Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das große Modewarengeschäft in Barminster führte die Firma Grey, Lavender & Cie., obwohl die Herren Grey und Lavender längst die Früchte ihres Fleißes auf stattlichen Landsitzen genossen. Das Geschäft wurde von einer Aktiengesellschaft betrieben, deren Losungswort rascher Umsatz war, und war das glänzendste und fortschrittlichste in der Stadt, die bald Großstadt zu werden hoffte. Mit den veralteten Postkutschenanschauungen hatte man gründlich aufgeräumt, und das Ellenwarengeschäft war zu einem Warenhaus erweitert worden, das Schuhe und Stiefel, Möbel und Lampen, Schreibmaterialien und Bücher, Porzellan und Glas führte. Die gefräßige Handelsgesellschaft hatte allmählich alle kleineren Nebenbuhler unterboten, aufgekauft, lahmgelegt, und aus dem Laden war ein Häuserquadrat aus rotem Backstein geworden. Man hatte von einer Abteilung des Geschäfts zur andern eine ordentliche Fußwanderung zu machen, und an jedem schönen Nachmittag konnte man Wagen und Fahrräder in Menge vor den lockenden Schaufenstern geschart sehen. Diese boten fast täglich ein andres Bild, immer in einem Ton gehalten, heute türkisblau, morgen maisgelb, übermorgen scharlachrot. »Pariser Modell« stand an jedem fertigen Kleid angeschrieben, große Plakate verkündeten, daß die neuesten Einkäufe »aus maßgebenden Plätzen« eingetroffen seien, und die schaulustige Menge wurde durch verführerische Preiszettel angelockt. Eine ganze Abteilung war dem Vertrieb litterarischer Erscheinungen zu »Spottpreisen« gewidmet; man konnte einen Roman von »hundertzwanzigtausend Wörtern um nur sieben Pence« erwerben, »achtzigtausend Wörter spannender Abenteuer in bestem Druck mit vorzüglichen Illustrationen um vier Pence« haben!
Zahlreiche Wagen hielten vor dem Haupteingang, dessen Schwingthüre ein alter Diener in Livree, mit Kriegsdenkmünzen geschmückt, unaufhörlich hin und her bewegte, drinnen aber summte und surrte es wie in einem Bienenstock, die Mechanik der Kassen klapperte, geschäftige Verkäufer eilten hin und her, alles war Leben und Bewegung, als eine blasse junge Dame in verstaubtem Reisekleid schüchtern eintrat. Sie sah sich zaghaft und hilfesuchend um, als ein würdevoller Herr in Frack und weißer Halsbinde auf sie zutrat mit der Frage: »Was steht zu Diensten, gnädiges Fräulein – welche Abteilung?«
Verlegen und errötend stotterte sie: »Mäntel ...«
»Mäntel? Bitte hier,« sagte er, sie hastig weiter weisend, und mit dem Losungswort: »Mäntel!« wurde sie von einer Abteilung zur andern gejagt.
Der »Mäntelsalon« war genau so überfüllt wie die übrigen Räume. Verschiedene Damen probierten Capes und Jacken, eine wollte einen Regen-, die andre einen Theatermantel haben. Eine untersetzte alte Frau saß, die fetten Hände über ihrem Samtbeutel ineinander gelegt, auf einem Sofa und verfolgte jede Bewegung einer eleganten Frauengestalt in schwarzem Seidenkleid, die ein flaumiges phantasievolles Cape umgelegt hatte, mit gespannter Aufmerksamkeit. Die junge Dame ging langsam auf und ab, um alle Reize des bezaubernden Kleidungsstücks zur Anschauung zu bringen.
Die Fremde betrachtete diesen Vorgang, wurde aber bald gestört durch einen kahlköpfigen Herrn in etwas fettig glänzendem schwarzem Rock, der sich über sie beugte.
»Ihre Befehle, gnädiges Fräulein?«
Peggie starrte ihn verdutzt an.
