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Wenige Tage nach diesem Gespräche lag Holdchen Primrose lang ausgestreckt und anscheinend in ein Bilderbuch vertieft auf der Matte der Veranda von Rookwood. Aber ein Bilderbuch, mochte es noch so bunt, neu oder dick sein, beschäftigte, wie Frau Brande aus Erfahrung wußte, die junge Dame nie länger als fünf Minuten, dann warf sie es verächtlich beiseite, um wieder gelangweilt und langweilig wie ein Papagei, mit dem ewigen Rufe: »Ich will amüsiert sein! Ich will aber amüsiert sein!« ruhelos im Hause umherzuirren.
Jetzt war sie in bester Laune. Sie hatte für Mark eine ungeheure Vorliebe gefaßt, betrug sich gegen Honor überraschend artig, und da sie ein sehr schönes Kind mit feinen Zügen, tiefen, veilchenblauen Augen und wie aus Seide gesponnenem Haar war, so schlossen die jungen Leute sie schnell ins Herz und fühlten sich geneigt, Onkel und Tante für voreingenommene alte Leute zu halten, die nicht mit Kindern umzugehen wüßten. Die Kleine zeigte sich denn auch gern bereit, die beiden vorzugsweise mit ihrer Gesellschaft zu beglücken, und Honor und Mark freuten sich darüber.
Holdchen ging, beide fest an der Hand haltend, viel mit ihnen im Garten spazieren und brachte jeden Morgen ein gut Teil ihrer Zeit in Honors Zimmer zu, wo sie jede Kleinigkeit in die Hand nahm, jedes Taschentuch entfaltete, jedes Nadelkästchen umschüttete und mit besonderer Teilnahme zusah, wenn Honor ihr Haar ordnete.
Das Ergebnis dieser Musterung war, daß sie sich beim Frühstück in der Lage befand, die Gesellschaft mit der dankenswerten Mitteilung zu überraschen: »Ich habe zugesehen, wie Honor sich das Haar machte; es ist so lang wie meins, geht ihr bis hierher (sie gab das Maß an ihrer eigenen kleinen Person an) und alles ist angewachsen. Sie braucht's gar nicht so hier oben mit langen Nadeln anzustecken, wie's Mama macht, die ihre Stirnlocken ganz abnehmen kann, und wie du's auch machst,« fügte das schreckliche Kind hinzu, indem es sich zu Tante Sara wendete: »Ich habe deinen Zopf gesehen.«
»Na, hoffentlich hast du ihn bewundert!« entgegnete die alte Dame mit etwas unsicherer Kaltblütigkeit. »Die Haare dazu sind früher alle einmal auf meinem Kopfe gewachsen.« Und da Holdchen fand, daß sich niemand ärgerte, gab sie es auf, dies Thema weiter zu verfolgen.
Die Kleine liebte es sehr, auf Marks Knieen zu sitzen, das Aermchen um seinen Nacken zu schlingen, ihre Wange an die seinige zu drücken und Bilder mit ihm zu besehen oder sich Geschichten von ihm erzählen zu lassen. Es schien fast, wie Tante Sally ganz richtig bemerkte, als habe er sie hypnotisiert. Ben mißtraute dem Kinde noch immer: ebenso erging es Bens Großeltern, alle andern aber fanden das Kind wie ausgetauscht. Holdchen Primrose war jetzt ein wahres Muster von Artigkeit. Ging sie in ihren mit Falbeln und Spitzen besetzten eleganten Kleidchen, die Füße in feinen seidenen Strümpfen, in Begleitung ihrer ebenfalls prächtig gekleideten Aja zu den Konzerten im Klubgarten, so teilte sie zwar an andre, weniger schön gekleidete Kinder rechts und links heimliche Püffe aus; begab sie sich dann aber in das Damenzimmer, anscheinend um die illustrierten Journale zu besehen, so benahm sie sich so still und bescheiden, daß die alten Bekannten das ehemals so originelle, aber nichts weniger als angenehme »Holdchen« kaum wieder erkannten.
