Charles Dickens
David Copperfield - Teil 1
Charles Dickens

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Elftes Kapitel.

Ich beginne auf eigene Art zu leben und finde daran keinen Gefallen.

Ich kenne jetzt genug von der Welt, um mich fast über nichts mehr zu verwundern oder zu erstaunen; aber es wundert mich dennoch einigermaßen, daß man mich so leichtfertig in einem solchen Alter verstieß. Ein Kind von vortrefflichen Fähigkeiten, mit großer Beobachtungsgabe, von leichten Begriffen, lernlustig, zart, körperlich und geistig leicht verletzbar, sieht es fast wunderbar aus, daß sich niemand meiner im geringsten annahm. Aber es erschien niemand, und ich wurde in meinem zehnten Jahre ein kleiner dienstwilliger Packesel bei Murdstone und Grimby.

Das Geschäft von Murdstone und Grimby lag an der Themse unten bei Blackfriars. Umbauten haben seitdem die Stelle verändert, aber es war das letzte Haus in einer engen Straße, die sich hügelabwärts zu dem Fluß zog und am Ende ein paar Stufen hatte, wo die Leute die Boote zu besteigen pflegten. Es war ein baufälliges, altes Haus mit einem eigenen Badeplatz und einer Badestelle, die zur Flutzeit in das Wasser hineinragte und bei der Ebbe im Schlamm stand, im buchstäblichsten Sinn ein Rattennest. Die holzgetäfelten Stuben, von hundertjährigem Schmutz und Rauch starrend, die morschen Dielen und Treppen, das Quieken und Rascheln der alten grauen Ratten unten in den Kellern, die Unsauberkeit und Verkommenheit des ganzen Gebäudes sind nicht wie Vergangenes in meinem Gedächtnis, sondern wie eben Erlebtes. Sie stehen so deutlich vor mir, als ich sie in der unglückseligen Stunde sah, in der ich zuerst dorthin kam, mich mit zitternder Hand an Mr. Quinion haltend.

Murdstone und Grimby hatten zahlreiche Verbindungen und mit vielen Leuten zu tun; ihr Hauptgeschäft aber war, gewisse Paketschiffe mit Wein und Branntwein zu versorgen. Ich weiß nicht mehr, wohin diese Schiffe hauptsächlich gingen, aber ich glaube, einige davon fuhren nach Ost- und Westindien, Eine große Menge leerer Flaschen häufte sich infolge dieses Handels alltäglich auf, und eine Anzahl Männer und Knaben waren beschäftigt, diese Flaschen zu untersuchen und zu sondern: gegen das Licht zu halten, die beschädigten beiseite zu legen und die übrigen auszuspülen. Wenn die leeren Flaschen aufgearbeitet waren, so galt es, die gefüllten mit Etiketten zu bekleben, zu korken, zu versiegeln oder in Kisten zu verpacken. Das war meine Arbeit, und ich war einer der damit beschäftigten Knaben.

Außer mir waren drei oder vier andre Jungen auf gleiche Weise beschäftigt. Meine Arbeitsstelle wurde mir in einer Ecke des Warenlagers angewiesen, in der mich Mr. Quinion sehen konnte, wenn er sich auf die unterste Sprosse seines Arbeitsstuhles im Kontor stellte und durch ein neben seinem Pult befindliches Fenster spähte. An diese Stelle wurde der älteste der festangestellten Knaben beschieden, an dem ersten Morgen, an dem ich unter so glänzenden Bedingungen mein »selbstständiges« Leben begann, um mich in meine Arbeit einzuweihen. Er hieß Mick Walker und trug eine zerrissene Schürze und eine papierne Mütze. Sein Vater war Kahnführer, wie er mir erzählte, und beim Aufzuge des Lord-Mayors ginge er in einer schwarzen Sammetmütze mit. Dann berichtete er mir gleichfalls, daß unser Hauptgehilfe ein andrer Junge wäre, den er mir unter dem absonderlichen Namen Kartoffelkloß vorstellte. Indessen erfuhr ich, daß er nicht auf diesen Namen getauft war, sondern daß man ihm denselben nur im Geschäft beigelegt hatte, wegen seines blassen kartoffelartigen Aussehens. Der Vater vom Kartoffelkloß war Wasserträger, bekleidete aber daneben auch noch die Stelle eines Feuermanns bei einem der größeren Theater, in dem eine junge Verwandte von Kartoffelkloß, ich glaube es war seine kleine Schwester, Zwergrollen in den Pantomimen gab.

Keine Worte können die geheime Seelenqual beschreiben, als ich zu dieser Gesellschaft herabsank, als ich diese täglichen Mitarbeiter mit den Genossen meiner glücklicheren Kinderjahre verglich, um gar nicht einmal Steerforth, Traddles oder meine übrigen Mitschüler anzuführen, als ich in meiner Brust die Hoffnung ganz geknickt fühlte, einst zu einem gelehrten, ausgezeichneten Manne heranzuwachsen. Ich kann nicht beschreiben, wie mich das Bewußtsein niederdrückte, daß mir jetzt gar keine Hoffnung mehr darauf bliebe, nicht beschreiben, wie ich mich meiner Stellung schämte, welche Qual es meiner jungen Seele verursachte, mir zu sagen, daß mit jedem Tage alles was ich gelernt und gedacht, woran ich mich erfreut, was meine Phantasie und mein Streben angeregt hatte, ganz allmählich entschwinden würde und mir unwiederbringlich verloren ginge. So oft sich Mick Walker im Laufe des Vormittags entfernte, mischte ich meine Tränen mit dem Wasser, in dem ich die Flaschen wusch, und schluchzte, als sollte mir die Brust zerspringen.

Die Kontoruhr zeigte halb eins, und alles machte sich zum Mittagsessen bereit, als Mr. Quinion ans Fenster klopfte und mich hereinrief. Ich gehorchte und fand drinnen einen wohlbeleibten Mann von mittleren Jahren, in einem braunen Überzieher und schwarzen engen Hosen und Schnallenschuhen, mit einem kahlen Kopf, der so glatt war wie ein Ei, und einem vollen, breiten Gesicht. Die Kleider waren schäbig, aber er hatte ungeheuere Hemdkragen, sog. Vatermörder. In der Hand hielt er einen ziemlichen Stock, der seinerzeit ein glänzendes Exemplar gewesen war und noch ein paar große, ehemals schwarze Quasten hatte. Vor der Brust hing ihm eine Lorgnette, wie ich später fand, nur zur Zierde, denn er benutzte sie selten und konnte nichts erkennen, wenn er hindurchsah.

