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Auf Peggottys Bitte wurde mir der Entschluß nicht schwer, zu bleiben, bis die sterblichen Reste des Botenfuhrmanns ihre letzte Reise nach Blunderstone verrichtet hatten. Schon seit langer, langer Zeit hatte sie aus ihren eigenen Ersparnissen ein Grab auf dem alten Kirchhofe gekauft; neben dem Grabe ihrer lieben guten Tochter, wie sie immer meine Mutter nannte, dort sollte er ruhen.
Während ich Peggotty Gesellschaft leistete und alles für sie tat, was ich tun konnte (im besten Fall wenig genug!), war ich, und das ist mir jetzt noch eine liebe Erinnerung, so herzlich dankbar, daß es mir möglich sei, ihr einen Dienst zu leisten. Aber ich fürchte, daß ich außerdem ein ungemeines Wohlgefallen empfand, das sowohl persönlicher als geschäftlicher Natur war, weil ich Mr. Barkis' Testament übernahm und seinen Inhalt erklärte.
Ich kann auf das Verdienst des Ratschlags Anspruch machen, das Testament sei in dem Kasten zu suchen. Nach einigem Suchen fand man es unten in einem Futtersack, worin sich außerdem noch, außer einer Quantität Heu, eine alte goldene Uhr mit Kette und Petschaften befand, die Mr. Barkis an seinem Hochzeitstage getragen und die seitdem niemand wieder gesehen hatte, ein silberner Pfeifenstopfer in Gestalt eines Beins, eine Attrappe, die eine Zitrone darstellte, und mit winzigen Täßchen und Untertassen gefüllt war, und die Mr. Barkis vermutlich gekauft hatte, um sie mir zu schenken, als ich noch klein war, von denen er sich aber nachher nicht hatte trennen können. Außerdem fanden wir 87½ Guineen in Gold, 210 Pfund in ganz nagelneuen Banknoten, mehrere Aktien der Englischen Bank, ein altes Hufeisen, ein schlechter Schilling, ein Stück Kampfer und eine Austerschale. Aus dem Umstande, daß diese sorgfältig poliert aussah und auf der Innenseite in prismatischen Farben spielte, schließe ich, daß Mr. Barkis einige undeutliche Vorstellungen von Perlen hatte, die ihm aber nie klar wurden.
Durch viele Jahre hatte Mr. Barkis auf jeder seiner Fahrten diesen Kasten mit sich geführt. Damit er weniger Argwohn erwecke und nicht die Augen Unberufener auf sich zöge, hatte er eine Fabel erfunden, daß er einem Mr. Blackboy gehöre und von Barkis abgeholt werden sollte. Diese Fabel hatte er in aller Ausführlichkeit in Buchstaben, die jetzt kaum noch lesbar waren, auf den Deckel geschrieben.
Er hatte ziemlich viel zusammengescharrt. Seine Hinterlassenschaft in Geld betrug fast 3000 Pfund. Davon vermachte er die Zinsen von einem Tausend Mr. Peggotty, solange dieser lebte; bei seinem Tode sollte das Kapital zwischen Peggotty, der kleinen Emilie und mir oder unsern Erben geteilt werden. Alles übrige vermachte er Peggotty, die er auch zur einzigen Vollstreckerin dieses seines letzten Willens und Testaments einsetzte.
Ich fühlte mich schon ordentlich als ein Proktor, als ich das Dokument mit aller möglichen Feierlichkeit laut vorlas und die einzelnen Artikel wer weiß wievielmal den Beteiligten auseinandersetzte. Ich fing an zu denken, es sei an den Commons doch mehr, als ich mir gedacht hatte. Ich prüfte das Testament mit der größten Aufmerksamkeit, erkannte seine vollkommene Formrichtigkeit an, machte ein paar Bleistiftbemerkungen an den Rand und wunderte mich fast, daß ich so viel von der Sache verstand.