Inzwischen war Mutter Brandes Geburtstag herangekommen, und ihre Freunde hatten ihn nicht vergessen. Karten, Briefe und kleine Geschenke von einigen ihrer »Jungens« liefen ein; Honor hatte ganz heimlich ein allerliebstes Riechkissen für die Tante gearbeitet, man sandte ihr viele Blumensträuße, und Jervis überreichte ihr eine sehr schöne silberne Lampe, die (wie sie zu Honor bemerkte) »dem armen jungen Menschen sehr viel Geld gekostet haben mußte,« und endlich traf noch ein silberner Ständer für Photographien mit Bens hochachtungsvollen Wünschen ein.
Das Gesicht der alten Dame strahlte in Glückseligkeit, und mit allen diesen Geschenken beladen trat sie auf Mark zu.
»Es war gar nicht recht von Ihnen, sich in solche Unkosten zu stürzen; aber gerade solche Lampe hatte ich mir längst gewünscht. Und die Idee mit Ben rührt auch von Ihnen her! Wissen Sie, daß ich die größte Lust hätte, Ihnen zur Strafe einen Kuß zu geben?« setzte sie in drohendem Tone hinzu.
Holdchen, die bei ihrem Frühstück saß, spitzte sogleich die Ohren und blickte die beiden Beteiligten, in der Erwartung einer interessanten Scene, mit großen, neugierigen Augen an.
Aber Frau Brande führte ihre Drohung nicht aus. »Nein,« sagte sie vergnügt, »Sie sind ein Jüngling, und ich bin eine alte Frau. Aber wie alt sind Sie denn eigentlich? Ich muß mir Ihren Geburtstag auch merken.«
»Ich bin im vergangenen April sechsundzwanzig Jahre alt geworden.«
»Sechsundzwanzig? Na, Sie sehen um gut fünf Jahre jünger aus,« rief Mama Brande, indem sie sich an den Theetisch setzte, wo neben ihrem Couvert ein ganzer Haufen Briefe und eine Menge kleiner Päckchen lagen. »Pelham schenkt mir sonst immer Diamanten,« fuhr sie dann fort. »Aber ich habe schon so viele, und damit Sie nicht glauben, er habe mich heute vergessen, will ich Ihnen nur sagen, daß er mir die Anweisung auf eine große Summe zum Besten des neuen Waisenhauses überreicht hat. Ich kann mich nun sehr freigebig erweisen.«
»Hast du auch Schokolade bekommen?« fragte Holdchen.
»Nein, Kind, aber nach dem Frühstück werde ich ausgehen und eine Schachtel für dich kaufen.«
»Du hast heute also wirklich deinen Geburtstag?«
»Ja, freilich! Und sieht es denn nicht auch danach aus?«
»Ich dachte, nur wirkliche Damen hätten Geburtstage, und Frau Dashwood sagte neulich, du wärest keine Dame.«
»Ich bin zwar keine Dame von Geburt, bin es aber meiner Stellung nach. Und übrigens bin ich wenigstens von eben so gutem Herkommen, wie sie.«
»Wir werden heute an dem Kinde noch was erleben,« bemerkte Pel hinter seiner Zeitung hervor in französischer Sprache. »Das liebe Ding ist acht Tage lang artig gewesen; länger hält sie's nicht aus. Apropos, Honor, ich sah sie heute früh mit deinem schönen weißseidenen Sonnenschirme unten am Hühnerhause.«
»Gerade so redet Mama, wenn sie von mir spricht oder was sagt, das ich nicht hören soll!« schrie Holdchen, indem sie sich von ihrem Stuhle herabgleiten ließ. »Jetzt will ich aber zu den Kindern des Stallknechts gehen – und die will ich schön bei den Haaren zausen!« Damit war sie auf und davon.
Holdchen war an diesem Tage von besonderer Unruhe. Nichts gefiel ihr länger als zwei Minuten; weder Honors Hüte und neue Kleider, noch die versprochene Schachtel Schokolade oder Marks Geschichten vermochten sie zu fesseln, und ihr ewiges Verlangen, man solle sie amüsieren, fing nachgerade an, auf die Nerven aller zu wirken, wie etwa eine fortwährend klappende Thür, als Mark auf einen rettenden Gedanken kam.
