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Steinert hatte eine Entdeckung gemacht, die ihm Argwohn gegen den Wandersmann einflößte. Er hatte, als er sich über ihn gebeugt bemerkt, daß derselbe eine Perrücke trug, denn er sah am Ohre unter den dunkeln Haaren hellere, auch hatte Hallborn verabsäumt, sich hinten am Halse eine braune Hautfarbe zu geben und als er sich bückte, hatte Steinert die Weiße des Nackens bemerkt.
Steinert argwöhnte seinen Verfolger im zweiten Wagen und wenn er auch annehmen konnte, daß ein Schmuggler sich verkleidet, so machte ihn doch sein Argwohn vorsichtig gegen den Genossen im Wagen.
Man hatte Bieldorf vor sich, der Weg führte durch eine enge Felsenschlucht in's Thal hinab.
»Wir dürfen nicht zusammen im Orte eintreffen,« sagte Steinert, »es ist besser, Ihr steigt hier ab und folgt. Ich bin früher im Gasthofe. Ihr laßt Euren Ranzen im Wagen, und wenn Ihr eintrefft, habe ich ihn gefüllt und wir machen uns gleich auf den Weg.«
»Hallborn, dem es daran lag, Steinert keinen Moment aus den Augen zu verlieren, machte Einwendungen. Er sagte, der Wirth werde es übel aufnehmen, wenn der Herr nicht zur Nacht speise, den Kellner heraufschicken und man werde seine Abwesenheit bemerken.
Steinert ging hierauf ein, blieb aber dabei, daß sein Begleiter aussteigen müsse.
»Ihr habt Recht,« sagte er, »ich werde zur Nacht speisen, aber auf dem Zimmer und in einer Stunde, nicht früher, holt Ihr mich ab.«
Damit war die Sache entschieden und Hallborn durfte nichts einwenden, wenn er ihn nicht m mißtrauisch machen wollte. Er stieg ab und sah, daß Steinert sich sehr bald umschaute, um zu sehen, ob er rasch folge oder zurückbliebe.
Hallborn hätte das letztere gern gethan, um den andern Wagen zu erwarten und den Polizeidiener zu instruiren, aber der Wagen Steinert's fuhr plötzlich auffallend langsam, es schien als wolle Steinert sich von dem nachfolgenden Wagen überholen lassen.
Dieser verkürzte jedoch ebenfalls seinen Lauf, wie Hallborn dies angeordnet.
Der Gasthof lag am Eingange des Ortes. Der Wagen Steinert's hielt vor demselben, Steinert stieg aus, blieb aber auf der Straße, um beim Abschnallen seiner Koffer zugegen zu sein, vorzüglich aber wohl deshalb, um den andern Wagen zu erwarten.
Dieser näherte sich, hielt vor dem Gasthofe aber nicht an, sondern fuhr vorüber.
Hallborn hatte dem Beamten keinen Wink geben können, war aber überzeugt, derselbe werde sehr bald aussteigen und nach dem Gasthofe kommen.
Steinert's Koffer wurden auf ein Zimmer getragen, er selbst folgte dem Kellner.
Hallborn beschloß die Ausgänge des Hause zu bewachen, bis er diese Sorge dem Beamten übergeben und Steinert auf dessen Zimmer aufsuchen könne. Er war jetzt dieses Mannes sicher, oder glaubte doch dies sein zu können. Er zweifelte nicht, daß Steinert sich seiner Führung anvertrauen werde. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Steinert unmöglich, ihm zu entwischen, überdem waren Grenzjäger zur Hand, den Flüchtigen zu verfolgen.
Steinert eilte auf das Zimmer, forderte jedoch, daß man ihm ein anderes öffne, da ihm das gebotene nicht behage. Man gehorchte ihm und er wählte ein solches, das nach dem Garten ging, bestellte ein Nachtessen und sagte, er wolle in einer halben Stunde nicht gestört sein, dann, wenn er sich gewaschen, solle man ihm das Essen bringen.