»Das ist er«, sagte Mr. Quinion und deutete auf mich.

»Das ist Master Copperfield?« sagte der Unbekannte mit einer gewissen affektierten Herablassung in seiner Stimme und in seinem Benehmen, die einen großen Eindruck auf mich machte. »Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir.«

Ich sagte: Ja, und hoffte das gleiche von ihm. Der Himmel weiß es, es war mir ziemlich schlimm zumute; aber es lag nicht in meiner Art, viel zu klagen, und so sagte ich, ich befände mich »ganz wohl« und hoffe von ihm das gleiche.

»Ich befinde mich ganz wohl, Gott sei Dank!« sagte der Unbekannte. »Ich habe einen Brief von Mr. Murdstone empfangen, in dem er mich ersucht, in einem Zimmer in dem hintern Teile meines Hauses, das jetzt unvermietet ist und – und –« platzte der Fremde in einem Anfall von Vertraulichkeit mit einem Lächeln heraus, »als Schlafstube vermietet werden soll, den jugendlichen Anfänger aufzunehmen, den ich jetzt das Vergnügen habe, zu –« hier brach der Unbekannte ab, machte eine theatralische Handbewegung und zog das Kinn in den Hemdkragen zurück.

»Das ist Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion zu mir.

»Hm!« sagte der Fremde. »Das ist mein Name.«

»Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion, »ist mit Mr. Murdstone bekannt. Er sammelt Aufträge für uns, wenn er sie bekommen kann. Mr. Murdstone hat an ihn wegen deiner Wohnung geschrieben; er wird dich als Mieter zu sich nehmen.«

»Meine Adresse«, sagte Mr. Micawber, »ist Windsor-Terrasse City Road. Ich – kurz,« sagte Mr. Micawber und fiel aus derselben vornehmtuenden Redeweise plötzlich wieder in den vertraulichen Ton – »kurz, ich wohne dort.«

Ich machte eine Verbeugung.

»In der Voraussetzung,« sagte Mr. Micawber, »daß Ihre Exkursionen in dieser Metropole bisher nicht sehr ausgedehnt gewesen sein können, und daß es Ihnen einigermaßen schwerfallen dürfte, die Mysterien des modernen Babylon in der Richtung des City Road zu durchdringen – kurz,« sagte Mr. Micawber wieder mit plötzlicher Vertraulichkeit, »daß Sie sich verlaufen könnten, werde ich so frei sein, Sie diesen Abend abzuholen, um Sie in die Kenntnis des nächsten Weges zu meinem Domizil einzuweihen.«

Ich dankte ihm von ganzem Herzen, denn es war freundlich von ihm, diese Mühe freiwillig zu übernehmen.

»Zu welcher Stunde, Mr. Micawber, soll ich –«

»Gegen acht«, sagte Quinion.

»Also gegen acht«, sagte Mr. Micawber. »Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen, Mr. Quinion. Ich will nicht länger stören.«

Er setzte seinen Hut auf und ging hinaus, den Stock unter dem Arme, hochaufgerichtet und ein Liedchen summend, als er das Kontor hinter sich hatte.

Mr. Quinion engagierte mich alsdann förmlich als Gehilfen in der Weinniederlage von Murdstone und Grimby mit einem Salär, glaube ich, von sechs Schillingen wöchentlich. Ich weiß nicht mehr genau, ob es sechs oder sieben waren; aber aus der Unsicherheit meiner Erinnerung vermute ich, daß ich erst sechs und später sieben erhielt. Er bezahlte mich eine Woche im voraus – aus seiner Tasche glaube ich, – und ich gab davon dem Kartoffelkloß eine Sixpence, damit er meinen Koffer abends nach Windsor Terrace trage, weil ich ihn, so klein er war, doch noch nicht tragen konnte. Fernere Sixpence zahlte ich für mein Mittagessen, das aus einem Stück Fleischpudding und in einem Trunk aus dem nächsten Brunnen bestand, und verbrachte die Stunde, die für die Mahlzeit freigegeben war, mit Herumschlendern durch die nächsten Straßen.

Abends zur bestimmten Stunde stellte sich Mr. Micawber ein. Ich wusch mir Hände und Gesicht, um mich mit seiner Vornehmheit in größeren Einklang zu bringen, und wir gingen zusammen nach »unsrer« Wohnung, wie ich wohl sagen kann. Unterwegs machte mich Mr. Micawber auf die Namen der Straßen und das Aussehen der Eckhäuser aufmerksam, damit ich am andern Morgen wieder den Rückweg finden könnte.

In seinem Hause in der Windsor-Terrasse angekommen, das, wie ich bemerkte, ebenso schäbig war wie er, aber auch wie er so viel wie möglich auf äußern Schein hielt, stellte er mich der Mrs. Micawber vor, einer dünnen und welken und durchaus nicht mehr jungen Dame, die, mit einem Kinde an der Brust, in der Wohnung im ersten Stock saß, denn das ganze Parterre war gar nicht möbliert: die Vorhänge waren aber schlauerweise heruntergelassen, um die Nachbarn zu täuschen. Der Säugling gehörte zu einem Zwillingspaar; und ich will gleich hier bemerken, daß ich während meiner ganzen damaligen Bekanntschaft mit der Familie schwerlich jemals die Brust der Mutter ohne einen der Zwillinge sah. Mit einem der Kinder war sie stets beschäftigt, um es zu nähren.

Außerdem waren noch zwei andere Kinder vorhanden: Master Micawber, etwa vier, und Miß Micawber, etwa drei Jahre alt. Dazu kam noch ein junges, schwarzes Dienstmädchen, das beständig den Stockschnupfen zu haben schien und als Waise aus dem benachbarten St. Lukas-Armenhause stammte. Mein Zimmer war unter dem Dache nach dem Hofe hinaus, klein und schmal, weiß und blau gemalt mit Ornamenten, die für meine kindliche Phantasie eine Reihe von Semmeln bildeten, und sehr dürftig möbliert.