Mit dieser schwierigen Beschäftigung, der Aufnahme eines Inventars der Hinterlassenschaft und mit Raterteilen über alle möglichen Punkte, wegen deren Peggotty sich an mich wendete, verging die Woche vor dem Leichenbegängnis. In der Zwischenzeit sah ich nichts von Emilien, aber ich erfuhr, daß sie in vierzehn Tagen in aller Stille getraut werden solle.
Bei dem Begräbnis spielte ich keine Hauptrolle, wenn ich so sagen darf; ich will damit sagen, daß ich nicht im schwarzen Mantel und langen Kreppbande um den Hut einherschritt, geeignet die Vögel zu verscheuchen, sondern ich ging ganz früh nach Blunderstone hinüber und war auf dem Kirchhof, als die Leiche kam, die nur von Peggotty und ihrem Bruder begleitet wurde. Der verrückte Herr sah aus meinem kleinen Fenster zu: Mr. Chillips Kind wackelte über der Schulter seiner Amme mit seinem schweren Kopfe und stierte mit seinen großen Augen den Geistlichen an, Mr. Omer keuchte im Hintergrunde: sonst war niemand da, und es war sehr still. Wir gingen nach dem Begräbnis noch eine Stunde auf dem Kirchhof auf und ab und nahmen uns von dem Baume über dem Grabe meiner Mutter ein paar junge Blätter zum Andenken mit.
Und jetzt befällt mich ein finsteres Bangen. Eine Wolke schwebt über der fernen Stadt, der ich meine einsamen Schritte zuwende. Ich fürchte mich vor ihr. Kaum kann ich mich überwinden, an das zu denken, was an jenem denkwürdigen Abend geschah und was sich vor meiner Phantasie wiederholen muß, wenn ich in der Erzählung fortfahre.
Es wird aber nicht schlimmer, weil ich es niederschreibe. Die Sache wird nicht besser, wenn ich meine zögernde Hand sinken lasse. Es ist geschehen. Niemand kann es ungeschehen machen; niemand kann es anders machen, als es ist.
Meine alte Kindsfrau sollte mit mir wegen des Testaments am nächsten Tage nach London reisen. Die kleine Emilie blieb den ganzen Tag über bei Mr. Omer. Am Abend wollten wir uns alle in dem alten Boote treffen. Ham wollte Emilie zur gewöhnlichen Stunde nach Hause bringen. Ich wollte vom Kirchhofe heimkehren, wenn es mir paßte und mich auch dort einfinden. Und Bruder und Schwester wollten uns zum Abend erwarten.
Ich nahm Abschied von ihnen am Kirchhofsgitter an der Straße, wo in meiner Kinderzeit die Gurte meiner Phantasie mit Roderik Randoms Rucksack ausgeruht hatten, und ging, anstatt unmittelbar umzukehren, in der Richtung nach Lowestoft eine Strecke spazieren. Dann kehrte ich um und schlug wieder den Weg nach Yarmouth ein. In einem anständigen Wirtshause an der Straße, eine oder zwei Meilen von der früher erwähnten Fähre, aß ich zu Mittag; so verging der Tag und es war Abend, als ich die Stadt erreichte. Es regnete sehr und war ziemlich stürmisch; aber hinter den Wolken stand der Vollmond, und es war nicht ganz finster.
Bald erblickte ich Mr. Peggottys Haus, oder vielmehr das Licht, das durch die Fenster glänzte. Ein kurzer, aber etwas mühsamer Weg über den tiefen Sand brachte mich an die Tür, und ich trat ein.