»Schau, Holdchen, möchtest du nicht, daß ich dein Bild malte?«
»Bunt?« fragte sie.
»Ja, mit deiner blauen Schärpe.«
»Und mit meinem Halsbande?«
»Gewiß!«
»Dann fange nur gleich an, gleich die Minute!«
»Das geht nicht so schnell, ich muß erst alles haben, was ich zum Zeichnen und Malen brauche, und dann mußt du eine ganze Stunde stillsitzen. Wenn du das nicht kannst, wird's ein greuliches Bild. Verstehst du? Meine Staffelei und meine Pinsel sind aber drüben in Haddon Hall. Ich muß erst danach schicken, und so kannst du dich, wenn du willst, vorher schön machen lassen.«
Er hatte noch nicht ausgeredet, als das kleine eitle Geschöpf schon davonsprang und in gebieterischem Hindostanisch laut nach ihrer Aja rief.
Frau Brande traute ihren Augen nicht, als sie eine Stunde später, in einiger Besorgnis, was vorher das »kleine Blasenpflaster« so lange still und ruhig halten könnte, auf die Veranda trat und das Kind regungslos, wie eine Statue, auf einem Stuhle sitzen fand.
»Guck, er malt mich!« zwitscherte Holdchen vergnügt. »Aber ich darf mich nicht rühren. Sieh doch mal zu, wie weit er ist,« setzte sie hinzu, indem sie mit den Augen auf Mark deutete, der fleißig und stetig arbeitete, obwohl ihm die Unbrauchbarkeit des linken Armes dabei sehr hinderlich war.
Tante Sally und Honor traten näher. Sie erwarteten, einige schwache Umrisse zu erblicken, eine Arbeit, die nur den Zweck hätte, das Kind eine Weile ruhig zu halten, waren aber nicht wenig erstaunt, als ihnen ein in den Grundlinien fertiges reizendes Porträt, das leibhaftige, sprechend ähnliche Gesicht Holdchens, mit seinem schönsten, das heißt engelhaftesten Ausdruck von der Leinwand entgegenlächelte.
»Aber Sie sind ja ein wirklicher und wahrhaftiger Künstler!« rief die alte Dame.
»Ach nein, nur ein sehr unwirklicher,« gab Mark lachend zur Antwort. »Ich habe seit länger als Jahresfrist kein Porträt mehr versucht, und in der Landschaft leiste ich nicht das Geringste. Natürlich habe ich mich, wie jeder, der Bleistift und Pinsel zu halten versteht, auch schon an den Schneebergen versucht, ohne etwas zu stande zu bringen. Mein Schnee sieht aus wie Baumwolle. Menschengesichter und Tiere gelingen mir noch immer am besten.«
»Ist mein Bild hübsch?« fragte das kleine Modell. »Ist's ebenso hübsch, wie ich selber bin?«
»Wer hat denn gesagt, daß du hübsch wärst?« fragte Tante Sara.
»Das sagen alle! Sie sagen immer: was für ein hübsches kleines Mädchen!«
»Na, ich kann dir sagen, daß das Bild viel hübscher ist, als du,« gab die alte Dame zur Antwort und fuhr dann, zu Mark gewendet, fort: »Sie würden als Porträtmaler Ihr Glück machen!«
»So hat man mir schon oft gesagt, vielleicht gerade weil keine Aussicht vorliegt, daß ich den Rat je befolgen könnte. Ich bin im stande, den Charakter eines Modells aufzufassen und die Ähnlichkeit zu treffen, aber ich kann kein Bildnis fertig machen. Gehe ich über die Skizze hinaus, so verderbe ich die ganze Geschichte.«
»O, bitte, verdirb mein Bild nicht!« flehte ein ängstliches Stimmchen.
»Aengstige dich nicht, Kind, du bist schon verdorben genug,« gab der junge Künstler mit ungewöhnlichem Ernst zur Antwort.