»Werden Sie schon bedient?«
»Nein.«
»Womit kann ich dienen?«
»Ich möchte Fräulein Belt sprechen.«
»Fräulein Belt ist beschäftigt,« erwiderte er, auf die hin und her schwebende elegante Probiermamsel deutend, »aber ich stehe zu Diensten.«
»Danke – ich will lieber warten.«
In diesem Augenblick machte die schlanke Frauengestalt eine Wendung, und Peggy erkannte Nancy Belts unschönes, offenes Gesicht. Sie selbst wurde nicht von ihr bemerkt und zog sich in den Schutz eines Gestells mit Regenmänteln zurück. Wie staatlich diese Nan aussah, wie vornehm sie sich bewegte! Und dieses Kleid – wie das saß! Wie schön sie ihr Haar trug, wie viel Selbstbewußtsein sie gewonnen hatte und wie anmutig und einschmeichelnd ihr Benehmen war! Sie machte der alten Frau, die einem kleinen indischen Götzenbild ähnelte, überzeugend klar, daß dieses duftige Cape eben das Richtige für sie sei. »So schick, so echt französisch, so gar nicht alltäglich und so billig! Die Spitze von echter nicht zu unterscheiden, alles mit Seide gefüttert, genau nach einem hochfeinen Pariser Modell! Das Original hat die Gräfin Seeweed genommen – ungefähr Ihre Figur, gnädige Frau. Gestern erst hab' ich's an sie verkauft. Dazu ist's noch ein Gelegenheitskauf, denn das Stück ist zu elf Pfund ausgezeichnet, wird aber wegen vorgerückter Saison zu acht abgegeben – solche Gelegenheit trifft sich kein zweites Mal, gnädige Frau!«
Und abermals legte Nan das Cape um, eine Kriegslist, die den Sieg davon trug.
»Ja, es gefällt mir wirklich sehr!« rief die Alte hingerissen. »Ich weiß nur nicht recht, was meine Tochter dazu sagen wird, die sonst alles für mich besorgt. – Meinen Sie nicht, es sei zu jugendlich?«
»O gnädige Frau!« – tragisch vorwurfsvoll.
»Hochelegant ist es in der That. Bitte, schicken Sie mir's diesen Nachmittag zu. – Meine Adresse haben Sie doch?«
»Jawohl, gnädige Frau. – Darf ich bitten an der Kasse. – Habe die Ehre, gnädige Frau!«
Und Fräulein Belt neigte sich hoheitsvoll vor der kleinen Gestalt, die stehend an eine Wassertonne erinnerte, und, ihre Handtasche umklammernd, davonwatschelte. Jetzt gähnte Nancy und reckte nach vollbrachter That befriedigt die Arme, als sie mit einemmal der Jugendfreundin gewahr wurde. Einen Augenblick starrte sie sie an, dann eilte sie auf Peggy zu.
»Bist du's denn wirklich? Meine liebe alte Peggy!«
»Ja – ich bin's,« versetzte sie leise.
»Wer hätte das gedacht, daß wir uns hier wiedersehen würden? Wo ist dein Mann? Nach England versetzt?«
»Nein, Nan, ich kam nur hierher, um dich zu sprechen. Hauptmann Goring und ich sind – getrennt; ich stehe ganz allein in der Welt.«
»Fräulein Belt!« erklang des Kahlkopfs Stimme in etwas scharfem Ton. »Bedienen Sie diese Dame?«
»Nein, sie ...«
»Sie wissen wohl, daß Sie nicht angestellt sind, um hier Besuche zu empfangen.«
»Entschuldigen Sie,« erwiderte Nan sehr demütig. »Es ist eine alte Freundin, die mich eigens aufgesucht hat.«
»Geh' jetzt,« tuschelte sie Peggy zu. »Geh' in die Konditorei von James – in dieser Straße auf der andern Seite. Dort laß dir etwas zu essen geben und sage den Leuten, daß du mich erwartest. Ich will um Urlaub bitten und werde um fünf Uhr bei dir sein.«