Wie behaglich es darin aussah. Mr. Peggotty hatte seine Abendpfeife geraucht, und es waren schon einige Vorbereitungen zum Abendessen getroffen. Das Feuer brannte hell, die Asche war zusammengefegt, und der Kasten für die kleine Emilie stand auf seinem alten Platz. Auch Peggotty saß wieder auf ihrem gewohnten Platz und sah aus, bis auf den Traueranzug, als ob sie ihn nie verlassen hätte. Sie war schon wieder auf die Gesellschaft des Arbeitskästchens mit der St. Paulskirche auf dem Deckel, des Yardmaßes und des Stückchens Wachslicht beschränkt; und sie lagen neben ihr, als ob sie nie von ihrer Seite gekommen wären. Mrs. Gummidge schien in ihrer alten Ecke ein wenig grämlich zu sein, befand sich also ebenfalls in ganz natürlichem Zustande.
»Sie sind der erste von allen, Master Davy«, sagte Mr. Peggotty mit glücklichem Gesicht. »Behalten Sie nur den Rock nicht an, wenn er naß ist, Sir.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty,« erwiderte ich und gab ihm meinen Überrock zum Aufhängen; »er ist ganz trocken.«
»Jawohl«, sagte er, nachdem er ihn angefaßt hatte. »Wie ein Spohn! Setzen Sie sich, Sir. Zu Ihnen braucht man nicht erst Willkommen zu sagen; denn Sie sind immer von Herzen willkommen.«
»Danke, Mr. Peggotty, das merkt man Ihnen an! Nun Peggotty«, sagte ich und gab ihr einen Kuß. »Wie geht's, meine Gute?«
»Ha! ha!« lachte Mr. Peggotty, der sich jetzt neben uns setzte und sich in der ganzen Gemütlichkeit seiner Natur behäbig die Hände rieb, »keine Frau auf der ganzen Welt, wie ich ihr immer sage, hat ein Recht, sich so leicht ums Herz zu fühlen wie sie! Sie hat ihre Pflicht um den Seligen getan; und der Selige wußte es; und der Selige hat seine Schuldigkeit gegen sie getan, wie sie ihre Schuldigkeit gegen den Seligen getan hat; und – und – und 's ist alles in Ordnung!« –
Mrs. Gummidge seufzte tief auf.
»Nur heiter, Mutter, immer heiter«, sagte Mr. Peggotty. – Aber er schüttelte den Kopf nach uns hin, indem er voraussah, daß die Begebenheiten der jüngsten Zeit geeignet wären, sie wieder an den Alten zu erinnern. – »Nur nicht niedergeschlagen! Nur ein klein bissel munter, probier's nur, dann wirst du schon ganz von selbst immer vergnügter werden, und alles andere findet sich dann!«
»Bei mir nicht, Dan'l,« erwiderte Mrs. Gummidge, »für mich schickt sich nur einsame Trauer.«
»Nicht doch, nicht doch«, sagte Mr. Peggotty beschwichtigend.
»Ja, Dan'l, ja«, sagte Mrs. Gummidge, »Ich bin nicht die Person, bei Leuten zu leben, die soviel Geld geerbt haben. Alles geht konträr mit mir. Man sollte mich lieber los sein.«
»Na, glaubst du, ich werd's für dich nicht mit ausgeben?« sagte Mr. Peggotty fast mit ernstem Vorwurf. »Was redest du da zusammen? Brauche ich dich jetzt nicht mehr als je?«
»Ich hab's ja gewußt, daß man mich früher nicht gebraucht hat,« rief Mrs. Gummidge, kläglich wimmernd, »und jetzt wird mir's gesagt! Wie könnt' ich auch denken, nützlich zu sein, verlassen und hilflos wie ich bin!«
Mr. Peggotty schien sich über sich selbst zu ärgern, daß er etwas gesagt habe, was einer so herzlosen Deutung fähig sei, kam aber nicht dazu, eine Antwort zu geben, weil ihn Peggotty am Ärmel zupfte und den Kopf schüttelte. Nachdem er die Gummidge ein paar Augenblicke bekümmert angesehen hatte, sah er nach der Holländer Uhr, stand auf, putzte das Licht und stellte es ins Fenster.