»Warum haben Sie uns denn nie etwas von diesem Talent gesagt?« rief die alte Dame, sich schwer auf seinen Stuhl stützend. »Sie können Ihren Freunden damit so viel Vergnügen bereiten. Wie wär's, wenn Sie eine kleine, nur ganz winzige Skizze von – von Ben machten?«
»Soll sofort geschehen. Holdchens Konterfei muß einen Tag trocknen, und so kann das andre Opfer dran kommen. Das nötige Material habe ich zur Hand, und so halte denn still, Ben, alter Kerl, du sollst der Nachwelt im Konterfei überliefert werden.«
Ben saß, vielleicht weil es ihm durchaus an persönlicher Eitelkeit mangelte, nicht halb so gut wie Holdchen. Alle Minuten störte irgend etwas seine Pose, besonders ein kleiner Satan von Eichhörnchen, das durch das Gitterwerk der Veranda hereinlugte und ihn in Versuchung führte, danach zu jagen, was er denn auch, natürlich ohne Erfolg, mehr als einmal that.
So war der Morgen schnell vergangen. Als Pelham um zwei Uhr zum Gabelfrühstück erschien, kam ihm seine Frau mit zwei Bildern entgegen: einer Oelskizze von Holdchen und einer halbfertigen Kreidezeichnung von Ben.
»Ben ist reizend!« rief er erfreut. »Dieser Blick, der weiße Fleck auf der Lippe, diese Sonntagnachmittagsmiene sind dem Leben köstlich abgelauscht. Und da, mein Holdchen, mit dem harmlosen, engelhaften Gesichtchen! Aber ich glaube, ich würde mich auch ohne dies sprechend ähnliche Bild stets an das liebe Geschöpf erinnert haben.«
Beim Tiffin (Frühstück) ging es sehr heiter zu. Wie gut, daß niemand in die Zukunft zu sehen vermag und niemand ahnte, daß das Mittagessen die traurigste Mahlzeit sein sollte, welche die Anwesenden je unter dem roten Ziegeldache von Rookwood eingenommen hatten!
Mark Jervis wohnte jetzt seit zehn Tagen bei Brandes und hatte noch immer nicht Gelegenheit gefunden, Honor sein Herz zu eröffnen und ihr sein Geheimnis anzuvertrauen. Jetzt, nachdem er unter demselben Dache mit ihr lebte, ließen ihn Hoffnung und Mut im Stiche. Sie mußte ja empört sein, wenn sie aus seinem eigenen Munde hörte, daß er der Millionär war! Dazu kam noch, daß Holdchen, das »furchtbare Kind«, so nannte auch er jetzt die Kleine, die beiden nie eine Sekunde allein ließ.
Aber noch an demselben Nachmittag schien sich die ersehnte Gelegenheit zu bieten. Holdchen war zu einer Kindergesellschaft geladen, Frau Brande hatte einer Komiteesitzung für das neu zu errichtende Waisenhaus beizuwohnen, und Pel hatte noch einige Geschäfte zu erledigen, dann wollten sich alle zu einem Spaziergange vereinigen.
»Ihr beide, du, Honor, und Sie, Jervis, geht immer voraus nach dem Wald,« sagte der Onkel. »Ich komme in einer Viertelstunde nach. Wir wollen uns durch einen Spaziergang rote Backen und Appetit zum Mittagessen holen. Nehmt auch Ben mit. Er kann sich Bewegung machen und hinter den Affen herjagen.«
Honor und ihr Begleiter folgten dem Geheiß, und munteren Schrittes gingen sie, er den Arm in der Schlinge, die breite sandige Fahrstraße entlang, die im Schatten des Waldes im Zickzack am Hügel hinaufführt. Es war ein herrlicher Nachmittag, der Duft des Nadelholzes und die dünne Bergluft wirkten auf die beiden wie Champagner.
»Unser Neffe Ben scheint sehr vergnügt,« sagte Jervis, auf den um sie herumspringenden Hund deutend.