»Ich hätte nie gedacht,« sagte Mrs. Micawber, als sie mit den beiden Zwillingen herauf kam, um mir meine Behausung zu zeigen, und sich setzte, um Atem zu schöpfen, – »ich hätte nie geglaubt, ehe ich heiratete und noch bei Papa und Mama war, daß ich einmal an fremde Leute würde vermieten müssen. Aber da Mr. Micawber in Bedrängnis ist, müssen alle Rücksichten auf selbstische Gefühle vergessen werden.«

Ich sagte: »Jawohl, Madame!«

»Mr. Micawbers Bedrängnisse sind in diesem Augenblick gerade fast erdrückend,« fuhr Mrs. Micawber fort, »und ob es möglich sein wird, ihn wieder herauszubringen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hause war bei Papa und Mama, verstand ich kaum, was das Wort in dem Sinne zu bedeuten hat, in dem ich es jetzt gebrauche, aber experientia ist die beste Lehrmeisterin – wie Papa zu sagen pflegte.«

Ich weiß nicht mehr recht, ob sie mir sagte, daß Mr. Micawber Marineoffizier gewesen wäre, oder ob ich es mir nur einbildete. Ich weiß nur noch, daß ich bis zu dieser Stunde glaube, daß er einmal bei der Marine gewesen ist, ohne einen Grund für diese Annahme anführen zu können. Gegenwärtig war er eine Art Stadtreisender für verschiedene Häuser, machte aber, wie ich fürchte, wenig oder gar keine Geschäfte dabei.

»Wenn Mr. Micawbers Gläubiger nicht warten wollen,« sagte Mrs. Micawber, »so müssen sie die Folgen tragen; und je eher desto besser. Blut läßt sich aus keinem Steine pressen, und auf Abschlag kann Mr. Micawber jetzt nichts bezahlen, von Gerichtskosten ganz abgesehen.«

Ich weiß nicht, ob meine frühreife Selbständigkeit Mrs. Micawber über mein Alter irre machte oder ob die Sache sie so sehr erfüllte, daß sie davon sogar den Zwillingen erzählt hätte, wenn sie niemand anders gehabt hätte – aber in diesem Tone fing sie an und redete weiter während der ganzen Zeit unseres Zusammenwohnens.

Die arme Mrs. Micawber! Sie habe sich keine Mühe verdrießen lassen, sagte sie; und daran zweifle ich nicht. Die Haustür war halb verdeckt von einer großen Messingplatte mit der Aufschrift: »Mrs. Micawbers Pension für junge Damen«, aber ich erfuhr nie, daß sich hier eine junge Dame in Pension gegeben hätte oder angemeldet worden wäre. Die einzigen Besuche, die das Haus empfing, waren Gläubiger.

Diese kamen freilich zu allen Stunden des Tages und waren manchmal fuchsteufelswild. Ein Mann mit schmutzigem Gesicht – ich glaube, es war ein Schuster – pflegte z. B. schon um sieben Uhr morgens in den Flur zu kommen und die Treppe hinaufzurufen: »Mr. Micawber! kommen Sie nur heraus! Ich weiß, daß Sie noch zu Hause sind! Wollen Sie mich bezahlen – he?! Verstecken Sie sich nur nicht! Das ist gemein und erbärmlich! Pfui, schämen Sie sich was! Wollen Sie bezahlen?! Hören Sie?!! Heraus mit Ihnen!« Als er auf solche Stachelreden keine Antwort erhielt, verstieg er sich in wachsendem Zorne zu »Schwindler!« und »Räuber!« und wenn auch diese Kraftausdrücke wirkungslos blieben, ging er in seiner Wut manchmal so weit, sich auf der Straße gegenüber Mr. Micawbers Wohnung hinzupflanzen und zu dessen Fenstern im zweiten Stocke hinaufzubrüllen, wo, wie er wußte, sein Schuldner wohnte. Dann konnte Mr. Micawber vor Gram und Aufregung dazu gebracht werden – worauf ich einmal durch einen Schrei Mrs. Micawbers aufmerksam gemacht wurde –, sich mit dem Rasiermesser nach der Gurgel zu fahren, wenn er auch eine halbe Stunde später mit minutiösester Sorgfalt seine Stiefel putzte und ausging, und mit weltmännischer Gelassenheit eine muntere Arie trällerte. Ganz so elastisch war auch Mrs. Micawber. Ich habe es erlebt, daß sie um drei Uhr Ohnmachtsanfälle bekam, wenn der Steuerbote erschien – und daß sie um vier Uhr mit bestem Appetit panierte Lammsrippchen aß und warmes Ale dazu trank, was mit dem Erlös für zwei zum Pfandleiher gewanderte Teelöffel bezahlt war. Eines Tages, an dem ich zufällig schon um sechs Uhr nach Hause gekommen war, fand ich sie, nachdem eben eine Pfändung stattgefunden hatte, unter der Herdnische in Ohnmacht liegen (natürlich mit einem Zwilling an der Brust), das Haar wild zerrauft, und noch denselben Abend erzählte sie mir, so heiter wie noch nie, mit einem Kalbskotelett am Herdfeuer beschäftigt, Geschichten von ihrem Papa und ihrer Mama und von den Gesellschaften, die sie zu geben pflegten.

In diesem Hause, bei dieser Familie verbrachte ich meine freie Zeit. Mein eigenes Frühstück, bestehend aus einem Groschenbrötchen und Milch für einen Groschen, besorgte ich mir selbst, ebenso reservierte ich mir auf einem bestimmten Brett eines bestimmten Schrankes ein anderes kleines Laibchen mit einem bißchen Käse zum Abendessen, wenn ich nach Hause kam. Daß dies schon ein fühlbares Loch in meinen mit sechs oder sieben Schillingen gefüllten Beutel machte, wußte ich wohl: mußte ich mich doch mit dieser Summe die ganze Woche beköstigen! Kurz – von Montag früh bis Sonntag abends spät keinen Rat, keine Ermunterung, keinen Trost, keine hilfreiche Hand irgend einer Art von irgend jemand. Und das ist die Wahrheit, so wahr ich selig zu werden hoffe!