Sobald der Kellner ihn verlassen, schlich er zur Thüre und lauschte. Der Corridor war leer. Er öffnete leise die Thür, schlich hinüber zu dem Zimmer, welches man ihm zuerst geöffnet, sprang ans Fenster und sah, von der Gardine verdeckt, daß sein Begleiter auf der Fahrt hastig mit einem Fremden sprach und nach den Fenstern schaute, ferner wie derselbe dann den Kellner rief, vermuthlich weil er kein Licht sah.
Jetzt fühlte Steinert seinen Argwohn bestätigt – ein Schmuggler wäre in die Schenkstube gegangen, um sich zu stärken. Er eilte in sein Zimmer zurück, nachdem er vorsichtig den Schlüssel aus der Thüre des von ihm abgelehnten Zimmers gezogen, damit man dasselbe nicht verschließe. Dann öffnete er das geheime Behältniß seines Koffers, nahm einige Sachen heraus, steckte dieselben zu sich, schnürte den Rest in ein Bündel, horchte wieder und da er kein Geräusch hörte, flog er in das nach vorn liegende Zimmer zurück und verriegelte dasselbe von Innen. In wenig Minuten war er mit einer Blouse bekleidet, hatte einen falschen Bart und eine Perrücke angelegt, das Antlitz sich gebräunt und seinen Revolver zu sich gesteckt. So ausgerüstet, trat er ans Fenster und bemerkte zu seiner Befriedigung, daß die Straße leer geworden. Das Fenster war nur etwa zwölf Fuß über der Straße, auf der anderen Seite desselben führte ein Weg in den dichten Wald.
Er lauschte wieder an der Thüre und hörte leise Schritte auf dem Corridor. Er hatte sein Zimmer abgeschlossen, das Licht brennen lassen. Oeffnete Jemand, so mußte er vermuthen, daß er einen geheimen Ort aufgesucht habe, Niemand konnte argwöhnen wo er sich befand. Er hörte das Schloß seiner Thüre leise gehen. Sein Begleiter suchte ihn also, der Kellner hätte dies wohl nicht, ohne zu klopfen, gewagt.
Steinert kehrte zum Fenster zurück, öffnete dasselbe, sah hinaus, er bemerkte aber Niemand. Er schwang sich hinaus, wagte den Sprung und da er ein Bettkissen vor sich hinabgeworfen, erreichte er glücklich den Boden. Er nahm das Kissen auf und ergriff die Flucht, einige Sekunden später und er war im Wald. Das Kissen schleppte er mit, damit man es nicht finde und seine Flucht errathe. Er wollte dadurch Zeit gewinnen, daß man ihn im Hause suchte.
Sobald Steinert sich im Walde und noch unverfolgt sah, schlug er den Weg ein, den er gekommen, indem er annahm, daß man ihn nach dieser Richtung hin gewiß nicht verfolgen werde. Das Bett steckte er in die Oeffnung eines hohlen Baumstammes und zündete dann dasselbe vermittelst seines Taschenfeuerzeuges an. Das Feuer im Walde, wenn es um sich griff, mußte die Aufmerksamkeit der Ortsbewohner von dem Flüchtigen ablenken und konnte sie möglicherweise beschäftigen.
Nachdem er eine Viertelstunde in raschem Lauf zurückgelegt, schlug er einen Seitenpfad ein, den er auf der Herfahrt bemerkt und der, dem Anscheine nach, zu einem Steinbruch führte.
An einem durch die hohen Felsen geschützten Punkte setzte er sich, entfaltete eine Karte und orientirte sich nach derselben, indem er statt des Lichtes sich mit brennender Lunte leuchtete.
Er verfolgte die eingeschlagene Direktion und da Niemand daran dachte, daß der Flüchtige anstatt nach der Grenze, die Richtung auf Prag eingeschlagen, so entging er der Verfolgung.
Hallborn hatte kaum bemerkt, daß keins von den Fenstern vornheraus erleuchtet wurde, als er den Kellner befragte, ob der fremde Reisende denn kein Zimmer verlangt habe. Die Antwort lautete, er habe ein solches nach dem Garten gewählt und Hallborn, welcher annahm, Steinert könne hier die Gelegenheit zum Entweichen suchen, postirte sogleich den Polizeidiener von M. in der Nähe der Gartenthüre.