»Ja, dies ist aber auch sein Lieblingsweg. Daß er Tante ein Geburtstagsgeschenk überreichte, war ein sehr hübscher Gedanke von Ihnen.«
»Eigentlich hat mich Frau Sladen darauf gebracht.«
»Die arme Frau! Ich will nur hoffen, daß sie in dieser Saison einmal nach England gehen darf, um ihre Kinder zu besuchen, die sie seit fünf Jahren nicht gesehen hat.«
»Das wünschte auch ich ihr von ganzem Herzen. Und wenn ich dann an ihrer Stelle wäre, käme ich gewiß nicht wieder, sondern bliebe drüben.«
»Oberst Sladen hat, wie ich höre, Hauptmann Waring viel Geld abgewonnen, und wenn er ihr davon das Reisegeld gibt, so ist das Spiel doch einmal zu etwas gut. Freilich wäre zu wünschen, daß er ohne dies Laster leben könnte; denn es ist das größte Unrecht, sein Geld auf so unwürdige Weise zu vergeuden, während so viel Not in der Welt ist. Wie oft kann man mit wenigen Pfund Wunder thun und ein ganzes Menschenschicksal umwandeln; aber viele reiche Leute scheinen sich ihrer Verpflichtungen gar nicht bewußt.«
»Ein großes Vermögen bringt große Verantwortlichkeit mit sich,« bemerkte Jervis. »Es ist sehr schwer, zu wissen, wem man geben soll, und wem nicht. Ich glaube, Leute mit mäßigem Einkommen sind noch immer am besten dran.«
»Wäre es nicht spaßhaft, wenn jemand hörte, wie wir beide, die man die armen Verwandten nennt, die Last des Reichtums beklagen?« rief Honor lachend.
»Da wir einmal bei dem Thema sind, Fräulein Gordon, so möchte ich etwas zur Sprache bringen, was mir schon lange auf dem Herzen liegt. Da ich fürchtete, Sie würden mir zürnen, habe ich das Geständnis bis jetzt verschoben, aber –«
In diesem Augenblicke veranlaßte das heftige Zurückschlagen eines über den Weg hängenden Zweiges Mark, emporzublicken. Auf dem steilen Rande der Böschung, die sich an der einen Seite des Weges hinzog, stand, zum Sprunge bereit, ein großer Leopard, der in demselben Momente, kaum einen Meter hinter ihnen, wie ein Blitz herabschoß und, Ben im Rachen, mit einem Sprunge die Höhe der Böschung wieder gewann. Der ganze Vorgang spielte sich in zwei Sekunden ab.
»Ben, Ben! Wir müssen ihn retten!« rief Honor in fast wahnsinnigem Schrecken.
Jervis riß ihr den Alpenstock aus der Hand und sprang an der Böschung hinauf. Das Tier, feige, wie Leoparden bekanntlich sind, ließ seinen Raub fallen und verschwand im Unterholze.
Aber Ben, der arme Ben, der noch drei Minuten vorher so voll Lust und Leben gewesen, war tot! Ein mörderischer Biß in den Hals hatte seinem glücklichen Dasein ein Ende gemacht, und da lag er nun mit verglasten, weit offenen Augen, die noch den Ausdruck starren Schreckens trugen. Der Tod hatte ihn erreicht, ohne daß er es ahnte, er war in dem Momente, als das Raubtier ihn packte, verendet.
Honor nahm den noch warmen Körper auf den Schoß, und ihre Thränen tröpfelten auf ihn nieder.
Was würde Tante Sara dazu sagen? Wer sollte ihr die Botschaft bringen? Was für ein schreckliches Ende nahm ihr Geburtstag! Sie hatte Ben wie in einer Vorahnung dies Schicksal so oft prophezeit, war immer so besorgt gewesen, ihn nach Sonnenuntergang im Hause zu halten. Es gab kaum eine Familie in Shirani, die nicht einen Verlust durch die » lugger buggas«, wie die Eingeborenen die Leoparden nennen, zu beklagen hatte. Die Bestien waren hinter Hunden, besonders kurzhaarigen Hunden, am meisten her und lauerten ihnen in der Nähe der Küchen und Wirtschaftsräume sowie an den Wegen im Finstern auf. Aber dieser Mord war am hellen Tage, lange, ehe nur die Dämmerung hereinbrach, begangen worden.