Ich war so jung und kindisch und so wenig geeignet, ohne Beaufsichtigung für mich zu sorgen (wie hätte es auch anders der Fall sein können), daß ich oft früh, wenn ich zu Murdstone und Grimby ging, dem Anblick des zum halben Preise in einem Konditorladen ausgestellten altbackenen Kuchens nicht widerstehen konnte und dazu das Geld verwendete, das zu meinem Mittagsessen bestimmt war. Dann fastete ich mittags oder kaufte mir ein Brötchen oder eine Schnitte Pudding.

Ich erinnere mich an zwei Puddingläden, die ich abwechselnd mit meiner Kundschaft erfreute, je nach dem Stande meiner Finanzen. Der eine befand sich in einem Hofe dicht hinter der St. Martinskirche, die jetzt abgebrochen ist. Der Pudding von dort war mit Johannisbeeren gefüllt und besonders gut, aber freilich auch teuer, denn für zwei Pence gab es nur so viel, wie wo anders weniger gute Ware für einen Penny. Ein guter Laden für diesen billigern war am Strand in einer Gegend, die heutzutage gleichfalls umgebaut ist. Das war ein schwerer, quadderiger Pudding mit Rosinen darin, aber äußerst dünn gesät. Er war gerade immer warm aus dem Ofen zu haben, wenn ich vorbeikam, und das war so manchen Tag mein ganzes Mittagessen. Wenn ich regelrecht und gut zu Mittag aß, so nahm ich eine gekochte Rindfleischwurst und ein Groschenbrötchen, oder einen Teller Rindfleisch für vier Pence aus einer Garküche, oder Brot und Käse und ein Glas Bier aus einer elenden Winkelkneipe, unserm Geschäft gegenüber, die sich stolz »Zum Löwen« nannte, vielleicht auch gar »Zum goldenen Löwen« – ich habe die genaue Bezeichnung vergessen!

Einmal, ich kann mich noch daran erinnern, trug ich mein Brot, in Papier eingewickelt, wie ein Buch unter dem Arme, ging in ein renommiertes flottes Speisehaus in Drury Lane und bestellte mir eine halbe Portion Boeuf à la mode, das dort einen Ruf hatte. Was der Kellner gedacht haben mag, als ich so mutterseelenallein eintrat, weiß ich nicht, aber ich sehe ihn noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie er auch noch den andern Kellner holte, um mich gemeinschaftlich mit ihm anzustarren. Ich gab ihm einen halben Penny Trinkgeld und wünschte nur, er hätte ihn nicht genommen.

Wir hatten, glaube ich, eine halbe Stunde Vesperzeit. Wenn ich hinreichend Geld hatte, ließ ich mir ein Quart Melangekaffee geben mit Butterbrot. Hatte ich keines, so ging ich auf die Suche und sah mich an dem Schaufenster einer Wildbrethandlung in Fleetstreet satt, oder ich schlenderte bis zum Coventgardenmarkt und gaffte die Ananasse an. Ich schlenderte sehr gern umher, namentlich in Adelphi, wo mir die dunkeln Bogengänge so verhängnisvoll vorkamen. Ich sehe mich noch eines Abends aus einem dieser Bogen treten und mich einer kleinen Schenke bei dem Fluß nähern, vor der sich eine freie Stelle befand, auf der ein paar Kohlenträger miteinander tanzten. Ich setzte mich auf eine Bank und sah ihnen zu. Was sie wohl von mir gedacht haben mögen!

Ich war noch so sehr Kind und noch so klein, daß oft, wenn ich in ein fremdes Wirtshaus trat und ein Glas Ale oder Porter forderte, um mein Hungerleidermahl damit hinunterzuspülen, daß sie es mir oft zu geben zauderten. Ich weiß noch, wie ich an einem warmen Abende an das Büfett eines Bierhauses trat und zu dem Wirte sagte:

»Was kostet das Glas von Ihrem allerbesten Ale?« denn es war eine besonders festliche Gelegenheit, vielleicht gar mein Geburtstag.

»Zwei einen halben Pence ist der Preis für das echte extrastarke«, sagte der Wirt.

Dann sagte ich und legte das Geld hin: »Geben Sie mir ein Glas von dem echten Doppel-Ale, frisch vom Fasse – aber bitte eine schöne Schaumkappe mit drauf.«

Der Wirt hinter dem Schenktisch sah mich von Kopf bis zu Füßen mit einem seltsamen Lächeln auf seinem Gesichte an; und anstatt das Bier aus dem Fasse einzuschenken, blickte er hinter die spanische Wand und sagte etwas zu seiner Frau. Sie kam hervor, ihre Näharbeit in der Hand, und musterte mich jetzt auch. Und ich sehe uns drei noch ganz deutlich vor mir. Der Wirt in Hemdärmeln lehnte gegen das Fensterkreuz des Schenkzimmers, die Frau sah über die halbe Zwischentür und ich, außerhalb des Verschlages stehend, blickte verdutzt zu ihnen auf. Sie fragten mich vielerlei, wie ich heiße, wie alt ich sei, wo ich wohne, was ich treibe und wie ich dazu komme? Auf alle diese Fragen erfand ich, um niemand zu kompromittieren, passende Antworten. Dann versorgten sie mich mit Bier, obgleich ich vermute, daß es nicht das echte, extrastarke Doppel-Ale war; und als ich damit fertig war, öffnete die Frau des Wirtes die Klappe des Buffetts, beugte sich über mich, gab mir mein Geld zurück und einen Kuß dazu, der halb bewundernd und halb mitleidig, aber recht mütterlich war.

Ich weiß, ich übertreibe nicht unbewußt oder unabsichtlich die Knappheit meiner Einkünfte oder die Schwierigkeit meines damaligen Lebens. Ich weiß, daß wenn mir Mr. Quinion einen Schilling gab, ich ihn für Mittagbrot oder Vesper verwendete. Ich weiß, daß ich von früh bis spät abends als ärmliches Kind unter Männern und Knaben der untersten Stände arbeitete. Ich weiß, daß ich mich in den Straßen umhertrieb, unzweckmäßig und ungenügend ernährt. Ich weiß, daß ich ohne die Barmherzigkeit Gottes infolge der Vernachlässigung, die man gegen mich übte, ein kleiner Dieb oder Taugenichts hätte werden können.

