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Siebenunddreißigstes Kapitel.
Klatsch

Jegliches Kurhaus beherbergt zum mindesten eine Klatschbase oder einen Neuigkeitskrämer, falls es ihrer nicht gar mehrere sind! Im Hotel zu den »Vier Winden« wurde diese Würde entsprechend bekleidet durch eine Frau Peregrine, eine etwas verblichene Witwe, die wenig Geld, aber viel Zeit hatte und grenzenlos neugierig war. Sie führte jahraus, jahrein ein Wanderleben von einem Gasthof, einer Familienpension zur andern und war eine Art Gesellschaftsbädeker, der Aufschluß über Familienverhältnisse und Geheimnisse geben konnte, die von den Beteiligten als gänzlich unbekannt oder längst vergessen betrachtet wurden. So rege ihr Geist war, so schwächlich war ihr Körper. An Ausflügen, Picknicks und Eselsritten konnte sie sich nicht beteiligen, Spazierfahrten aber waren ihr zu teuer, so brachte sie den Morgen meist im Garten, den übrigen Tag in der Halle zu, wo sie nahe am Kamin ein besonders bequemes Sofa mit ungehemmtem Blick auf Eingangsthüre und Treppenhaus so ständig inne hatte, daß es längst der Observationsposten hieß. Wünschte man über irgend einen Hausgenossen oder Neuangekommenen Näheres zu erfahren, so konnte man gar nichts Besseres thun, als sich an die zarte Frau mit dem blassen Gesicht, der sanften Stimme und dem vornehmen Wesen wenden, von der man auch allezeit wußte, wo sie zu finden war.

Fräulein Serle war natürlich wie Wachs in den Händen der wißbegierigen Dame gewesen und hatte ihr arglos mitgeteilt, was sie zu wissen gewünscht hatte. Die einsame Witwe flößte ihr Mitleid ein, und so nahm sie sie häufig mit zu Spazierfahrten in dem hübschen Wagen, den Fräulein Serle für die Dauer ihres Aufenthalts gemietet hatte, und versah sie freigebig mit Büchern, Zeitungen, Blumen und Konzertbilletten. Zum Dank für dieses Wohlwollen belehrte Frau Peregrine alle, die es hören wollten, daß Fräulein Serle eine unsinnig reiche überspannte alte Jungfer sei, die spät im Leben ihre Freiheit erlangt habe, ein herrliches Landgut und all ihre Pflichten vernachlässige, um mit einem jungen Ding von Gesellschafterin ein Abenteurerleben zu führen. Gleichwohl bezahle sie dem Mädchen nur fünfzig Pfund (das war richtig, denn Peggy weigerte sich, mehr anzunehmen), und passender wäre es jedenfalls, eine Dame in reiferen Jahren (etwa wie Frau Peregrine!) um sich zu haben. Dieses Fräulein Hayes sei seit zwei Jahren bei Fräulein Serle, wo sie aber vorher gewesen, darüber bewahre das alte Fräulein ein eigensinniges Stillschweigen.

Und dann kam Fräulein Serles Neffe und Erbe an, ein ruhmgekrönter Kriegsmann und dabei bescheiden, wie es dem wahren Helden ziemt. Frau Peregrine hatte natürlich seine Ankunft und die Begrüßung mit Fräulein Hayes scharf beobachtet. Die beiden sahen sich nicht zum erstenmal! Dann hatte sie vom Garten aus ein langes ernsthaftes Gespräch auf der Veranda mitangesehen und wartete nun gespannt aus weitere Ereignisse, die aber vorläufig ausblieben. Hauptmann Kinloch mußte sich eine Zeit lang schonen, seine Ausflüge beschränkten sich daher auf kurze Wagenfahrten, Spaziergänge im Park und dabei begleitete ihn leider nur seine Tante. Erst als er sich etwas gekräftigt hatte, beteiligte er sich auch an größeren Touren. Augenscheinlich war er sehr beliebt bei den Hausgenossen und auch anderwärts, denn er war häufig eingeladen. Sehr nett anzusehen war sein Verhältnis zur Tante; er gab eigene Pläne auf, um mit ihr auszufahren, spielte abends mit ihr Bezigue statt Billard mit den Herren, hielt sich bei Picknicks an ihrer Seite, führte ihren Esel selbst übers Geröll und trug ihr Blumen, Glück und Heiterkeit zu.

Frau Peregrine würde es im Grunde interessanter gefunden haben, wenn er seine Aufmerksamkeit der jungen Gesellschafterin zugewendet hätte, aber obwohl er dieser bei Tisch gegenüber saß, sie in die Kirche begleitete und gelegentlich abends bei der Musik mit seiner Cigarre neben ihr stand, konnte Frau Peregrines wahrlich scharfes Auge nicht entdecken, daß er irgendwie anders mit ihr verkehrt hätte, als mit den andern hübschen Mädchen, von denen das Hotel wimmelte. Hätte sie ihre kurzen Gespräche mitanhören können, so wäre sie vielleicht andrer Meinung geworden, aber viel sagen konnten sie sich überhaupt nicht, denn der unvermeidliche Dritte hing ihnen an wie eine Klette.