»Da steht's!« sagte er vergnügt. »Da sind wir, Mrs. Gummidge!« Mrs. Gummidge seufzte leichter. »Da brennt's nach altem Brauch! – Sie wundern sich wohl, Sir, wozu? Das ist für unsere kleine Emilie, das Licht. Sie sehen, der Weg ist nicht zu hell und nicht gerade erfreulich in der Dunkelheit; und wenn ich gerade zu Hause bin zur Zeit, wo sie kommt, so stelle ich das Licht ins Fenster. Das«, sagte er urgemütlich, indem er sich über mich beugte, »hat einen doppelten Zweck; denn Emilie sagt, wenn sie's sieht: ›Da ist unser Haus!‹, sagt sie; und dann sagt sie: ›Der Onkel ist da!‹ denn wenn ich nicht da bin, stelle ich kein Licht hin.«
»Du bist wie ein kleines Kind«, sagte Peggotty, und das war ihr höchstes Lob.
»Na,« rief Mr. Peggotty, breitbeinig dastehend und sich in gemütlicher Behäbigkeit die Schenkel reibend, wobei er abwechselnd ins Feuer schaute und uns ansah: »Mag ja sein, daß ich eins bin; aber ich sehe jedenfalls nicht so aus.«
»Nicht ak'krat so«, meinte Peggotty.
»Nein,« lachte Mr. Peggotty, »ich seh' nicht akkurat so aus, aber, aber – halten kann man mich dafür. Na, meinetwegen, ich mache mir nichts draus. Aber jetzt will ich euch was sagen. Wenn ich mir das hübsche kleine Haus unserer Emilie besehe, da will ich vertebelholmiert sein«, sagte Mr. Peggotty mit plötzlichem Nachdruck – »na! mehr kann ich nicht sagen – wenn es mir nicht vorkommt, als ob die kleinsten Sachen sie selber wären. Ich nehme sie und lege sie wieder hin, und ich fasse sie so zärtlich an, als wären sie Emilie selber. So ist's auch mit ihrem Hütchen und ihren andern Sachen. Ich litte nicht, daß ein einziges hart angegriffen würde – um die ganze Welt nicht. Da habt ihr ein kleines Kind in Gestalt eines großen Seeigels!« sagte Mr. Peggotty und machte seinen Gefühlen mit einem lauten Lachen Luft.
Auch Peggotty und ich lachten, aber nicht so laut.
»Ich meine,« sagte Mr. Peggotty mit fröhlichem Gesicht, nachdem er mehrere Male auf seine Schenkel geschlagen hatte, »ich meine, daß dies daher kommt, daß ich mit ihr so viel gespielt und getan habe, als wären wir Türken oder Franzosen oder Haifische oder anderes fremdes Volk – wahrhaftig, und Löwen oder Walfische, und wer weiß, was sonst noch alles, – als sie nicht höher war, als meine Knie. Ich hab es mir so angewöhnt. Und dort!« sagte Mr. Peggotty und wies mit fröhlichem Gesicht auf das Licht, »ich weiß recht gut, daß ich es auch hinstellen werde, gerade wie jetzt, wenn sie verheiratet oder fort von hier ist. Ich weiß recht gut, wenn ich abends hier bin – und wo sollte ich sonst wohnen, und wenn ich noch so reich würde! – und sie ist nicht da, so stelle ich das Licht ins Fenster und setze mich vor das Feuer und tue, als ob ich auf sie wartete, wie jetzt. Da habt ihr das kleine Kind«, rief Mr. Peggotty wieder laut lachend, »in Gestalt eines Seeigels! Und selbst jetzt, wenn ich das Licht aufflackern sehe, sag' ich zu mir selber: Sie sieht her! Emilie kommt! Da habt ihr das kleine Kind in Gestalt eines Seeigels! Und ich habe recht,« sagte Mr. Peggotty, indem er sein Lachen unterbrach und die Hände zusammenschlug, »denn da ist sie!«
Es war aber nur Ham. Es mußte wohl stärker regnen als vorhin, denn er hatte einen großen Südwesterhut auf und diesen ins Gesicht gezogen.