Dennoch nahm ich bei Murdstone und Grimby eine gewisse Sonderstellung ein. Außer daß Mr. Quinion tat, was ein so viel beschäftigter und im ganzen so oberflächlicher Mann tun konnte, um mich auf anderm Fuße als die übrigen zu behandeln, äußerte ich niemals gegen meine Gefährten, wie ich an diesen Ort gekommen war, und nie im mindesten verriet ich, daß ich darüber bekümmert war. Daß ich im geheimen aufs tiefste litt, erfuhr niemand außer mir. Wie sehr ich litt, läßt sich gar nicht mit Worten schildern, wie ich schon sagte. Aber ich behielt meinen Schmerz für mich und verrichtete meine Arbeit. Ich begriff von vornherein, daß wenn ich nicht ebensogut wie die übrigen arbeitete, ich mich nicht vor Geringschätzung und Mißachtung schützen könnte. Bald wurde ich auch mindestens so flink und anstellig wie irgend einer der andern Lehrlinge, und obwohl ich mich immer freundlich zu ihnen zeigte, waren mein Betragen und meine Manieren doch so verschieden von den ihrigen, daß sich eine natürliche Grenze zwischen uns bildete. Die Männer nannten mich gewöhnlich »das Herrchen« oder »den jungen Suffolker«. Ein gewisser Gregory, der oberste der Packer, und ein anderer namens Tipp, der Rollkutscher, der eine rote Jacke trug, redeten mich zuweilen »David« an, aber ich glaube, es war in besonders vertraulichen Momenten, oder wenn ich mich bemüht hatte, sie bei der Arbeit zu unterhalten mit irgend einer Erzählung aus den früher gelesenen Büchern, die jetzt rasch meinem Gedächtnis entschwanden. Kartoffelkloß rebellierte einst gegen meine Ausnahmestellung, aber Mick Walker legte es ihm im Umsehen.

Den Gedanken an eine Erlösung aus diesem Dasein hatte ich ganz aufgegeben. Ich bin fest überzeugt, daß ich mich nicht eine Stunde lang damit aussöhnte oder mich anders als höchst unglücklich fühlte, aber ich duldete still, und selbst Peggotty entdeckte ich teils aus Liebe zu ihr und teils aus Scham in keinem Briefe die Wahrheit, obgleich ich viele schrieb.

Mr. Micawbers Verlegenheiten vermehrten noch die Last auf meinem Gemüte. In meiner Verlassenheit wurde ich der Familie ordentlich zugeneigt und ging herum, beschäftigt mit Mr. Micawbers Berechnungen von Auskunftsmitteln und beschwert mit der Last von Mr. Micawbers Schulden. Sonnabend nachmittag, wo mein Hauptfest war – teils weil es etwas Großes war, mit sechs oder sieben Schilling in der Tasche nach Hause zu gehen, nach den Läden zu blicken und zu denken, was man mit einer solchen Summe alles kaufen könne, teils weil ich zeitig nach Hause ging – machte mir Mrs. Micawber im Vertrauen die herzzerreißendsten Mitteilungen; auch Sonntags früh, wo ich die Portion Tee oder Kaffee, die ich mir des Abends zuvor gekauft hatte, in einem kleinen Rasiertopf wärmte und lange beim Frühstück blieb. Es war gar nicht ungewöhnlich, daß Mr. Micawber zu Anfang dieser Sonnabendsunterhaltung heftig schluchzte und gegen Ende ein lustiges Lied zum besten gab. Es kam vor, daß Mr. Micawber in Tränen gebadet zum Abendessen nach Hause kam und erklärte, jetzt bliebe ihm nur noch das Gefängnis übrig, und zu Bette ging, mit einer Berechnung beschäftigt, wieviel es wohl kosten würde, seine Wohnung mit Erkerfenstern ausstatten zu lassen, für den Fall, »daß sich etwas finden sollte«, wie seine Lieblingsredensart lautete. Und Mrs. Micawber war genau ebenso.

Eine merkwürdige freundschaftliche Gleichheit, die vielleicht ihren Ursprung in unsern gegenseitigen Verhältnissen fand, entsprang zwischen mir und diesen Leuten trotz der lächerlichen Verschiedenheit unserer Jahre. Aber nie ließ ich mich bewegen, eine der vielen Einladungen, mit ihnen zu essen oder zu trinken, anzunehmen, denn ich wußte recht gut, daß sie mit Bäcker und Fleischer schlecht standen und oft nicht zuviel für sich hatten, bis Mrs. Micawber mir ihr ganzes Vertrauen schenkte. Dies tat sie eines Abends mit folgenden Worten:

»Master Copperfield,« sagte Mrs. Micawber, »ich betrachte Sie nicht als Fremden und stehe daher nicht an, Ihnen zu sagen, daß Mr. Micawbers Geldverlegenheiten jetzt zu einer Krisis kommen.«

Das betrübte mich tief, und ich sah Mrs. Micawbers rote Augen mit der größten Teilnahme an.

»Mit Ausnahme der Kruste von einem Holländer Käse – die doch für kleine Kinder nicht zum Essen taugt –« sagte Mrs. Micawber, »ist auch buchstäblich kein Krümchen mehr in der Speisekammer. Als ich mich noch bei Papa und Mama befand, war ich gewohnt, von der Speisekammer zu sprechen, und ich brauche das Wort, fast ohne es zu wissen. Ich will damit nur sagen, daß nichts zu essen im Hause ist.«

»O Gott!« sagte ich ganz erschrocken.

Ich hatte noch zwei oder drei Schillinge von meinem Wochengelde in der Tasche – woraus ich schließe, daß es Mittwoch abend gewesen sein muß – zog sie eilfertig aus der Tasche und bat Mrs. Micawber mit aufrichtig gefühlter Teilnahme, sie als Darlehen anzunehmen. Aber sie küßte mich, steckte mir wieder das Geld in die Tasche und sagte, daß daran nicht zu denken sei.