Dieser war ein magerer, engbrüstiger Jüngling mit breitem Hemdkragen Namens Mordaunt Fogg, der fast immer eine Cigarette zwischen den Fingern hielt und Kinloch folgte wie sein eigener Schatten. Es war einer jener Fälle von übertriebener jugendlicher Heldenverehrung, die um so heftiger entbrennt, je schärfer der Gegensatz zwischen dem Götzen und seinem Anbeter ist. Der weibische Junge mit seinen duftenden Taschentüchern, seiner Kritik weiblicher Kleidung, seinem elenden Körper, seiner kindischen Eitelkeit und seiner billigen Weltverachtung und der mannhafte, schlichte, sehnige Soldat mit seinen Narben und Wunden waren solche Gegensätze, und gerade darum konnte sich Kinloch seines Anbeters kaum erwehren, und dieser hatte eine besondere Gabe, ihm jedes Alleinsein mit Peggy zu stören. So unleidlich ihm das Jüngelchen war, brachte er's doch nicht übers Herz, einen Menschen, auf den der Tod schon sein Siegel gedrückt hatte, abzuschütteln.

Eines Abends in der Halle schlenderte der junge Mann wieder mit seiner unvermeidlichen Cigarette herbei und nahm den von Fräulein Serle verlassenen Sitz ein.

»Was haben Sie denn da für einen großen Briefumschlag?« fragte er. »Depeschen?«

»Nein, mein junger Freund, nur einen Erlaß vom Kriegsministerium. Unsereiner erhält selten Depeschen!«

»Er wird nur darin genannt, meinen Sie?«

»Genannt wird fast jeder, der einen Krieg mitmacht.«

»Und jeder wird wohl auch fürs Viktoriakreuz vorgeschlagen, hm?«

Große Dampfwolken von sich blasend, lag der Jüngling matt in seinem Stuhl und starrte seinen Götzen an, dem diese bewundernden Blicke das größte Unbehagen verursachten.

»Sie sind nicht im Theater heute abend?« fragte. Peggy das Knäblein.

»Nein,« näselte er. »Ist zu feucht – bin etwas erkältet und schließlich – Theater in Mentone, wenn man die Sachen in London und Paris gesehen hat – meinen Sie nicht auch, Kinloch?«

»Mich können Sie nicht als Theaterkritiker aufrufen! Ich habe zu selten Gelegenheit, meinen Geschmack in dieser Hinsicht zu bilden.«

»Nein – Ihre Bühne ist der Kriegsschauplatz, die Welt; dort spielen Sie die Heldenrollen.«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»Doch, Ihr Name wird in die Weltgeschichte eingetragen werden!«

»Weltgeschichtlich ist es gerade noch nicht, wenn einer das Viktoriakreuz bekommt!«

»Aber Sie haben doch ein hohes Ziel, dem Sie zustreben – mit brennendem Ehrgeiz zustreben?«

»Ja,« gab Kinloch mit einem tiefen Blick auf Peggy zu.

»Fräulein Hayes, darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen?« fragte da Frau Peregrines zirpende Stimme.

»Ja natürlich, bitte, nehmen Sie den Armstuhl! Darf ich Ihnen Kaffee geben?«

»Nein, danke, ich kann sonst nicht schlafen. Herr Fogg, Sie wollten ja wissen, wer die Dame mit dem Foxterrier ist.«

»Gewiß! Wer und was ist sie denn?«

»Eine Frau Hodson, eine geschiedene Frau. Der Mann soll sie abscheulich behandelt haben, und doch geht man ihr aus dem Weg, nur weil sie's bei dem Ungeheuer nicht aushalten konnte!«

»Das ist grausam! Ich wenigstens werde ihr nicht aus dem Weg gehen.«

»Ich erfuhr ihre Geschichte durch Frau Montserrat, die mich gestern besuchte, und dabei fällt mir ein,« setzte sie mit einer plötzlichen Wendung gegen Peggy hinzu, »haben Sie Verwandte Namens Goring?«

Die Frage war so unerwartet gekommen, daß Peggy im ersten Augenblick sprachlos war.

»Wie kommen Sie darauf?« fragte sie dann unsicher.

»Nur weil Frau Montserrat ganz überrascht war, Sie hier zu sehen, und mir sagte, sie hätte vor zwei oder drei Jahren in Dublin eine hübsche Frau Goring gekannt, die ihre Zwillingsschwester sein müsse.«

»Ich habe keine Schwestern.«

»Dann können Sie nicht wohl Frau Gorings Zwilling sein!« rief Frau Peregrine lachend.

»War dieser Goring nicht ein hübscher Bursche und entsetzlicher Spieler?« fiel Fogg ein. »Ich traf ihn früher einmal. Was ist denn aus ihm geworden? Er war doch Offizier?«

»Soviel ich weiß, hat er den Dienst quittiert und ist nach Amerika gegangen,« versetzte Kinloch mit großer Ruhe.

