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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Der Ausverkauf

Der Juli war immer ein stürmischer Geschäftsmonat bei Grey & Lavender, denn vom 15. bis 31. tobte ein »Inventurausverkauf« durch alle Räume. Die Lokalblätter brachten spaltenlange Anzeigen, das ganze Warenhaus wurde umgeorgelt, damit die verlockendsten Waren gut ins Auge fielen, große Körbe mit bunten Seidenband- und Seidenstoffresten, Spitzen und einzelnen Taschentüchern fanden an jeder verfügbaren Ecke Aufstellung, und die Verkäufer erhielten in diesen Tagen Prozente, die sich bei den gewandtesten auf ganz nette Summen belaufen konnten.

Peggy fand so gut wie die andern ihren Spaß an dem chaotischen Treiben. Die Aufsicht war jetzt minder streng, weil die Herren ihre Aufgabe nicht mehr bis ins einzelne bewältigen konnten, und so hatte man mehr Bewegung und Freiheit. Die Mädchen vom Glas waren auch bei den Resten und aus der dunkeln Unterwelt des Linoleums stiegen die Herren zu den »Phantasieartikeln« auf. Das ganze Haus war von einer dichtgedrängten Menge erfüllt, die Ladentische waren belagert, die Kassen klapperten bis zur Erhitzung.

Eines Nachmittags ging Herr Preedy, der Geschäftsführer, mit einem Herrn vom Verwaltungsrat durch die Räume, beide mit höchster Genugthuung, denn an einer Dividende von zehn Prozent war gar nicht mehr zu zweifeln.

»Unser Einkaufchef hat eine glückliche Hand,« bemerkte Herr Preedy wohlgefällig gegen Sharples, der sich den Herren angeschlossen hatte und mit ihnen von der Haupttreppe aus das Treiben übersah. »Gar keine Verluste, nur Gewinn!«

»Verluste sind nicht ganz zu vermeiden,« sagte Sharples, »An den ersten zwei Tagen wurde ziemlich viel ›gemaust‹: Handschuhe, Strümpfe, Seidenreste und sogar etliche Stücke guter Spitze.«

»Himmel, das ist ja schrecklich!« rief der Aktionär mit Schaudern.

»Freilich, und das Gedränge ist so groß, daß man niemand ertappt, und meist ist das bestgekleidete Publikum das schlimmste. Damen mit Radmänteln und Handtaschen sind mir immer verdächtig, ganz einerlei, was für Namen sie tragen,« erklärte der Geschäftsführer mit Nachdruck.

»Ich werde wieder einmal die Runde machen,« sagte Sharples. »So voll sah ich unsre Räume überhaupt noch nie.«

Damit tauchte er in der wimmelnden Menge unter.

Peggy hatte alle Hände voll zu thun, innerhalb zehn Minuten hatte sie eine junge Dame mit Blumenranken, eine andre mit Perlschmetterlingen, eine dritte mit einer Federnboa versehen. Jetzt kam ein unscheinbares altes Frauchen an die Reihe, das schon einige Zeit geduldig gewartet hatte. Sie hatte ein schmales, feines Gesicht, ein Paar hilfloser blauer Augen und ein wohlwollendes Lächeln, trug einen sehr heruntergekommenen Radmantel von schwarzem Kaschmir, mit gelbem Pelz gefüttert, der für zwei Gestalten ihres Umfangs ausgereicht hätte, und auf einem falschen braunen Scheitel einen vorsintflutlichen schwarzen Hut, dessen Federn nur noch Kiele waren, die kühn aus einem ganzen Beet verblaßter Veilchen aufragten.

»Ich möchte diesen Hut frisch hergerichtet haben,« begann das alte Dämchen zutraulich, indem sie sich Peggy gegenüber am Tisch niederließ. »Es ist nämlich mein Lieblingshut, der mir sehr gut sitzt. Sie sehen, er deckt mir die Ohren so nett,« setzte sie, den Kopf wendend, hinzu, wobei alle Schäden der ehrwürdigen Kopfbedeckung wie ihr eigenes schneeweißes Haar scharf beleuchtet wurden. »Einen neuen, der mir so bequem wäre, bekomme ich nirgends! Ich habe vorhin zugehört, wie hübsch Sie sich in die Wünsche der jungen Damen hineindachten, jetzt beschäftigen Sie sich nur auch so mit mir!«

»Ich werde mein Möglichstes thun,« versetzte Peggy mit sonnigem Lächeln.