»Nein, lieber Master Copperfield,« sagte sie, »das sei ferne von mir! Aber Sie sind verständig über Ihre Jahre hinaus und können mir einen andern Dienst erweisen, wenn Sie wollen, und einen Dienst, den ich mit Dank annehmen werde.«

Ich bat Mrs. Micawber, ihn mir zu nennen.

»Das Silberzeug habe ich schon selbst verpfändet«, sagte Mrs. Micawber. »Sechs Tee-, zwei Salz- und ein paar Zuckerlöffel habe ich zu verschiedenen Zeiten im geheimen mit eigenen Händen versetzt. Aber die Zwillinge sind ein großes Hindernis; und für mich mit meinen Erinnerungen an Papa und Mama sind diese Gänge sehr schmerzlich. Ein paar Kleinigkeiten können wir immer noch entbehren. Aber Mr. Micawber würden seine Empfindungen nie gestatten, sie persönlich zu versilbern; und Clickitt – das Mädchen aus dem Armenhause – ist eine gemeine Seele und würde sich unangenehme Freiheiten herausnehmen, wenn man ihr so viel Vertrauen schenkte. Master Copperfield, wenn ich Sie bitten dürfte –«

Ich verstand jetzt Mrs. Micawber und bat sie, ganz über mich zu verfügen. Schon diesen Abend fing ich an, die tragbaren Gegenstände im Hause zu verwerten, und trat eine ähnliche Expedition fast jeden Morgen an, ehe ich ins Geschäft ging.

Mr. Micawber hatte auf einer kleinen Kommode ein paar Bücher, die er seine Bibliothek nannte; diese kamen zuerst an die Reihe. Ich trug eines nach dem andern zu einem Antiquar in City-Road und verkaufte sie um jeden Preis. Die eine Hälfte dieser Straße, in der Nähe unserer Wohnung, war ganz von Buch- und Vogelhändlerläden eingenommen. Der Antiquar, der in einem kleinen Hause unweit seines Standes wohnte, pflegte sich jeden Abend zu betrinken und jeden Morgen von seiner Frau tüchtig ausgescholten zu werden. Mehr als einmal, wenn ich frühzeitig hinging, traf ich ihn noch im Bette, entweder mit einer Wunde in der Stirn oder einem blauen Auge als Erinnerung für seine nächtlichen Ausschweifungen – er mußte wohl in der Trunkenheit rauflustig sein –, und er suchte dann mit zitternder Hand die nötigen Schillinge in den verschiedenen Taschen seiner Kleider zusammen, die auf dem Boden herumlagen, während sein Weib, mit einem Kind auf den Armen und in niedergetretenen Schuhen, nie aufhörte zu keifen. Manchmal hatte er das Geld verloren, und dann hieß er mich wiederkommen. Aber seine Frau hatte immer ein paar Schillinge – die sie ihm vielleicht während der Trunkenheit aus der Tasche geholt hatte – und schloß den Kauf heimlich auf der Treppe ab, während wir zusammen hinunter gingen.

Auch bei dem Pfandleiher wurde ich sehr bekannt. Der Hauptbuchhalter, der hinter dem Ladentisch saß, schenkte mir viel Beachtung und ließ mich oft, während ich mein Geschäft mit ihm abschloß, ein lateinisches Substantiv oder Adjektiv deklinieren oder ein lateinisches Verbum konjugieren. Nach derartigen Geschäften bereitete mir Mrs. Micawber meistens ein kleines Vergnügen in Gestalt eines bescheidenen Abendessens, und diese Abende hatten für mich immer einen besonderen Reiz.

Endlich kamen Mr. Micawbers Bedrängnisse zu einer Krisis, und er wurde eines Morgens früh verhaftet und in das Kings-Bench-Gefängnis in dem Borough gebracht. Als er fortging, sagte er zu mir, daß der Gott des Tages jetzt für ihn versunken sei – und ich glaube wirklich, ihm und mir war das Herz gebrochen. Aber ich hörte später, daß er noch vor Mittag 12 Uhr kreuzvergnügt eine Partie Kegel geschoben hatte.

Am ersten Sonntag seiner Verhaftung sollte ich ihn besuchen und bei ihm essen. Ich sollte mich erst bis nach einem Platz durchfragen, dann sollte ich kurz vorher in eine Straße einbiegen, dann würde ich einen Hof sehen, ihn quer überschreiten und immer geradeaus gehen, bis ich zu dem Gefangenwärter käme. Das tat ich alles nach Vorschrift. Als ich endlich den Gefangenwärter fand (ich armes kleines Bürschchen!), dachte ich daran, als Roderick Random im Schuldgefängnis saß, sei ein Mann dort gewesen, der nichts angehabt hätte als eine alte wollene Decke, und ich konnte zuletzt den Schließer nicht mehr sehen, wegen meiner überströmenden Augen und wegen meines klopfenden Herzens.

Mr. Micawber wartete auf mich hinter dem Einlaßpförtchen, und wir gingen hinauf in sein Zimmer im vorletzten Stock unter dem Dache und weinten dort sehr. Er beschwor mich feierlich, an seinem Schicksal ein Beispiel zu nehmen und nie zu vergessen, daß ein Mann von zwanzig Pfund Jahreseinkommen glücklich ist, wenn er neunzehn Pfund neunzehn Schilling und sechs Pence verausgabt habe, daß er sich aber zugrunde richtet, wenn er einen Schilling mehr verzehrt. Darauf borgte er mir einen Schilling zu Porter ab, gab mir eine geschriebene Anweisung an Mrs. Micawber für den Betrag, steckte sein Taschentuch ein und wurde wieder seelenvergnügt.

Wir setzten uns vor ein kleines Feuer, das, um Kohlen zu sparen, zwischen zwei Ziegelsteinen in dem verrosteten Feuerloch brannte, bis ein anderer Schuldgefangener, Mr. Micawbers Stubengenosse, mit einer gebratenen Schöpskeule vom Backhause kam, die unser gemeinschaftliches Mittagsmahl abgeben sollte. Dann erhielt ich den Auftrag, zu Kapitän Hopkins in die Stube über uns zu gehen, mit vielen Komplimenten von Mr. Micawber, und ich sei sein junger Freund und bäte Kapitän Hopkins um die Gefälligkeit, mir Messer und Gabel zu leihen.

