. Wenn ich sie das erstemal am Spielbrette gesehen hätte, so müßte ich denken, daß sie selbst mager und ihre Augen groß geworden wären durch die Ausschließlichkeit mit dieser Beschäftigung. Aber ich müßte mich sehr irren, wenn sie nur ein Wort des eben berichteten Gesprächs verlor, oder einen der Blicke, mit denen ich freudeerfüllt zuhörte, und mich, geehrt durch das Vertrauen von Mrs. Steerforth, älter fühlte, als es mir seit Canterbury widerfahren war.

Als der Abend ziemlich weit vorgerückt war, und ein Präsentierbrett mit Gläsern und Flaschen erschien, versprach Steerforth, am Kamin sitzend, daß er ernstlich an die Reise nach Yarmouth denken wolle. Es sei aber keine Eile dabei, meinte er: in einer Woche sei es auch noch Zeit genug; seine Mutter sagte gastfreundlich dasselbe. Während des Gesprächs nannte er mich mehr als einmal Blümchen, was Miß Dartle wieder zu einer Demonstration veranlaßte.

»Aber wirklich, Mr. Copperfield,« fragte sie, »ist das ein Spitzname? Und warum nennt er Sie so? – Vielleicht – vielleicht – weil er Sie für jung und für sehr unerfahren hält? Ich bin so unwissend in solchen Sachen.«

Ich wurde rot, als ich antwortete: »Ich glaube, Sie haben recht.«

»Oh!« sagte Miß Dartle. »Jetzt freut's mich, daß ich es weiß! Ich erbitte immer nur Auskunft, um mich zu belehren, und es freut mich, daß ich es weiß! Er hielt Sie für jung und unerfahren; und Sie sind also sein Freund, das ist ja ganz herrlich!«

Sie ging bald darauf zu Bett, und Mrs. Steerforth folgte ihrem Beispiel. Nachdem Steerforth und ich noch eine halbe Stunde am Feuer gesessen und von Traddles und den übrigen alten Erinnerungen aus Salemhaus geplaudert hatten, gingen wir zusammen hinauf. Das Zimmer von Steerforth stieß an das meinige, und ich trat hinein, um es mir anzusehen. Es war ein wahres Muster von Komfort, voller Lehnstühle, Kissen und Fußschemel, von seiner Mutter mit Stickereien und mit allem, was man nur verlangen konnte, ausgestattet. Ihr hübsches Gesicht sah von der Wand herab auf ihren Liebling, als wenn es noch ein Genuß für sie wäre, ihn im Bildnisse während seines Schlummers zu überwachen.

Ein helles Feuer brannte jetzt in meinem Zimmer, und die vor den Fenstern und um das Bett gezogenen Gardinen gaben ihm ein sehr behagliches Ansehen. Ich nahm in einem großen Lehnstuhl vor dem Kamin Platz, um über mein Glück nachzudenken, und hatte mich eine Zeitlang in diesen Genuß versenkt, als ich bemerkte, daß ein Porträt Miß Dartles mit forschendem Blick vom Kaminsims auf mich herabsah.

Das Bildnis erschreckte mich ordentlich, so sprechend ähnlich war es. Der Maler hatte die Narbe vergessen, ich aber ergänzte sie, und da war sie, bald hervortretend und bald verschwindend, jetzt auf die Oberlippe beschränkt, wie ich sie bei Tisch gesehen, und jetzt wieder, wie sie der Hammer geschlagen hatte, in ganzer Länge dunkelfarbig erscheinend, wenn ihre Trägerin zornig war.

Ich ärgerte mich darüber, daß man sie gerade in meiner Stube untergebracht hatte. Um sie loszuwerden, entkleidete ich mich rasch, löschte das Licht aus und ging zu Bett. Aber während ich im Einschlafen begriffen war, konnte ich nicht vergessen, daß sie mich immer forschend ansah. »Ist's wirklich so? Ich möchte es gern wissen«; so hörte ich ihr ewiges Gefrage, und als ich mitten in der Nacht aufwachte, merkte ich, daß ich im Traume allerlei Leute unruhig gefragt hatte, ob es wirklich so sei oder nicht – ohne zu wissen, was ich meinte.


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