»Also geben Sie mir einen guten Rat wegen des Huts.«

»Wenn ich Ihnen raten darf, gnädige Frau, so wäre ich entschieden dafür, einen neuen zu bestellen.«

»Ach, mein liebes Fräulein, ich habe ein halbes Dutzend neue zu Haus, die alle nichts taugen. Sehen Sie, an den bin ich nun einmal seit Jahren gewöhnt und diese Form allein habe ich gern.«

»Die Form könnte ja ganz genau nach dieser gemacht werden – vorrätig ist sie nicht mehr – entweder in feinem, schwarzem Stroh oder in weicher gezogener Seide.«

»Gezogene Seide – dazu würde ich mich am Ende herbeilassen,« sagte die alte Dame huldvoll.

»Ja, und er soll Ihnen die Ohren ebensogut decken! Ich würde dann schwarze Spitze dazu verwenden und lila Flieder mit lila Knüpfband.«

»Das klingt ja ganz nett, aber so klingt's immer, und doch fällt keiner aus wie der,« wehklagte sie.

»Ich bin überzeugt, wir werden Sie zufrieden stellen.«

»Wollen Sie sich persönlich um den Hut annehmen?«

»Mit Vergnügen, gnädige Frau. Vielleicht suchen Sie Band und Spitze gern selbst aus?«

»Sehr gern – alles vom Besten.«

Damit legte sie eine abgeschabte, einst schwarz gewesene Ledertasche, sichtlich vollgepfropft mit Einkäufen, auf den Tisch und machte sich mit geradezu kindlicher Lust an die Besichtigung der Bänder. Während sie eben das feine, welke Gesicht in den Kasten mit Fliederzweigen gesteckt hatte, trat Herr Sharples mit erregter Miene herzu.

»Ich höre mit Bedauern, daß man Sie Dinge vom Ladentisch wegnehmen sah, Madame – wir vermissen eine Reihe von Artikeln,« redete er sie an.

»Was wollen Sie damit sagen? Etwa, daß ich stehle?« rief das alte Dämchen, sich steif aufrichtend und ihm mit furchtbarer Aufregung ins Gesicht sehend.

Ihr abgetragener Hut, die schäbige Ledertasche, runzelige Handschuhe, alles deutete auf Armut, und doch war der Sack zum Bersten angefüllt, und sie trug den verdächtigen Radmantel.

»Ich fürchte, daß darüber kein Zweifel bestehen kann, und habe eben nach der Polizei geschickt.«

»Nach der Polizei!« wiederholte die alte Frau so schrill, daß es wie ein Pfiff durch das Gesumme und Geschwirrs der Menge drang und in der nächsten Umgebung tiefes, erwartungsvolles Schweigen entstand. Das Gedränge aber wurde nur noch dichter, denn jeder wollte doch sehen, ›was los war‹.

»Wissen Sie etwa, wer ich bin?« fragte die Angeschuldigte. – Schon schwirrte das Gerücht durchs Haus, sie sei eine berüchtigte Person in der Maske einer Alten.

»Nein,« versetzte Sharples, den schäbigen Mantel mit Kennerblicken musternd. »Nein, aber ich habe keinen Zweifel, daß ich's von dem Polizeibeamten genau erfahren werde.«

»In meinem ganzen Leben ist man mir noch nicht mit solcher Unverschämtheit begegnet,« entgegnete sie, den Kopf zurückwerfend und die gaffende Menge hochmütig ansehend. »Darf ich fragen, wie Sie heißen, mein Herr?«

»Darf ich fragen, was das ist?« versetzte er, mit einer raschen Wendung aus dem zerrissenen Pelzfutter ihres Mantels ein spitzenbesetztes Taschentuch ziehend.

»Sie sehen, daß Sie ertappt sind!« rief er, das kleine Tuch im Triumph hochhaltend.