»Fräulein Gordon, Sie dürfen sich die Sache nicht so tief zu Herzen nehmen,« sagte Mark. »Sie kennen ihn ja erst seit drei Monaten und ...«
»Ach bitte, sagen Sie nicht: es war ja nur ein Hund!« unterbrach sie ihn entrüstet.
»Nein, das sage ich nicht; ich bin selbst sehr betrübt. Ja,« fuhr er, ihren aufwärts gerichteten Blick erwidernd, fort, »ich bin aufrichtig betrübt. Aber sein Ende war ein so schnelles, augenblickliches, daß er kaum gelitten hat.«
»Und wie soll man es Onkel und Tante mitteilen?«
»Ihr Onkel wollte uns nachkommen, und wenn Sie hierbleiben wollen, werde ich ihm entgegengehen und ihm alles erzählen. Aber nein,« setzte er nach kurzer Ueberlegung hinzu, »das geht doch nicht. Ich kann Sie, da die Bestie jedenfalls noch in der Nähe ist, nicht allein lassen, obgleich ich nicht glaube, daß sie sich an Menschen wagt. Ach, da kommt auch der Onkel schon.«
Die Trauerbotschaft wurde Tante Sara so schonend als möglich hinterbracht; aber sie war außer sich, als man ihr den armen kleinen Ben tot und starr vor die Füße legte, und das ganze Haus, mit Einschluß der eingeborenen Dienerschaft, trauerte mit ihr. Das einzige Wesen, das diese Trauer nicht teilte, war Holdchen, die mit einem Freudensprunge ganz offen und frei gestand: »Ich bin froh, daß der alte, häßliche Hund tot ist!«
Glücklicherweise hörte das Tante Sara nicht, sonst hätte sie das Kind und seine Aja sicherlich sofort aus dem Hause und in die Postherberge geschickt.
Die arme Frau hatte so viel geweint, daß sie nicht zu Tische erscheinen konnte, und am nächsten Morgen rief der Anblick von Bens noch unvollendetem Bildnisse einen neuen, so heftigen Thränenstrom hervor, daß sie sich den ganzen Vormittag nicht mehr sehen lassen konnte.
Inzwischen saß Holdchen zu ihrem Porträt und plauderte und schwatzte unaufhörlich. Sie war am Tage vorher in einer großen Kindergesellschaft gewesen, hatte sich vortrefflich amüsiert, erzählte, wie viel Thee sie getrunken und wie viele Bisquits und Bonbons sie verspeist habe, hielt aber inmitten dieses kindlichen Geschwätzes plötzlich inne, als käme ihr ein wichtiger Gedanke. Dann fragte sie, indem sie die großen, veilchenblauen Augen so weit als möglich öffnete: »Sag' mal, Onkel Mark, was ist denn ein Philister – ein Phili-ster?« Sie sprach das Wort aus, als hätte sie es auswendig gelernt.
»Frage Fräulein Gordon,« gab Mark zur Antwort, indem er zu Honor hinüberblickte, die, hinter einen Haufen von Zeitschriften verschanzt, eben dabei war, ein Akrostichon zu entziffern.
»Wozu brauchst du zu wissen, was ein Philister ist?« rief Honor, die nachgerade anfing, mißtrauisch gegen Holdchens anscheinend harmlose Fragen zu werden.
»Ich will es aber wissen! Ich will es wissen!« schrie der kleine Kobold, indem er die Beine hin und her schlenkerte. »Ich will es wissen, ich sitze ja auch ganz still und bin ganz artig!«
Mark gab Honor ein Zeichen, der Kleinen den Willen zu thun.
»Na, soll ich dir's sagen,« versetzte Honor, »ein Philister ist ein langweiliger, lederner, prosaischer Mensch.«
»Und Frau Kane sagte, er wäre ein Philister!« rief Holdchen, vergnügt mit dem Finger auf Mark deutend. »Er wäre ein schrecklicher Philister, und es wäre recht dumm von Tante, ihn hier zu behalten.«
»Holdchen, wie kannst du so was wiedererzählen!« rief Honor mit heißen Wangen. »Du weißt, daß es unrecht ist. Was für ein unartiges Kind du bist!«
»Sie hat's aber gesagt, und sie ist doch eine erwachsene Person!« behauptete Holdchen.