Peggy nickte. Sie war ausgehungert und todmüde, der Mann mit dem kahlen Kopf jagte ihr eine fürchterliche Angst ein, und sie sehnte sich, hinauszukommen, allein das war nicht so einfach. Alle paar Schritte wurde sie angeredet und aufgehalten; jetzt war's ein junger Mann mit einer ganz wunderbaren Auswahl in seidenen Strümpfen, jetzt eine junge Dame mit brokatbezogenen Handschuhkasten, und dieser ganze Ort war so fröhlich und so vielgestaltig, daß sie ganz geblendet und verwirrt wurde. Jede eiserne Säule war mit Samt und Seide umschlungen, phantastische Gewinde seidener Bänder und Spitzen, goldener und perlschimmernder Tressen zogen sich als Gewinde von einer zur andern, dazwischen seidene Blusen, Spitzentücher und Fächer umrahmend. Peggy kam sich wie ein Eindringling, wie ein Dieb vor, als sie, die verführerischsten Anpreisungen ablehnend, diese bunte geschäftige Welt durcheilte; sie hatte das Gefühl, als ob aller Augen auf sie gerichtet wären, als ob jeder einzelne sie fragte: »Was machst du hier, wenn du doch nichts kaufen kannst?«
Endlich gelangte sie zum Ausgang und witschte, ein Mädchen mit französischen Taschentüchern und einen Jüngling mit Ständerlampen schroff abweisend, durch die große Schwingthüre hinaus. Sie war ohne Aufenthalt von Dublin bis Barminster gereist, hatte ihr Gepäck auf dem Bahnhof gelassen und sofort Nancy Belt aufgesucht, kein Wunder, daß sie erschöpft war. In der Konditorei, die sie ohne Schwierigkeit fand, bestellte sie Thee und Butterbrot und sagte, daß sie Fräulein Belt erwarte, worauf sie von der Frau selbst, die Fräulein Belt sehr zu schätzen schien, in ein gemütliches Hinterzimmer geführt wurde. Peggy hatte kaum ihren Thee getrunken, als sie trotz aller Bemühungen, die Augen offen zu halten, fest einschlief.
»Armes Kind! So müde bist du!« mit diesem Ruf weckte sie die Freundin selbst, nachdem sie schon eine Weile vor ihr gestanden hatte, betroffen von der furchtbaren Veränderung, die mit Peggy vor sich gegangen war.
»Jetzt schütte mir dein Herz aus,« sagte Nan, sich neben sie setzend und sie umfassend, »oder wollen wir mit dem Erzählen warten, bis du dich mehr erholt hast?«
»O nein, nein, Nan! Ich muß dir auf der Stelle alles sagen, solange ich noch den Mut dazu habe.«
»So fang' nur an, Herzchen! Wir sind hier ganz ungestört. Frau James läßt niemand herein.«
Flüsternd, stockend, in abgebrochenen Sätzen, allmählich aber klarer und zusammenhängender erzählte Peggy die unglückliche Geschichte ihrer Ehe bis zu Gorings Eröffnung, daß sie überhaupt nicht seine rechtmäßige Frau sei.
»Aber ich war doch bei deiner Hochzeit und die ganze Nachbarschaft auch!« rief Nan ungestüm.
»Was beweist das? Er war eben vorher schon verheiratet, und die Frau lebt.«
»Das sollte man doch gewiß wissen. – Hast du denn niemand, der Nachforschungen anstellen könnte? Das ist ja greulich, so etwas ohne Widerrede hinnehmen zu müssen! Dein Schwager sollte einen Advokaten fragen und die Geschichte untersuchen.«
»Ich glaube nicht, daß es den geringsten Wert hätte – solche Fälle kommen ja öfter vor, und ich hab's jetzt überwunden, aber, o Nan, ich kann dir nicht sagen, was ich durchgemacht habe. Niemand, niemand weiß es« – schwere Thränen rollten über die eingesunkenen Wangen – »und wenn ich jetzt auch ganz verlassen und der Schande preisgegeben bin, es ist immer noch besser, als mein Leben mit ihm. Ich war gar nicht mehr ich selbst, ein willenloses, verängstigtes, stumpfsinniges Geschöpf – ich glaube, ich wäre blödsinnig geworden. Travenor hatte ja so recht, aber zu ihm kehre ich nicht zurück, ich will ihm nicht die Schande ins Haus tragen. Zu dir kam ich, um Hilfe zu suchen! Ich habe noch ein bißchen Geld und ein paar Sachen, die ich verkaufen könnte, meine Uhr und meine wertvolle Reisetasche, auch bin ich jung und gesund und zu jeder Arbeit willig. Verschaffe mir nur irgend eine Thätigkeit, die mich vor dem Verhungern schützt und – vor dem Grübeln!