»Ich versichere Sie, mein Herr, daß ich dieses Tuch nie berührt, nie gesehen habe, es muß im Vorübergehen hängen geblieben sein ...«

Man hörte der zitternden Stimme an, daß die alte Frau dem Weinen nahe war. Wie ein in der Schlinge gefangenes Wild sah sie hilfeflehend von einem der neugierigen Gesichter zum andern.

»Sie müssen mir Ihre Tasche übergeben und mit mir kommen,« fuhr Sharples fort, »um sich durchsuchen zu lassen! Vorwärts, Alte« – er legte ihr die Hand auf die Schulter – »je weniger Umstände Sie machen, desto besser!«

Mit einemmal kehrte sie das geisterhaft blasse, von Grauen und Verzweiflung verzerrte Gesicht Peggy zu.

»Sie glauben's doch gewiß nicht?« stammelte sie, Peggys Hand, die auf dem Ladentisch lag, krampfhaft umfassend.

»Nein, ich glaube es nicht,« versetzte diese rasch. »Es muß ein Irrtum vorliegen.«

»Fräulein Hayes!« rief Herr Nixon, ihr Vorgesetzter. »Sie vergessen sich! Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Ich kann entschieden nicht glauben, daß diese alte Dame das ist, was die Herren annehmen,« erklärte Peggy, kühn hinterm Ladentisch vortretend. »Sie ist ja so alt – so allein.«

»Sie wollen sagen, daß sie keine Mitschuldigen hat,« entgegnete Sharples. »Das kann sein, aber das Alter ist Maske. Sie kommen jetzt mit uns – vorwärts!«

Zitternd wie Espenlaub, mit zuckenden Lippen stand das Dämchen auf, klammerte sich aber fest an Peggys Arm.

»Beruhigen Sie sich nur – ja, ja, ich will mitgehen,« sagte Peggy, wie man ein Kind beschwichtigt, und der kleine Zug setzte sich in Bewegung.

Voran Herr Sharples, ganz Würde und Wichtigkeit, die alte Ledertasche in der Hand, dann die zitternde alte Frau am Arm des »Ladenfräuleins« und hinterdrein Herr Nixon mit dem Geschäftsführer.

»Was ist geschehen? Was hat das zu bedeuten?« fragte man, wo sie vorbeikamen.

»Ach, nur ein altes Weib, das gemaust hat! Die Sorte kennt man ja,« hieß es.

Im Comptoir angelangt, sank die Verdächtigte auf einen Stuhl. Ihre Tasche wurde geöffnet und der Inhalt pünktlich auf dem Tisch ausgebreitet. Erst kam ein Pferdeschwamm, dann ein gestricktes Tuch, dann folgte ein feines Spitzenhäubchen, eingewickelt, aber jämmerlich zerknüllt, ein Paar Handschuhe für einen Diener, ein Photographierahmen, ein Flanellhemd, ein Stück Trimming, eine zierliche Gartenschaufel, zwei Spiele Karten und ein Fläschchen mit Vaseline. Das Merkwürdige aber war, daß all diese Gegenstände bezahlt waren – Grey & Lavenders abgestempelte Coupons fanden sich aufgerollt und zerkrümpelt zu jedem einzelnen vor. Das ganze Sammelsurium enthielt nichts, was nicht rechtmäßig erworbenes Eigentum gewesen wäre! Mittlerweile saß die alte Dame still auf ihrem Stuhl, hielt Peggys Hand fest und schluchzte von Zeit zu Zeit herzbrechend. Sharples' Ausdruck sittlicher Entrüstung machte einem gewissen Unbehagen Platz.

»Vielleicht können wir uns daran genügen lassen, wenn Sie uns Ihre Adresse angeben,« sagte er ein gutes Teil höflicher.

»So, damit wollen Sie sich gütigst begnügen?« fuhr die Frau heftig auf ihn los. »Vor Hunderten von Menschen des Diebstahls geziehen, mit der Polizei bedroht und durchsucht zu werden, das kann man wohl auch genügend nennen! Indes, ich bin Fräulein Sophie – Fräulein Serle von Serlewood Park bei Goosegreen.«

»Und bitte, womit bestätigen Sie diese Angabe?«

»Hier ist mein Name!«

Ohne Rücksicht auf Herrn Sharples' Anstandsgefühl hob sie ihren Kleiderrock hoch auf, enthüllte einen schwarzseidenen Unterrock und eine ungeheuere leinene Rocktasche. Diese schien an Fassungskraft dem Ledersack nahe zu kommen und ebenso mannigfaltigen Inhalt zu bergen: drei große frische Taschentücher, eine Brille, eine Schachtel mit Lakritzen, zwei stattliche Schlüsselbunde kamen heraus und dann ein Brief, der deutlich an: »Fräulein Serle, Serlewood Park, Station Goosegreen« überschrieben war.