Kapitän Hopkins lieh mir Messer und Gabel mit vielen Komplimenten an Mr. Micawber. In seiner kleinen Stube fand ich noch eine sehr schmuddelige Frau und zwei blasse Mädchen, seine Töchter, mit ganz zerrauften Haaren. Mir kam es vor, als ob es besser sei, Kapitän Hopkins' Messer und Gabel, als Kapitän Hopkins' Kamm zu borgen. Der Kapitän selbst befand sich im letzten Stadium verkommener Schäbigkeit mit seinem unverschnittenen und ungekämmten Backenbart und einem alten braunen Überrock, ohne anderes Unterkleid. Ich sah, daß sein Bett in einer Ecke zusammengerollt lag; was er an Tellern, Schüsseln und Töpfen besaß, stand auf einem Brett an der Wand, und ich erriet (Gott weiß wie!), daß zwar die beiden Mädchen mit dem zerzausten Haargeflecht Kapitän Hopkins Kinder wären, die schmuddelige Dame aber nicht mit ihm verheiratet sei. Ich hatte kaum länger als ein paar Minuten schüchtern auf seiner Schwelle gestanden, und dennoch alle diese Bereicherung meiner Kenntnisse mit heruntergebracht, ebenso gewiß, als ich die Gabel und das Messer in meiner Hand hatte.

Es war trotzdem etwas Romantisch-Zigeunerhaftes in unserer Mahlzeit. Ich brachte Kapitän Hopkins' Messer und Gabel beizeiten nachmittags wieder hinauf und ging heim, um Mrs. Micawber mit einem Bericht über meinen Besuch zu trösten. Sie fiel in Ohnmacht, als sie mich zurückkehren sah, und machte nachher einen kleinen Krug Eierpunsch zu unsrer Stärkung, während wir die Ereignisse des Tages besprachen.

Ich weiß nicht, inwiefern die Möbel zum Nutzen der Familie verkauft wurden und wer sie kaufte; nur soviel weiß ich, daß ich es nicht war. Verkauft wurden sie jedoch und in einem großen Möbelwagen fortgefahren, mit Ausnahme des Bettes, einiger Stühle und des Küchentisches. Mit diesen Besitztümern kampierten wir sozusagen in den beiden Wohnstuben des ausgeleerten Hauses auf der Windsor-Terasse: Mrs. Micawber, die Kinder, die stockschnupfige Waise aus dem Armenhaus und ich. So hausten wir in den öden Räumen Tag und Nacht. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, aber es muß sehr lange gewesen sein. Endlich entschloß sich Mrs. Micawber ins Gefängnis überzusiedeln, wo Mr. Micawber jetzt ein eigenes Zimmer erlangt hatte. So trug ich die Hausschlüssel zu dem Besitzer, der sehr froh war, sie wieder in die Hand zu bekommen, und die Betten wurden in die Kings-Bench geschickt, mit Ausnahme des meinigen, für das wir ein kleines Stübchen außerhalb der Umfassungsmauern, aber – zu meiner Befriedigung – in der Nähe dieser segensreichen Anstalt mieteten. Denn Micawbers und ich hatten uns in unsrer Not zu sehr aneinander gewöhnt, um uns zu trennen. Die Waise wurde gleichfalls mit einem wenig kostbaren Unterschlupf in der Nachbarschaft versorgt.

Meins war ein stilles Kämmerchen mit schrägem Dach, das einen freundlichen Blick auf einen Zimmerplatz hatte, und als ich davon Besitz ergriff in dem Bewußtsein, daß Mr. Micawbers Schwulitäten nun zu einer Krisis gekommen waren, schien es mir ein wahres Paradies.

Die ganze Zeit über arbeitete ich bei Murdstone und Grimby in derselben niedrigen Beschäftigung, mit denselben niedrigen Genossen und mit demselben Gefühl unverdienter Erniedrigung wie zu Anfang. Aber niemals machte ich, und gewiß zu meinem Glück, eine Bekanntschaft oder sprach mit einem der vielen Knaben, die ich täglich auf dem Wege von und nach der Niederlage oder bei meinem Herumstreifen auf der Straße von Zeit zu Zeit sah. Ich führte dasselbe heimlich unglückliche Leben und in derselben einsamen, selbstgenügsamen Weise. Ich weiß nur von der einzigen Veränderung, daß ich äußerlich noch mehr heruntergekommen war, und daß die Sorge um Mr. und Mrs. Micawber bei weitem weniger auf mir lastete; denn einige Verwandte oder Freunde unterstützten sie jetzt, und sie lebten besser im Gefängnis, als in der letzten Zeit außerhalb dieser Anstalt. Infolge eines Arrangements, dessen Details ich vergessen habe, frühstückte ich jetzt bei ihnen.

Auch habe ich vergessen, zu welcher Stunde morgens die Tore geöffnet wurden und ich hineingehen durfte, aber ich weiß noch, daß ich schon oft um sechs Uhr auf war, und daß mein Lieblingsaufenthalt in der Zwischenzeit die alte Londonbridge war. Ich pflegte in einer der steinernen Nischen zu sitzen, die Vorübergehenden zu beobachten oder durch das Geländer zu sehen, wie die Sonne auf das Wasser schien und wie sie die goldene Flamme auf der Spitze des Monumentes erhellte. Hier traf ich manchmal die Waise, der ich dann die ungeheuerlichsten Erdichtungen in bezug auf die Werften und den Tower aufband, von denen ich jetzt nur sagen kann, daß ich sie damals hoffentlich selbst geglaubt habe. Abends pflegte ich wieder das Gefängnis aufzusuchen und mit Mr. Micawber auf der Promenade auf und ab zu spazieren, oder mit Mrs. Micawber Kasino zu spielen und ihre Erinnerungen an Papa und Mama mit anzuhören. Ob Mr. Murdstone wußte, wo ich war, kann ich nicht sagen; bei Murdstone und Grimby sprach ich nie davon.