Das Abweichen Steinerts von der Straße nach X. hatte den Polizeidiener freilich stutzig gemacht, da hiermit die Voraussage Hallborns sich zu bestätigen schien, als aber Hallborn ihm mitgetheilt, was zwischen Steinert und ihm verabredet worden, schüttelte er doch den Kopf.
»Der Herr,« sagte er, »hat Sie zum Besten gehabt, ein so reicher, feiner Herr wird nicht in der Nacht zu Fuß über die Grenze gehen, um einige Zollgroschen zu sparen und er weiß auch, daß die Zollbeamten es mit der Revision eines Privatfuhrwerks nicht scharf nehmen.«
Hallborn hielt es für unnütz zu widersprechen, er war jetzt der Unterstützung des Beamten gewiß, sobald Steinert eine Verkleidung anlegte und das war der so lange ersehnte Moment, ihn zu verhaften.
Hallborn war überzeugt, den Revolver bei ihm zu finden, mit dem er den Grenzjäger erschossen. Einer guten Waffe entledigt ein Verbrecher sich nicht gern, wenn er sich nicht eine andere verschaffen kann, Steinert war aber nach der Ermordung des Grenzjägers auf seinem Gute gewesen, bis er nach M. abgereist; auf dem Gute war der Revolver nicht gefunden worden, wohl aber konnte Steinert ihn im geheimen Raume des Koffers mitgeführt haben. Fand sich der Revolver und stimmte das Kaliber der im Leichnam des Grenzjägers gefundenen Kugel mit demselben, so war ein Beweismoment für die Schuld Steinerts vorhanden, der seine Verurtheilung unzweifelhaft machte, besonders wenn Steinert auch, wie Hallborn hoffte, einen falschen Bart von der Gattung des aufgefundenen bei sich führte.
Es war anzunehmen, daß Steinert bei seinen Schmugglerreisen stets dieselbe Verkleidung gewählt, um von seinen Gehilfen und Spionen erkannt zu werden.
Hallborn begab sich zu dem Zimmer Steinerts, fand dasselbe von Außen verschlossen, öffnete es, sah Licht brennen und das geheime Fachwerk des Koffers geöffnet und den Inhalt verschwunden. Er argwöhnte sogleich, daß Steinert an einen abgelegenen Ort gegangen, um sich dort heimlich zu maskiren und in der Verkleidung aus dem Hause zu entschlüpfen.
Steinert hatte also gegen ihn Argwohn gefaßt und es war jetzt nicht gerathen, Zeit zu verlieren. Er eilte in die Schänkstube, wo sich Grenzjäger befanden, rief den Polizeidiener und forderte, indem er sich als Criminalbeamter zu erkennen gab, Umstellung des Hauses und Durchsuchung desselben nach dem Verbrecher.
Man starrte ihn an, wie einen Wahnsinnigen, Niemand wollte ihm Glauben schenken und selbst der Polizeidiener war zweifelhaft. Die Angabe Hallborns erschien unglaublich, als man sich aber endlich entschloß, ihm zu willfahren, war so viel Zeit verloren, daß der Flüchtige sehr gut entsprungen sein und den Weg nach der Grenze eingeschlagen haben konnte. Man hielt Hallborn nicht mehr für einen Tollhäusler, als der Fremde nirgends zu finden war und man den eigenthümlich konstruirten Koffer sah.
Hallborn ließ einen Wagen anspannen und nachdem er sich überzeugt, daß die Grenzjäger die Verfolgung angetreten, fuhr er nach der nächsten Station, um den Telegraphen spielen zu lassen. Der Steckbrief lautete auf Verdacht des Mordes, Hallborn scheute jetzt nichts mehr, um Steinerts habhaft zu werden.
Als Hallborn am andern Tage nach Bieldorf zurückkehrte, hörte er, daß die Nachforschungen fruchtlos gewesen. Er ließ durch den österreichischen Polizeibeamten die Koffer Steinerts versiegeln. Bei der Revision hatte man nichts Verdächtiges gefunden, wohl aber ein Billet, das in dem geheimen Fach gefunden worden. Es war von der Hand Steinerts.
»Ich bin des Lebens satt,« so lauteten die Zeilen. »Man wird meine Leiche hoffentlich nicht finden. Ich bitte den Meinigen durch den Doktor Walter, augenblicklich in M., die Nachricht von meinem Ableben schonend mittheilen zu lassen.