»O du liebes armes Seelchen!« sagte Nan, ihr verhärmtes Gesichtchen zwischen die Hände nehmend »Natürlich sorge ich für dich! Hättest du Lust, in das Geschäft einzutreten, wo ich bin?«
»Ja, das möchte ich wohl.«
»Auf Rosen gebettet ist man dort allerdings nicht, das muß ich dir sagen! Man wird gehörig mit der Peitsche angetrieben, aber schließlich wären wir doch beisammen.«
»Aber werden sie mich auch annehmen? Von Buchführung verstehe ich gar nichts, und ach – wenn sie fragen, wer ich sei?«
»Das bißchen Zahlen, was du brauchst, lernt sich rasch, und auf meine Empfehlung nimmt man dich schon. Ich nehme dich dann auf mein Zimmer.«
»In die Mäntelabteilung?«
»O Gott, nein! Da geht's nach der Figur, aber mit deinem hübschen Gesicht werden sie dich wohl in der Abteilung für Herrenhandschuhe beschäftigen! Ich meine, mein Schlafzimmer im Haus – fünfe sind wir schon, aber eine. hat doch noch Platz.«
»Ich bin überzeugt, daß man mich nicht anstellen wird – so ganz ohne Erfahrung und dumm und ungeschickt, wie ich bin ....«
»Doch, doch, es wird gehen. Jetzt kommt die Hauptgeschäftszeit und letzte Woche wurden verschiedene fortgejagt. Ich will schon für dich sprechen, du mußt aber auch den Kopf hoch halten und möglichst viel aus dir machen. Und nun wollen wir uns gleich auf den Bahnhof verfügen und dein Gepäck holen, meinst du nicht? In der Nachbarschaft weiß ich von einer sehr anständigen kleinen Wohnung, wo du dich ein paar Tage aufhalten kannst.«
Nancy Belt war ganz Leben und Thätigkeit. Bald standen die Jugendfreundinnen auf dem Bahnhof, aber Nan allein handelte, forderte das Gepäck, bezahlte dafür, mietete das Zimmer und bestellte Abendbrot.
»Jetzt sprich nicht und denke nicht, Peg,« empfahl sie ihrem Schützling. »Du bekommst eine kräftige Suppe und dann legst du dich aufs Ohr und schläfst. Morgen ist Sonnabend, da kann ich um drei Uhr zu dir kommen, dann findet Beratung statt.«
Punkt drei Uhr erschien sie denn auch.
»Abgemacht mit dem Alten!« war ihr erstes Wort. »Den hab' ich hübsch eingeseift! Hab' ihm gesagt, er werde alle Tage schlanker, während er so fett ist, wie unsre besten Schweine daheim! Montag früh mußt du dich auf dem Comptoir vorstellen, und wenn du gefällst – und das ist sicher! – bist du im Trockenen! Sie wollen dich bei den Blumen und Bändern verwenden.«
»Das klingt leichter!«
»Leicht ist im Geschäft gar nichts. Bitte, stell' dir nur das nicht vor und überlege dir's noch einmal, ob du nicht doch lieber an deinen Schwager schreiben willst.«
»Schreiben werde ich ihm, aber nur, daß ich von Goring getrennt sei und mein Brot verdienen wolle.«
»Mein Gott, wenn ich das alles bedenke! Kaum Zwanzig und so viel durchgemacht! Du hast dir auch eine ganz altgebackene Miene beigelegt, als ob du alle Sorgen der ganzen Welt zu tragen hättest! Mir war dieser Goring nie angenehm; es lag immer etwas Höhnisches in seinem Blick, sogar bei dem Tanz, wo er dir so den Hof gemacht hat. Wenn's der andre gewesen wäre, der Große, das war ein rechter Mann ...«
»Reden wir nicht von jenen Zeiten, Nan,« unterbrach sie Peggy. »Sprechen wir lieber von dem Laden ...«
»Warenhaus, muß ich bitten! Ja also, denke dir die Sache nicht zu angenehm: lange Arbeitsstunden, viel Mühe und Dutzende von Augen, die einen antreiben und beobachten. Du erhältst freie Station und sechzehn Pfund im Jahr, mußt dich aber selbst kleiden, immer anständig aussehen, in Schwarz mit sauberen Kragen und Manschetten.«
»Schwarze Kleider habe ich im Vorrat.«
»Das Essen ist leidlich – einen Tag warmen Braten, am nächsten kalten und Pudding, nur hat man häufig nicht die Zeit, sich satt zu essen. Eine halbe Stunde Essenszeit scheint ja lang genug zu sein, aber oft hat man eben erst vorgelegt bekommen, wenn sie um ist, und muß schlingen, wie eine Riesenschlange oder hungern. Fünfzig Mädchen essen zugleich und nur eine Person legt vor, die wird natürlich nicht fertig. Gekocht ist's oft herzlich schlecht, und das Eßzimmer ist ein dumpfes Souterrain ohne Fenster mit Gasbeleuchtung – im Sommer wird mir oft übel darin. Um halb acht Uhr morgens wird gefrühstückt, Thee, Butterbrot und Eingemachtes; wer ein Ei will, bezahlt einen Penny. Punkt acht Uhr muß man im Geschäft sein, sonst kostet's Strafe. Sonnabend hat man den halben Tag frei, was sehr nett ist, wenn man Freunde hat, für andre ist's trübselig. Jeden Abend muß man um elf Uhr zu Haus sein, sonst wird man hinausgesperrt. Vierzehn Tage Ferien im Jahr hat jede zu beanspruchen.«
»Die werde ich nicht beanspruchen,« sagte Peggy entschieden.