Herr Sharples sah den Geschäftsführer an, der sehr geknickt aussah und verlegen mit seiner Uhrkette spielte, dann Herrn Nixon und schließlich Fräulein Hayes – zum erstenmal im Leben schien sein Selbstgefühl ins Wanken zu kommen!

»Ich fürchte allerdings, daß hier ein Irrtum vorliegen muß,« begann er unsicher, »und spreche Ihnen mein lebhaftes Bedauern darüber aus! Wir haben schon sehr üble Erfahrungen dieser Art gemacht und bedeutende Verluste erlitten und – Sie haben sich ja selbst von dem Spitzentuch in Ihrem Mantel überzeugt. Wenn ich die Ehre gehabt hätte, Sie zu kennen – eine Dame in Ihrer Lebensstellung – würde ich ja nie ...«

»Nein, wenn ich eine arme, alte Frau wäre, die kein Gut besitzt, würden Sie mich ins Gefängnis geliefert haben!« rief Fräulein Serle entrüstet.

»Es thut mir ganz außerordentlich leid – ich bitte sehr um Verzeihung, und wenn es irgend in meiner Macht stünde, das Unrecht gut zu machen, wäre ich zu allem bereit ...«

»Die Aufregung und ihre Folgen können Sie mir nicht abnehmen – ich bin kaum im stand, mich auf den Füßen zu halten! Es war sehr thöricht von mir, allein hierher zu reisen – meine Jungfer war auch sehr dagegen. Bitte, gestatten Sie, daß dieses junge Mädchen, die Einzige, die mich nicht für eine Diebin hielt, mich nach Hause bringt!«

»Mit Vergnügen, gnädiges Fräulein; sie steht ganz zu Ihrer Verfügung,« versicherte der Geschäftsführer, während Sharples wie ein begossener Pudel dastand. »Sie werden an Fräulein Hayes eine gewandte und zuvorkommende Begleiterin finden – es gereicht der Firma zur Freude, sie Ihnen zur Verfügung zu stellen! Fräulein Hayes, bitte, kleiden Sie sich rasch an, Fräulein Serle wartet! Können wir sonst noch etwas für Sie thun?«

»Ja, die Sachen wieder in die Tasche legen, genau so, wie sie drin waren!«

Das hieß also das Spitzenhäubchen zu unterst und die Gartenschaufel obendrauf legen. Herr Sharples unterzog sich dieser dem Fachmann widerstrebenden Aufgabe mit Geduld, und kaum hatte er sie erledigt, so erschien Peggy.

»Bitte, rufen Sie mir einen Wagen,« befahl Fräulein Serle, und jetzt folgten die Herren in Ehrfurcht der reichen Dame, Sharples mit der Ledertasche, als ob es die Bundeslade wäre. Kein geringerer als der Geschäftsführer selbst hob das alte Fräulein in den stattlichen Landauer.

»Machen Sie alles wieder gut!« flüsterte er Peggy zu, als der Wagen sich in Bewegung setzte, worin Fräulein Serle eine Angestellte gewissermaßen als Geisel mitführte.

»Es geschieht mir recht,« sagte die alte Dame, die nach der Aufwallung von Würde wieder ganz zusammengebrochen war, eins der großen Taschentücher entfaltet hatte, um ihre reichlich strömenden Thränen zu trocknen, und Peggys Hand keinen Augenblick los ließ. »Darling bat mich, nicht zu gehen, und sie hat solchen Schnupfen, daß ich sie nicht hätte mitnehmen dürfen, aber diese Anzeigen lockten mich unwiderstehlich – ich mußte den Ausverkauf sehen! O Gott, wenn ich Darling erzähle, daß man mich fast auf die Polizei gebracht hat! Geschieht Ihnen recht, wird sie sagen!«


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