Obgleich Mr. Micawbers Angelegenheiten jetzt über die Krisis hinaus waren, so waren sie doch noch sehr verwickelt wegen eines gewissen Dokumentes, von dem ich viel reden hörte, und das, wie ich jetzt vermute, eine frühere Vereinbarung mit seinen Gläubigern gewesen sein mag. Damals war mir freilich die ganze Geschichte durchaus nicht klar, und ich bin mir bewußt, daß ich es mit jenen teuflischen Pakten verwechselte, die einstmals in Deutschland sehr gebräuchlich gewesen sein sollen. Endlich schien dies Dokument irgendwie aus dem Wege geräumt zu sein, wenigstens hörte es auf, die Klippe zu bilden, die es bisher gewesen war. Mrs. Micawber teilte mir mit, daß »ihre Familie« beschlossen habe, Mr. Micawber sollte sich auf das Bankerottgesetz berufen, wodurch er, wie sie hoffte, binnen sechs Wochen in Freiheit gesetzt werden würde. Endlich war diese Klippe glücklich umschifft und Mrs. Micawber benachrichtigte mich, daß »ihre Familie« beschlossen habe, Mr. Micawber solle sich unter den Schutz des Fallitengesetzes begeben, wodurch seine Befreiung in etwa sechs Wochen in Aussicht stand.

»Und dann«, sagte Mr. Micawber, der ebenfalls anwesend war, »bezweifle ich nicht, daß ich mit Gottes Hilfe wieder vorwärts kommen und ein ganz neues Leben anfangen werde, wenn – kurz wenn sich etwas findet.«

Um jede Gelegenheit zu benutzen, sich auf alle eintretenden Möglichkeiten vorzubereiten, kann ich mich noch erinnern, daß Mr. Micawber um diese Zeit eine Petition an das Unterhaus um Abänderung der Gesetze über die Schuldhaft entwarf.

Ich schalte diese Erinnerung hier ein, weil sie mir ein Beweis ist für die Art, wie ich die alten Bücher meinem neuen Leben anpaßte, und mir selbst Geschichten zurecht machte aus den Straßen und den Menschen darin, und wie sich in einigen Hauptpunkten der Charakter, den ich unwillkürlich zeichne, indem ich mein Leben beschreibe, meiner Meinung nach schon allmählich entwickelt.

Es bestand im Gefängnisse ein Klub, in dem Mr. Micawber als Gentleman eine große Autorität genoß. Mr. Micawber hatte den Grundgedanken zu dieser Petition dem Klub kundgegeben, und der Klub hatte ihn lebhaft gebilligt. Darauf machte sich Mr. Micawber, der außerordentlich gutherzig war und tätig wie kein anderer in allen Angelegenheiten fremder Leute, außer in seinen eigenen, und der sich niemals so glücklich fühlte, als wenn er mit irgend etwas zu tun hatte, was für ihn nie den mindesten Nutzen abwarf, – dann machte er sich also über die Petition her, faßte sie ab, schrieb sie fein sauber auf einen großen Bogen Papier, breitete diesen auf einem Tische aus und bestimmte eine Zeit, wo der ganze Klub und alle Gefangenen, die noch Lust hatten, heraufkommen und unterzeichnen sollten.

Als ich von der bevorstehenden Feierlichkeit hörte, fühlte ich ein so lebhaftes Interesse, sie alle einzeln heraufkommen zu sehen, obgleich ich die meisten schon kannte und sie mich, daß ich bei Murdstone und Grimby eine Stunde Urlaub auswirkte und meinen Platz in einer Ecke des Zimmers einnahm. So viele von den vornehmsten Mitgliedern des Klubs, als in dem kleinen Zimmer nur irgend Platz finden konnten, umstanden den Tisch und Mr. Micawber, während mein alter Freund, Kapitän Hopkins (der sich der feierlichen Gelegenheit zuliebe gewaschen hatte), in unmittelbarer Nähe der Petition stand, um sie den Beteiligten vorzulesen. Die Türen wurden dann geöffnet, und die übrigen Bewohner des Gefängnisses kamen in langer Reihe hereingeströmt. Es warteten immer mehrere draußen, während einer eintrat, unterschrieb und wieder herausging. Kapitän Hopkins fragte jeden einzeln: »Haben Sie sie gelesen? – Nein! – Soll ich sie Ihnen vorlesen?« Wenn er schwach genug war, nur die mindeste Neigung an den Tag zu legen, sie zu hören, so las sie Kapitän Hopkins mit lauter, sonorer Stimme Wort für Wort vor und schenkte dem Unglücklichen auch nicht das kleinste davon. Der Kapitän hätte sie zwanzigtausendmal gelesen, wenn ihn zwanzigtausend Personen einzeln hätten anhören wollen.

Wie deutlich erinnere ich mich noch des Wohlbehagens, mit dem er Sätze las wie: »Die im Parlament versammelten Vertreter des Volks« oder »die Petenten nahen sich deshalb ehrfurchtsvoll dem hohen Hause« oder »Seiner Majestät unglückliche Untertanen«, als ob die Worte etwas Wirkliches in seinem Munde wären, das ihm vorzüglich schmeckte. Mr. Micawber hörte während der Zeit mit leiser Autoreneitelkeit zu und betrachtete – aber nicht mit strenger Miene – die Eisenspitzen auf der gegenüberstehenden Mauer. Wenn ich täglich zwischen Southwark und Blackfriars hin und her ging, und während der Essensstunden durch abgelegene Gassen schlenderte, deren Pflaster noch jetzt von meinen Kinderfüßen abgenutzt sein mag, so wundere ich mich, wieviele von den Leuten in der Menge fehlen, die wieder vor meinen Blicken vorbeipassieren beim Echo von Kapitän Hopkins Stimme! Wenn sich meine Gedanken auf jene qualvolle Jugendzeit zurücklenken, dann frage ich mich, wieviel Geschichten, die ich über diese Leute ersann, sich wie ein Nebel um die wohlbekannten Tatsachen spinnen! Wenn ich an die alte Stelle komme, so wundere ich mich nicht, daß ich glaube, einen unschuldigen romantischen Knaben vor mir hergehen zu sehen, dem ich mitleidig nachblicke, und der sich eine poetische Welt aus so wunderlichen Erfahrungen und so gemeinen Dingen erschafft.


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