»Und die Frau?« forschte Frau Peregrine weiter. »Er soll das hübsche Ding schändlich behandelt haben. Was ist denn aus ihr geworden?«

»Sie überschätzen meinen Bekanntenkreis,« sagte Kinloch aufstehend, »ich kann mich darin nicht mit Ihnen messen. Sie fragten mich neulich nach Photographieen aus Indien? Darf ich sie Ihnen vielleicht jetzt gleich zeigen?«

»Sehr liebenswürdig! Das macht mir große Freude,« versicherte Frau Peregrine, mit Kinloch abgehend.

»Haben Sie nicht auch den Eindruck, daß Kinloch über diese Frau Goring mehr weiß, als er sagen mag, Fräulein Hayes?« bemerkte Fogg, dem Paar nachblickend. »Ist Ihnen nicht ausgefallen, wie geschickt er die alte Person von ihr ablenkte? Glauben Sie mir, er kennt die hübsche Dame recht genau, ist aber ein Mann, der zu schweigen weiß.«

Fräulein Hayes hatte nur ein etwas erzwungenes Lächeln für diese scharfsinnige Beobachtung. Sie war sehr beschäftigt, ihre Handarbeit sorglich zusammenzupacken, murmelte dann etwas von Briefen und ging gleichfalls ab.

»Sollte mich gar nicht wundern, wenn sie doch etwas mit dieser Frau Goring zu schaffen hätte,« überlegte Fogg, eine neue Cigarette ansteckend.

Geoffroy Kinloch war ein kluger Mann, der weder mit Wort noch Blick je auf die Unterredung zurückkam, die er mit Peggy gehabt hatte. Er begegnete ihr artig, freundschaftlich, aber zurückhaltend, und sie fragte sich manchmal, ob es denn Wirklichkeit gewesen war, daß sie ihn hatte erbleichen und sein Gesicht in Schmerz verhüllen sehen bei ihrer abschlägigen Antwort; ja sie fing sogar an, sich über seine Gelassenheit zu wundern, und sie fing an, ihn zu lieben – so widerspruchsvoll ist ja der Mensch und insonderheit die Frau! Es gibt Persönlichkeiten, die gleich Bildern aus gewisser Entfernung am besten wirken und die Nähe schlecht vertragen, andre dagegen gewinnen, je öfter und vertrauter man mit ihnen verkehrt, und Kinloch gehörte zu letzterer Gattung. Vom ersten Frühstück an – und das ist ein so viel traulicheres Mahl als das zweite! – bis auf den letzten Accord des letzten Walzers im Tanzsaal hatte Peggy Tag für Tag Gelegenheit, ihren Bewerber in jeder Beleuchtung zu studieren! Als Mann unter Männern hörte sie ihn in der Halle ernste Fragen erörtern, als »Onkel« sah sie ihn für den kleinen Jack Thornbull Boote schnitzeln und den Schwesterchen bei der feierlichen Bestattung ihrer Puppe helfen, und als ritterlichen Kavalier, ohne Rücksicht auf das Alter der betreffenden Dame, lernte sie ihn bewundern, wenn er wie ein Sohn sich der Tante widmete oder wenn er den ganzen Weg nach St. Agnes zurückmachte, um Frau Constantines Sonnenschirm zu holen, den ganzen steinigen Weg nach Monte Bellinda hinauf neben Fräulein Gilrays Esel herging, nur weil sie so schrecklich Angst hatte, wenn Hauptmann Kinloch nicht bei ihr war!

Ueberhaupt dieses Fräulein Gilray – ein hübsches Mädchen mit zärtlichen, hilfesuchenden Augen, so ausgesucht gekleidet, wie es der Tochter eines Millionärs zukam – erregte in Peggy ein ganz sonderbares Gefühl, das keine der von Goring verehrten Damen je bei ihr wachgerufen hatte! Sollte das am Ende Eifersucht sein? So fragte sie sich selbst, wenn ihr das Herz beinah körperlich weh that, so oft sie Kinloch mit ihr zusammen sah. Wenn sie aber eifersüchtig war, so mußte sie ihn ja lieben! Das Blut stieg ihr heiß in die Wangen bei diesem Gedanken, aber so ganz unwahrscheinlich kam er ihr selbst nicht mehr vor.

Kinloch war ja auch jeder Liebe würdig! Ein Mann wie er, selbstlos und ehrenhaft, gut, treu und wahr, vornehm im höchsten Sinn! Ja, aber sie war seiner nicht würdig! Dieser Mann mußte ein Mädchen wählen, das keine häßliche, beschämende Vergangenheit mit sich herumtrug, ein Mädchen – ja, wie diese Armantine Gilray! Und Peggy war selbst gerührt, als sie ihn in Gedanken der Nebenbuhlerin – er hatte ja neulich dreimal an einem Abend mit ihr getanzt! – abtrat, in Gedanken als Gesellschafterin seiner Tante sogar der Hochzeit beiwohnte! Schließlich weinte sie sich in Schlaf – sie war ja doch erst Dreiundzwanzig!


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