J. Steinert.«Am andern Morgen ward Hallborn der Mantel Steinerts gebracht, der am Rande eines zwei Meilen von Vieldorf entfernten Teiches gefunden worden. Hallborn eilte dorthin, der Teich ward abgelassen, aber man fand keine Leiche. Hatte Steinert sich in unwirthsamen Felsenschluchten den Tod gegeben, oder war er entflohen und hielt sich irgend wo verborgen – das blieb ein offenes Rätsel.
Es war keine Spur von ihm zu finden, wohl aber erforschte Hallborn, als er nach M. zurückkehrte, was Steinert am letzten Nachmittag seiner Anwesenheit in M. getrieben. Er war nach einer entfernten Mühle gegangen, hatte dort Papier gefordert und Briefe geschrieben. Mit der Abgabe derselben auf der nächsten Poststation hatte er einen Forstgehilfen betraut, denselben aber verpflichtet, dieß erst am folgenden Tage zu thun, da es sich, wie er gesagt, um eine Ueberraschung handle.
Der eine Brief war an den Gutsverwalter seiner Heimath, der andere an seine Frau gerichtet, ein dritter an den Doktor Walter. Auch Somnitz erhielt später einen Brief, dieser war aber auf anderem Papier und mit anderer Dinte geschrieben als die vorigen und allem Anscheine nach von späterem Datum als Jene.
Doch wir wollen unserer Erzählung nicht vorgreifen und führen den Leser nach M. zurück.
Walter wurde einige Stunden nach der Abreise Steinerts geweckt, da Frau Steinert schwer erkrankt sei und nach ihm verlange.
Als er zu der Kranken hinabkam, fand er sie im heftigsten Fieber, Bertha und Anna saßen trostlos an ihrem Bette. Sie sprachen ihre Befürchtung aus, daß die Mutter mit seltener Selbstbeherrschung ihre Leiden nur verborgen, um den Gatten nicht zu ängstigen, denn gleich nach der Abreise desselben sei sie in krampfhafte Zuckungen verfallen.
Walter ließ die jungen Mädchen in diesem Glauben, Niemand als der Schuldige selbst oder ihre Mutter hatten das Recht, sie über die Angelegenheiten ihres Vaters aufzuklären.
Er holte einige Medikamente und mischte der Kranken selbst die Arznei.
Wie vorsichtig er jedoch mit seinen Trostworten war, konnte es doch den jungen Mädchen nicht entgehen, daß er diesen Krankheitsanfall ihrer Mutter, wenn nicht erwartet hatte, so doch von ihm nicht überrascht wurde, daß er diesen Zustand mehr einem Seelenleiden, als einer körperlichen Krankheit zuschrieb und daher eine größere Wirkung von ihrem kindlichen Zuspruch, als von der ärztlichen Pflege für die Mutter erwarte.
Während dieses Gefühl Bertha dunkel vorschwebte und sie mit um so wärmerem Interesse den Mann beobachtete, der um ihre Mutter wie ein zärtlicher Sohn bemüht war, beschäftigte Anna die Sache selbst um so mehr, es mußte hier ein Geheimniß obwalten, das man vor ihr und ihrer Schwester verborgen und in diesem Geheimniß mußte die Erklärung des seltsamen Benehmens liegen, welches Somnitz ihr gegenüber gezeigt.
Anna hatte sich immer und immer wieder die Bilder in die Erinnerung zurückgerufen, die mit so grell wechselnder Färbung in den kürzesten Zwischenräumen vor ihre Seele getreten.
Das offene, frische, heitere Wesen des jungen Mannes hatte, als er ihr zuerst begegnet, sie in wenig Minuten mit ihm vertraut gemacht, sie hatte mit ihm geplaudert, wie mit einem alten, lieben Bekannten und hatte gefühlt, daß ihn diese Vertraulichkeit glücklich mache.