»Das wollen wir doch erst sehen! Unsre Wohnung nennen wir die Kaserne; es sind zwei Häuser, eins für die männlichen, eins für die weiblichen Angestellten. Kahle Stuben, aber reinlich; jede hat ihr Bett und ihren Waschtisch. Eine Haushälterin führt die Aufsicht; ist sie in gnädiger Laune, so bekommt man warmes Wasser, ist man nicht wohl, so macht sie einem Leinsamenumschläge! Im Wohnzimmer haben wir ein Klavier, Stühle und Tische; an Regensonntagen sitzt es gedrängt voll, und das Geschnatter zerreißt einem schier das Trommelfell.«
»Sehr verlockend klingt deine Beschreibung nicht! Weshalb bleibst du denn eigentlich, Nan?«
»Weil ich vorwärts komme. Ich bin eine gute Verkäuferin, und man weiß mich zu schätzen; ich habe sechzig Pfund Gehalt.«
»Sechzig Pfund!«
»Ich bin's auch wert und mache ihnen immer klar, daß es ein Opfer ist, wenn ich bleibe.«
»Ja, ich habe dich gestern sehr bewundert, dich und dein Kleid! Das muß ja sehr teuer sein?«
»Kostet mich nichts! Das war ein Reklamekleid, das ich nur im Verkaufslokal trage. Zwei werden mir jährlich geliefert, und zwar hat Madame Jupon, die erste Schneiderin, sie selbst auszuführen.«
»Aber könntest du mit deinem Talent in London nicht noch weiter kommen?«
»Das könnte ich! Es ist mir sogar ein allererster Posten als Probierfräulein in einem hochfeinen Geschäft im Westend angeboten worden, aber andrerseits, weißt du – oder vielmehr du weißt es noch nicht! – ist eben mein junger Mann hier. Tom Potts, Teppichabteilung.«
»O Nan, ich hoffe von Herzen, daß er ein sehr netter Mensch ist.«
»Ist er auch, nur nicht gerade äußerlich. Nun, du wirst ihn ja morgen kennen lernen. Zu sehen ist freilich nicht viel an ihm, aber er ist zuverlässig. Heute hätte ich mit ihm ausfliegen sollen, aber natürlich gingst du vor. Man wünscht nicht, daß die jungen Mädchen bei Grey & Lavender mit den jungen Leuten verkehren, und bändelt sich ein Verhältnis an, so erhalten beide Teile den Laufpaß! Liebe ist verboten, so gut wie Schwatzen, Lachen und Sitzen, und man kann nie wissen, weshalb man eines schönen Tags ins Comptoir befohlen wird, seinen Monatslohn ausbezahlt erhält und sein Bündel schnüren darf.«
»Aber du und Herr Potts ...«
»Ohne Sorge, Kind! Dem alten Shiny, so heißt unser Drache, dämmert im entferntesten keine Ahnung auf, daß ein Gehilfe bei den Teppichen die Kühnheit haben könnte, seine Wünsche zur Mäntelabteilung zu erheben!«
»Und wie kommt ihr dann zusammen?«
»Nur am Sonnabend und Sonntag. Manchmal legen wir uns Zettelchen unter den roten Läufer, und wenn das herauskäme, wär's allerdings mißlich ... doch da rede ich von meinen Angelegenheiten, statt von den deinigen!«