»Sie hat das natürlich nur im Scherz gesagt; Erwachsene machen sich oft einen Scherz.«
»O, sie sagte noch vieles andre; sie sagte, daß ...«
»Still, wir wollen nichts mehr hören,« unterbrach Honor die Kleine.
»Sie sagte,« fuhr Holdchen, ohne sich irre machen zu lassen, in triumphierendem Tone fort, »sie sagte, er wäre bis über die Ohren in dich verliebt!«
Diese Worte brachten Honor um alle Selbstbeherrschung. »Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst solche Dinge nicht wiedererzählen!« rief sie dem kleinen, vor Vergnügen strahlenden Modell zu, »und doch thust du's immer wieder, thust es nur, um die Leute zu ärgern, und weil du glaubst, man könnte dich nicht bestrafen. Aber wenn dich noch niemand bestraft hat, so will ich es einmal thun!«
Und ehe Mark eine Ahnung von dem hatte, was geschehen sollte, hatte sie das vor ihm auf der Staffelei stehende Bild ergriffen und es in vier Stücke gerissen.
»So,« fuhr sie atemlos fort, »jetzt brauchst du nicht mehr stillzusitzen. Herr Jervis wird dich nicht malen.«
Holdchen machte ihre veilchenblauen Augen so weit auf, als sie konnte, und starrte Honor mit ungläubigem Erstaunen an. So war sie noch nie behandelt worden. Sie hatte bis jetzt die Leute ärgerlich, verlegen oder böse gemacht, ohne daß ihr selbst etwas Unangenehmes geschehen wäre. Sie hatte stets einen leichten Sieg erfochten und hatte noch nie einen Menschen so zornig gesehen. Wie rot Honor war, und wie ihre Augen blitzten! Aber nun fielen Holdchens Augen auf die am Boden liegenden Stücke ihres Bildes. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, fiel vom Stuhle, wie ein Kanarienvogel vom Stängchen fällt, und blieb, schreiend mit den Beinen um sich schlagend, am Boden liegen.
»Sie hätten sich über das arme kleine Ding doch nicht so erhitzen sollen, zumal das, was sie sagte, ja die Wahrheit ist,« bemerkte Mark mit sanftem Vorwurfe. Ob sich das auf den Philister bezog oder auf die Behauptung, daß er in sie verliebt sei?
Das gellende Geschrei lockte Herrn und Frau Brande, sowie die sonst so phlegmatische Aja herbei. Diese nahm das schluchzende Kind, das sein krampfhaftes Weinen dann und wann durch einen wütenden Aufschrei unterbrach, vom Boden auf.
»Was ist denn geschehen?« fragte Pelham, zu Honor und Mark gewendet. »Ich dachte, sie würde skalpiert.«
»Was ist dir denn, Herzchen? Was fehlt dir?« flehte Tante Sally, indem sie dem Kinde die Augen mit ihrem Taschentuche trocknete. »Komm her, Holdchen, und erzähle, was man dir gethan hat!«
Bei diesen Worten richtete sich die Kleine in den Armen der Aja auf, und mit zitterndem Finger auf die Schuldige deutend, schluchzte sie: »Die da, das große Mädchen, hat mein schönes, schönes Bild zerrissen, weil ich erzählte, daß Frau Kane gesagt hat, Mark wäre bis über die Ohren in sie verliebt. Sie sagte es gestern bei Frau King, und da hat das große Untier mein Bild zerrissen! Aber ich sage es meiner Mama, ich sage es ganz gewiß meiner Mama! Und Frau Kane hat es doch gesagt und Frau Kane sagte ...«
»Um Gottes willen, bringen Sie den Unband fort!« rief Onkel Pel, halb lachend, halb ärgerlich, worauf Holdchen, obgleich sie mit Händen und Füßen um sich schlug, abgeführt wurde. Aber noch von draußen hörte man ihr unablässiges Geschrei: »Sie hat's doch gesagt! Sie hat's doch gesagt!«