»Wo ist Emilie?« fragte Mr. Peggotty.
Ham machte eine Bewegung mit dem Kopfe, als ob sie draußen stünde. Mr. Peggotty nahm das Licht aus dem Fenster, putzte es, stellte es auf den Tisch und schürte emsig das Feuer; da sagte Ham, der sich nicht gerührt hatte:
»Master Davy, wollen Sie einen Augenblick herauskommen und sich ansehen, was Emilie und ich mitgebracht haben?«
Wir gingen hinaus. Als ich an der Tür an ihm vorbeikam, sah ich zu meinem Staunen und Schrecken, daß er totenbleich war. Er schob mich hastig hinaus ins Freie und machte die Tür hinter uns zu. Nur hinter uns zweien.
»Master Davy!« – O dieses gebrochene Herz, wie schrecklich er weinte!
Ich mußte verstummen vor dem Anblick dieses Schmerzes. Ich weiß nicht, was ich dachte, oder was ich fürchtete. Ich konnte ihn nur ansehen.
»Ham! Lieber, guter Ham! Um Gottes willen, sagt mir, was ist geschehen?«
»Mein lieber Schatz, Master Davy – der Stolz und die Hoffnung meines Herzens – sie, für die ich gestorben wäre und jetzt noch sterben würde – sie ist fort!«
»Fort!«
»Emilie ist entführt! Ach, Master Davy, denkt Euch, unter welchen Umständen sie fort ist, wenn ich meinen guten und gnädigen Gott bitte, sie lieber zu töten, sie, die ich vor allen Dingen in der Welt liebe, als daß sie in Schmach und Schande gerät!«
Das Gesicht, das er hinauf zu dem stürmischen Himmel wendete, die zitternden Hände, die sich fest ineinander schlossen, der krampfhafte Schmerz in seinem ganzen Wesen bleiben bis zu dieser Stunde in meiner Erinnerung unzertrennlich mit dieser einsamen, öden Düne verbunden. Es ist dort immer Nacht für mich, und er ist der einzige Gegenstand in der ganzen Landschaft.
»Ihr seid ein studierter Mann«, sagte er hastig, »und wißt, was recht und gut ist. Was soll ich drinnen sagen? Wie soll ich es ihm zu wissen tun, Master Davy?«
Ich sah die Tür aufgehen und versuchte, sie von außen zuzuhalten, um nur einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Es war zu spät. Mr. Peggotty steckte den Kopf heraus, und nie werde ich vergessen, welche Veränderung in seinem Gesichte vorging, als er uns erblickte, nie – und wenn ich fünfhundert Jahre alt würde!
Ich erinnere mich noch an ein lautes, durchdringendes Klagegeschrei, und wie sich die Frauen ihm um den Hals warfen und wir alle im Zimmer standen, ich mit einem Papier in der Hand, das Ham mir gegeben hatte, Mr. Peggotty mit aufgerissener Jacke, zerrauftem Haar, totenblassem Gesicht und Lippen und Blutstropfen auf seiner Brust (ich glaube, es kam aus seinem Munde) und den Blick wie versteinert auf mich geheftet.
»Lesen Sie, Sir«, sagte er mit leiser, gepreßter Stimme. »Aber langsam. Ich weiß nicht, ob ich es sonst verstehen werde.«
Umgeben von Totenstille las ich aus einem tränenbefleckten Briefe:
»›Wenn Du, der Du mich viel mehr liebst, als ich manchmal verdient habe, selbst als ich noch unschuldig war, dies siehst, werde ich weit weg von Dir sein.‹«
»Werde ich weit weg von dir sein«, wiederholte er langsam. »Halt! Emilie weit weg. Gut!«
»›Wenn ich diesen Morgen das geliebte Vaterhaus – das liebe, liebe Haus verlassen habe –‹«
Der Brief war vom Abend vorher datiert.