Der Vater hatte ihn ihr vorgestellt, trotzdem er bis dahin sich gegen Bekanntschaften abgeschlossen, sie hatte bemerkt, daß er mit Wohlgefallen die Annäherung des jungen Mannes sah, und kaum waren wenige Stunden verflossen, so war der ganze Ton verändert, der Vater war verstimmt und gereizt, er beschuldigte Somnitz und Walter, daß sie hinter seinem Rücken über ihn schlecht urtheilten, aus einem Vergehen, das ihre Neugierde erlauscht, ein Verbrechen machten. Der Vater hatte eine seltsame Erregung gezeigt, als er gehört, daß Somnitz Soldat gewesen, er hatte Waltern beleidigt und eine ungeheuer gereizte Stimmung gezeigt, er mußte also von diesen Fremden sehr bitter gekränkt worden sein, mußte sie sehr hart beurtheilen.
Anna war gewöhnt, ihren Vater stets gerecht, konsequent und in seiner Härte selbst doch auch wieder nachsichtig und human zu sehen, sie mußte daher annehmen, daß Somnitz ihrer Achtung und ihres Vertrauens unwürdig sei. Es schmerzte sie dies und wir sahen sie mit Bitterkeit ihm ausweichen, ja in einer so reizbaren Laune, daß sie kundgab, wie sie durch die Enttäuschung empfindlich berührt worden – da änderte ihr Vater plötzlich sein Benehmen, als habe er Unrecht gehabt und Somnitz nahte ihr mit einer Wärme des Gefühls, die ihr zeigte, wie weh ihm ihre Kälte gethan.
Es wechselten Sonnenschein und kalter, rauher Wind, in den Zwischenräumen weniger Minuten, endlich fühlte sie, daß er ihr sein ganzes Herz entgegentrug und dann im nächsten Moment sich wieder schnöde losriß, als wäre er von Grauen erfaßt. Der Vater veränderte seine Beschlüsse nochmals am Tage, war bald gereizt und heftig, bald weich, und sanft, er entschloß sich plötzlich zu einer Reise und nahm mit einer so schmerzlichen Rührung Abschied, als gelte es ein Lebewohl für's Leben – die Mutter schien aufgelöst in Unruhe, Sorgen und Angst – Alles das war räthselhaft, unerklärlich!
Walter, das ahnte Anna, wußte um das Geheimniß, und von Allem, was sie betroffen, fieberhaft erregt, entschloß sie sich, unter jeder Bedingung den Schleier dieses Geheimnisses zu lüften. Der Zustand war ihr unerträglich, nicht zu wissen, ob sie den Mann hassen und verachten solle, der gewagt, ihr sein Herz anzutragen.
»Herr Doctor,« sagte sie, als Walter Miene machte, seinen Besuch zu beenden, »Sie sind intim befreundet mit Herrn von Somnitz?«
Walter bejahte die Frage und schaute neugierig dem schönen Mädchen in's Auge, er las es in dem entschlossenen Ausdruck ihrer Züge, daß sie einen außerordentlichen Schritt beabsichtige.
»Dann bitte ich Sie, Ihrem Freunde zu sagen, daß wenn ihm an dem Urtheil einer Person, wie ich es bin, etwas liegt, er mir eine Erklärung oder doch eine Bitte um Entschuldigung seines Benehmens schuldet.«
Walter fühlte, was ihr dieses Wort gekostet haben mochte, er sah das stürmische Wogen ihrer Brust, die Flamme edler Erregung in ihrem Antlitz und mit einem an Bewunderung grenzenden Gefühl der Hochachtung, erwiderte er:
»Fräulein Anna, er hat mir bereits gestanden, daß er Ihnen mehr schuldet als dies, daß er sich Vorwürfe macht, deren Bitterkeit Sie immer noch unterschätzen werden. Er will Morgen in der Frühe M. verlassen, ich traue mir nicht zu, ein Urtheil darüber zu fällen, ob er schonender, achtungsvoller und richtiger handelt, wenn er es Ihrer Nachsicht, Ihrer Herzendgüte überläßt, sein unerklärliches Benehmen zu vergessen, oder wenn er eine Erklärung zu geben versucht, von der Sie doch nicht völlig befriedigt fein können. Gestatten Sie mir daher, Ihren Auftrag nicht auszurichten, Niemand vermag Somnitz zu rathen als sein eigenes Gefühl.«
Damit verbeugte sich Walter und verließ das Gemach.