»›– so werde ich nie wieder zurückkehren, wenn er mich nicht als seine Gattin zurückbringt. Viele Stunden später, nachdem ich fort bin, wirst Du diesen Brief anstatt meiner finden. O, wenn Du wüßtest, wie sehr mein Herz blutet! Wenn Du, den ich so sehr beleidigt habe, daß Du mir nie verzeihen könntest, wissen könntest, was ich leide! Ich bin zu schlecht, um von mir selbst zu schreiben. O, laß es Dir einen Trost sein, daß ich so schlecht bin. Um der himmlischen Barmherzigkeit willen sage dem Onkel, daß ich ihn niemals so sehr geliebt habe wie jetzt. O, vergiß lieber, wie zärtlich und gütig Du gegen mich gewesen bist, – vergiß, daß wir einander heiraten sollten – oder versuche zu glauben, ich sei als kleines Kind gestorben und irgendwo begraben. Bitte den lieben Gott, daß er Erbarmen habe mit meinem Onkel. Sage ihm, daß ich ihn nie so sehr geliebt habe wie jetzt. Sei sein Trost. Liebe ein gutes Mädchen, das meinem Onkel das werden kann, was ich ihm einmal war, und bleibe Dir selbst treu, und lerne keine andere Schande kennen als mich. Gott möge alle segnen! Ich werde oft auf meinen Knien für Euch alle beten. Wenn er mich nicht als seine Gattin zurückbringt und ich nicht für mich selbst bete, so will ich für Euch alle beten. Noch einmal meinem Onkel die herzlichste Liebe. Noch einmal dem Onkel meine letzten Tränen und meinen letzten Dank.‹«
Das war alles.
Lange, nachdem ich aufgehört hatte zu lesen, stand er noch regungslos da und starrte mich an. Endlich wagte ich seine Hand zu ergreifen und ihn zu bitten, so gut ich konnte, sich etwas zu fassen. Er antwortete: »Ich danke, ich danke!« aber rührte sich nicht.
Ham redete ihn an, Mr. Peggotty empfand seinen Schmerz so weit, daß er ihm die Hand drückte; aber sonst blieb er versteinert stehen wie früher, und keiner wagte ihn zu stören.
Endlich wandte er die Augen von mir ab, als wenn er aus einem Traum erwachte, und ließ sie im Zimmer herumschweifen. Dann sagte er mit leiser Stimme:
»Wer ist es? Ich will seinen Namen wissen.«
Ham sah mich an, und plötzlich durchzuckte es mich wie ein elektrischer Schlag.
»Du hast Verdacht auf jemand!« sagte Mr. Peggotty, »Wer ist es?«
»Master Davy!« bat Ham flehend. »Gehen Sie ein Weilchen hinaus, damit ich ihm sagen kann, was ich ihm sagen muß. Sie dürfen es nicht hören.«
Wieder durchzuckte es mich wie vorhin. Ich sank in einen Stuhl und versuchte eine Antwort zu stammeln, aber meine Zunge war wie gelähmt, und vor meinen Augen war ein Schleier.
»Ich will seinen Namen wissen!« hörte ich ihn noch einmal sagen.
»Seit einiger Zeit«, stammelte Ham, »hielt sich manchmal ein Bedienter hier auf. – Auch ein Herr war da. – Beide gehörten zusammen.«
Mr. Peggotty stand so starr da wie vorhin, aber sah ihn jetzt an.
»Den Bedienten«, fuhr Ham fort, »hat man gestern noch mit – unserm armen Mädchen – gesehen. Er hat diese Woche und länger hier herumgelauert. Man glaubte, er sei fort, aber er hatte sich versteckt. Gehen Sie hinaus, Master Davy, ich bitte!«
Ich fühlte wie sich Peggottys Arm um meinen Hals schlang, aber ich hätte nicht von der Stelle gehen können, und wenn das Haus über mir her zusammengestürzt wäre.
»Ein fremder Wagen und Pferde – niemand wußte, wem sie gehörten – stand heute früh fast vor Tagesanbruch auf der Straße nach Norwich«, erzählte Ham weiter, »Der Bediente ging zu dem Wagen und kam von dem Wagen und ging wieder hin. Als er zuletzt hinging, ging Emilie mit ihm. Der andere saß darinnen. Und das ist der Mann.«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen«, sagte Mr. Peggotty, und er trat zurück und streckte die Hand aus, als wollte er etwas, was er fürchtete, von sich fern halten. »Sage nicht: sein Name ist Steerforth!«
»Master Davy,« rief Ham mit gebrochener Summe aus, »es ist nicht Ihre Schuld – und ich gebe Ihnen gewiß nicht die Schuld – – – aber er heißt Steerforth, und er ist ein verfluchter Schurke!«
Kein Laut – keine Träne und keine Bewegung verriet Mr. Peggottys Schmerz, bis er plötzlich wieder aufzuwachen schien und seinen zottigen Flauschrock von dem Riegel in einer Ecke herabnahm.
»Helft mir einmal! Ich bin wie niedergedonnert und kann es nicht zuwegebringen«, sagte er ungeduldig, »Kommt her und helft mir! Gut!« sagte er, als ihm jemand geholfen hatte. »Jetzt gebt mir den Hut her!«
Ham fragte ihn, wohin er gehen wolle.
»Ich will meine Nichte suchen. Ich will meine Emily suchen. Zuerst will ich hingehen und dem verwünschten Boote den Boden einschlagen und es ersäufen, wo ich ihn ersäuft hätte, so wahr ich lebe, wenn ich ihn nur mit einem Gedanken im Verdacht gehabt hätte.« Er blickte wild umher und streckte die geballte Faust aus. »So wahr ich lebe, so, wie er mir gegenübersaß, Auge in Auge, hätte ich ihn ertränkt, und hätte es für recht gehalten! – Ich will meine Nichte suchen.«
»Wo?« sagte Ham und stellte sich vor die Tür.
»Überall! Ich will meine Nichte suchen durch die ganze Welt! Ich will meine arme Nichte aufsuchen in ihrer Schande und sie zurückbringen. Niemand soll mich halten! Ich sage euch, ich will meine Nichte suchen!«
»Nein, nein!« rief Mrs. Gummidge, und trat in hellen Tränen zwischen uns. »Nein, nein, Daniel, nicht in Euerm jetzigen Zustande. Sucht sie in einem kleinen Weilchen, mein armer, verlassener Daniel, und dann ist es ganz recht, aber nicht in Euerm jetzigen Zustande. Setzt Euch, und verzeiht mir, daß ich Euch jemals eine Plage gewesen bin, Daniel – was sind meine Widerwärtigkeiten gewesen gegen Eure? Und wir wollen von den Zeiten sprechen, wo sie noch eine Waise und wo Ham eine Waise war, und wo ich eine arme Witfrau war und Ihr mich aufnahmt. Es wird Euerm armen Herzen wohltun, Daniel,« sagte sie, und legte ihren Kopf auf seine Schulter, »und der Schmerz wird für Euch leichter zu tragen sein, denn Ihr kennt das Wort, Daniel: ›Was ihr dem Kleinsten von diesen getan, das habt ihr mir getan‹, und dies Wort kann nicht zuschanden werden unter diesem Dache, das uns so viele, viele Jahre Schutz gegeben hat.«
Er ließ sich jetzt ganz willenlos führen wie ein Kind, und als ich ihn weinen hörte, da wich der Drang in mir, auf die Knie zu fallen und sie um Verzeihung zu bitten wegen des hereingebrochenen Unheils, wovon doch ich die Grundursache war, da wich der Drang in mir, Steerforth zu verfluchen, und gab einem bessern Gefühle nach. Mein überbürdetes Herz fand dieselbe Erleichterung wie sie, und auch ich weinte.